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Loch
Die Arbeit war erledigt. Der Gaul stand im Stall und kaute sein Heu, Feige saß auf der Veranda und rauchte Pfeife, zu seinen Füßen lag schnurrend die Katze Minka. Kurz: Die Welt war in Ordnung. So glich ein Tag dem anderen, bis sich im Acker ein Loch auftat.
Feige ignorierte es. Beim Pflügen führte er den alten Gaul außen herum. Jetzt hatte er also ein kleines bisschen weniger Ackerfläche, wozu sich deshalb den Kopf zerbrechen? So, wie es gekommen war, würde es wohl auch wieder gehen.
Eines Tages, es war im Herbst, die Ernte war schon eingeholt, stand ein Fremder vor dem Loch und blickte hinein. Feige saß auf der Veranda.
»Du hast da ein Loch«, rief der Fremde. Feige erhob sich und schlurfte mit der Hand in der Hosentasche auf ihn zu. In der anderen hielt er seine Pfeife.
»Ach ja?«, fragte er da, und der Fremde blickte ihn an.
»Kann man das übersehen?«
»Viel zu tun«, entgegnete Feige und spuckte aus. In der trockenen Erde bildete sich ein Krater. Ringsum stieg feiner Dunst auf.
»Jedenfalls«, sagte da der andere, »will ich’s dir abkaufen. Wo du’s ja eh nicht brauchst.«
Feige kniff die Augen zusammen. Vielleicht, weil der Wind ihm den Rauch in die Augen wehte, vielleicht, weil die tiefstehende, rotglühende Abendsonne ihn blendete. Vielleicht aber auch, weil er das immer tat, wenn einer einen Scherz machte, den er nicht verstand.
»So«, sagte Feige bloß.
»Also?«
»Bring meiner Minka einen Fisch und dem Gaul eine Möhre und dann mach, was du willst«, sagte Feige, spuckte noch mal aus und ging über die Veranda in seine Hütte.
Am nächsten Morgen regnete es. Eine Krähe saß mit nassglänzendem Gefieder auf dem Geländer der Veranda und schrie gegen die Wolken an. Soll sie nur, dachte Feige, ich bleib heute drinnen.
Gerade, als das Teewasser kochte, klopfte es an der Tür. Feige nahm den Kessel vom Herd und übergoss in kreisenden Bewegungen die Teeblätter. Das Kräuteraroma breitete sich langsam in dem kleinen Raum aus. Erst dann machte er auf.
»Fisch und Möhre. Wie abgemacht.«
Feige kniff die Augen zusammen.
»Ikschwan heiß ich übrigens. Jetzt sind wir also Nachbarn.« Und Ikschwan machte kehrt und stieg über den durchweichten Acker auf das Loch zu, wo er sich am Rand auf seinen Hosenboden fallen ließ und dann in der Erde verschwand.
»Heiß doch, wie du willst«, murmelte Feige und schloss mit Fisch, Möhre und noch immer zusammengekniffenen Augen die Tür.
Jetzt hatte er also einen Nachbarn. Ikschwan hieß der und wohnte in einem Loch auf seinem Acker. Na, wenn’s weiter nix ist, dachte Feige und warf der Katze den Fisch hin.
Von Katzen verstand er was: Nicht gegen den Strich streicheln. Finger weg vom Bauch. Mit den Menschen war das anders.
Als seine Frau damals sagte: Mit dir lässt sich nicht reden, da antwortete er bloß: Hm, und das war dann auch nicht das Richtige. Das war dann der Grund für tagelanges Schweigen, und für ihn war das Schweigen in Ordnung, aber für seine Frau nicht.
Seitdem gab es nur noch den Gaul und Minka und manchmal vielleicht noch den Kuno vom Dorf, der auf seiner Kutsche vorbeifuhr und zum Gruß den Arm hob. Und jetzt hatte er also einen Nachbarn, der Ikschwan hieß.
Was der wohl machte, da draußen, dachte Feige, nachdem ein paar Stunden verstrichen waren. Es regnete ja, und er saß da in seinem Loch. Zumindest hatte Feige nicht gesehen, dass er wieder rausgestiegen wäre. Vielleicht sollte er mal nachschauen.
Mit der Kapuze auf dem Schädel stapfte er über den Acker. Die Stiefel blieben im Matsch stecken. Aus dem Loch stieg Rauch auf.
»Ah, Nachbar!«
Feige beugte sich über den Rand und sah den Fremden und vor allem sah er seinen Gaul. Glaubte zumindest, seinen Gaul zu sehen. Aufgespießt, sich im Kreis drehend, über dem Feuer brutzelnd. Vorsichtshalber kniff er die Augen zusammen.
»Was für ein Wetter, nicht wahr? Da dachte ich, dass ich uns was Warmes zu futtern mach.«
»Ist das mein Gaul?«
»Ja, die Ernte ist ja schon eingeholt, und da dachte ich, dass du ihn eh nicht mehr brauchst.«
Ja, da hatte er wohl recht. Jetzt hatte er also ein Maul weniger zu stopfen. Über den Winter hätte der Klepper ja auch satt werden müssen, das Heu konnte er jetzt stattdessen im Dorf verkaufen, Kuno würde ihm einen guten Preis dafür zahlen, und im Frühling könnte er sich dann einen neuen Gaul kaufen, einen besseren. Und doch war es eigenartig. Es war ja nicht bloß ein Gaul, sondern der Holger, der sich da jetzt drehte, derselbe Holger, der gestern noch im Stall gestanden und Heu gefressen und mit seinem Schwanz die Fliegen weggeschlagen hatte. Der Holger mit seinem eigenen Kopf, dem man fünf Mal zurufen konnte: Rechts lang!, und der dann doch nach links abbog und noch mit dem Ohr zuckte, als wäre ihm das Gerufe lästig.
Am nächsten Morgen stand Feige vor Kunos Hütte und klopfte an. Statt Kuno machte seine Frau auf.
»Ist der Kuno nicht da?«
»Nein, der ist nicht da. Er ist jetzt beim Ikschwan.«
»Beim Ikschwan, sagst du?«
»Ja. Was kümmert’s dich?«
Ja, was kümmerte es ihn? Und als Feige nichts sagte, schloss sie die Tür.
So ging Feige also zurück und dachte unterwegs über das Leben nach. Worüber genau? Das wusste er selbst nicht. Das Leben war ihm ja weitestgehend fremd, früher, als junger Mann, hatte er noch häufiger darüber nachgedacht, manchmal so sehr, dass ihm danach fast der Kopf gequalmt hatte: Warum er hier war, wozu er geboren worden war – wohl zum Ackerpflügen, hatte ihm sein Vater da geantwortet und gelacht. Die Männer pflügen die Äcker und die Frauen kriegen die Kinder, Punkt. Und was ihm anfangs noch wie ein Scherz vorgekommen war, wurde dann Wirklichkeit: Lina bekam das Mädchen und er pflügte weiter den Acker. Mehr war da nicht. Manchmal, selten, noch ein Kuss, vielleicht ein kurzes Gespräch darüber, wie der Tag gewesen war: Die Kleine hatte vielleicht ein neues Wort gelernt, konnte jetzt »Katze« sagen, aber da hörte Feige schon kaum noch zu, schlummerte schon halb, weil der Tag ihn matt gemacht hatte.
Jetzt war die Kleine also weg und Kuno war bei Ikschwan. Und als Feige am Loch vorbeiging, hörte er den Kuno deutlich »Katze« sagen. Da beugte er sich über den Rand und sah, aufgespießt und sich im Kreis drehend, seine Minka über der Flamme brutzeln.
»Ah, Nachbar!«, sagte Ikschwan da und auch Kuno hob zum Gruß den Arm, es roch nach Kräutern und nach Pfeifentabak, aber Feige winkte bloß ab, ging über die Veranda in seine Hütte und lag mit dem Geruch von Fisch in der Nase die halbe Nacht wach.
So vergingen die Tage. Draußen, im Loch, war jetzt immer was los, es wurde gesungen und getanzt und Feige saß zuhause und dachte nach. Dachte an Lina. »Kleine Zecke«, hatte sie immer gesagt, »saugst mir das Leben aus mit deiner zahnlosen Gosch«, und dabei hatte sie gelacht und die Kleine auf ihrem Schoß geschaukelt, sie in den Graben fallen und von den Raben fressen lassen, und Feige war froh, sie bei sich zu haben.
Nur wenn sie aus dem Dorf kam, mochte er sie nicht. Dann kam sie durch das Gatter auf ihn zugelaufen, vielleicht mit einer Kanne Milch unterm Arm und der Kleinen auf dem Rücken, und dann ging sie neben ihm und Holger her und erzählte. Erzählte mit leuchtenden Augen. Erzählte vom Laden und von den Kleidern der Leute, erzählte von Fremden und ihren Problemen, ihren Sorgen, ihren Wünschen, und dabei schnappte sie kaum Atem, sie erzählte und erzählte: Von Stoffen und Gläsern, von Strümpfen und Frisuren, sie wollte ihn anstecken mit ihrer Freude, aber Feige war beschäftigt.
Und wenn er abends in die Hütte trat, müde, abgekämpft, dann empfing sie ihn schon. Sperrte schon den Mund auf, um wieder anzufangen, doch da sagte Feige gleich »Hm« und sah weg. Wich dem Leuchten aus. Bis es dunkel wurde. Bis sie wieder die Kleine auf den Schoß nahm, bis sie wieder in den Sumpf fiel und Plumps machte. Und an alledem war Ikschwan schuld.
Der Gedanke kam ihm in der Nacht. Wolkenverhangen, windig war der Gedanke, aber er war da und ließ sich nicht mehr vertreiben: Ikschwan war schuld. Seit Ikschwan da war, waren auch die Gedanken wieder da, vorher hatte es nur die Arbeit gegeben, die Pfeife und den Tee, Minka und den Gaul und sonst nichts. Und jetzt war Lina wieder da. Jetzt war die Kleine wieder da, jetzt wurde wieder geschaukelt und gelacht und so ging Feige zum Schuppen, um den Spaten zu holen.
Die Erde war noch nicht gefroren. Die letzten Tage hatte es sogar wieder geregnet, die Erde war jetzt matschig und schwer, aber Feige hatte Kraft. Ein bisschen ins Schwitzen kam er wohl. Ein bisschen dampften wohl auch seine Unterarme, wenn der Mond zwischen den Wolken hervorbrach und die hervortretenden Sehnen weiß aufleuchteten, aber das war es wert, jetzt war Schluss, aus, Ende, das Loch wurde zugeschüttet und Ikschwan war Geschichte, Punkt.
Dann ging er ins Bett. Fiel in einen traumlosen Schlaf. Konnte endlich wieder ohne Gedanken sein.
Bis zum Morgen. Bis er aufwachte, aufgespießt, sich im Kreis drehend, und über dem Feuer brutzelte. Und neben ihm stand Ikschwan, tanzte viel mehr, immer schneller, immer wilder, Ikschwan drehte Schrauben, machte Überschläge und spuckte Feuer und hinter den Flammen sah er Lina tanzen und die Kleine, die immer wieder «Katze« rief und so den Takt vorgab.
Und hier blieb er jetzt. Hier verbrachte er jetzt seine Tage und Nächte, machte sich seine Gedanken und kam doch nicht dahinter.