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Lockvogel

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05.04.2004
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Lockvogel

Er erwachte wie jeden Morgen mit dem dumpfen Gefühl, etwas Wichtiges unwiederbringlich verloren zu haben. Er konnte nicht sagen, was es gewesen sein mochte, da war nur dieses Gefühl einer unbestimmten Abwesenheit. Da war etwas, da mußte etwas gewesen sein – er konnte sich nur nicht daran erinnern. Wie ein Traum, aber es war kein Traum. Er hatte keine Träume. Der Schlaf war reines Nichts, ein Zustand körperlicher Regeneration, ohne Bewußtsein, ohne Träume. Im Schlaf existierte er einfach nicht. Er öffnete die Augen, weil er sie eine ungefühlte Zeitspanne zuvor einmal geschlossen haben mußte. Dazwischen war nichts. Das war alles. Es lohnte sich gar nicht, darüber nachzudenken.

"Man begreift es nicht, ehe man es nicht selbst erlebt hat." Aus dem Nichts tauchte dieser eine Satz immer wieder in seinem Bewußtsein auf und zerplatzte an der Oberfläche ohne eine merkbare Spur zu hinterlassen.

"Man begreift es nicht …" Eine Art von synaptischem Echo, das Hintergrundrauschen, das bei jedem Löschvorgang übrigbleibt. Und alles nur, weil er nicht träumen konnte, nicht träumen sollte. Was er im übrigen auch gar nicht wollte, gar nicht wollen konnte. Er sollte erlöst werden von seinen Träumen. Das ist gelungen.

"Man begreift es nicht, ehe …" Die Technik ist vom Prinzip her recht simpel: Gequantelte Schwingungsmuster, die als Interferenzen über einen fest definierten Gedankenstrom gelegt werden und diesen schließlich in der Überlagerung auslöschen. Wellenberg legt sich auf Wellental, Tal auf Berg – das Ergebnis ist gegenseitige Annihilation, völlige Nivellierung.

Das funktioniert natürlich nur bei ganz bestimmten, fest umrissenen psychischen Komplexen – bei Zwangsstörungen beispielsweise, oder immer wiederkehrenden Alpträumen, deren allnächtliche Generierung im Grunde auf einem immergleichen psychischen Mechanismus beruht. Ganz so wie bei einem Computer auch, simple algorithmische Grundmuster, in einer hochkomplexen Matrix verwoben. Weberarbeit im Grunde. Jeder Vogel beherrscht dieses Prinzip, wenn er sein Nest baut. Oder Ameisen. Man begreift es nicht, weil es so klar ist.

Man kann Alpträume damit löschen, Traumata, auch unliebsame Erinnerungen, so weit sie einer fest umrissenen Struktur folgen. Aber ein unbehagliches Gefühl bleibt dennoch zurück. Immer.

Das hatte er erlebt, als … Ja, was? Er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Es muß grauenhaft gewesen sein. War es in einem Krieg …? Oder nur ein Verbrechen? Er wußte es nicht mehr. Er hatte keinerlei konkrete Erinnerung mehr daran. Nur so etwas wie einen matten Abdruck, wo eine greifbare Vorstellung gewesen sein mag. Ein Schatten. Der Schatten eines Schattens. Das Wissen um ein Gefühl. Daß da etwas war. Und das war nicht schön gewesen, überhaupt nicht. Er konnte es nicht näher erklären, ein Schatten …


Er konnte sich gerade noch rechtzeitig wegducken, als das Geschoß haarscharf über ihn hinweg in die Mauer einschlug. Aufspritzende Ziegelsplitter schnitten ihm in die Wange. Ein zweites Geschoß hatte seinen Oberarm gestreift, Blut sickerte den Ärmel entlang. Er spürte es nicht. Er war vollkommen ruhig und richtete sein Fernglas auf das düstere Straßengewirr vor sich. Es war nichts zu erkennen. Staub lag in der Luft und beißend schwarzer Qualm, der aus brennenden Fahrzeugen aufstieg. Schien ihm eher ein Glückstreffer gewesen zu sein, er hatte seine Deckung gut gewählt.

Das Bild vor ihm verdunkelte sich fast vollständig als sein Blendschutz aktiviert wurde. Ein riesiger Feuerball blühte in einer Entfernung von vielleicht hundert Metern vor ihm auf. Das automatische Luftüberwachungssystem hatte das Mündungsfeuer des Gegners geortet und sofort reagiert. Brüllend raste die Druckwelle über ihn hinweg, der Geruch von Napalm und von verbranntem Fleisch lag in der Luft. Menschenfleisch.

Er verspürte eine tiefe Genugtuung. Seine Aufgabe war erfüllt. Er hatte sich zielstrebig vorgearbeitet, jede Deckung ausgenutzt und sich langsam, aber zielsicher der vermuteten Rebellenstellung genähert. Hier und da hatte er einen Sekundenbruchteil zu lange gezögert, ehe er sich in eine Deckung drehte; ein-, zweimal etwas zu hastig auf eine Bewegung von drüben reagiert. Furcht gezeigt. Ganz so, wie er es trainiert hatte. Genau nach Plan. Und er hatte Erfolg damit gehabt. Irgendwann wird jeder Gegner leichtsinnig, verliert die Nerven und feuert.

"Hat den Braten nicht gerochen und ist jetzt selber einer", dachte er grimmig. Seine Aufgabe als Lockvogel war nun erfüllt. Mission beendet.

Morgen schon würde er sich nicht mehr daran erinnern. War auch besser so, ein Lockvogel durfte keine Furcht haben. Er sollte sie dem Gegner nur zeigen. Und er mußte dabei immer äußerst vorsichtig vorgehen, wachsam sein. Dafür genügten Schatten.

 

Hallo Hajku,

das ist eine gelungene, bedrückende Geschichte. Und sie enthält für meinen Geschmack genau die richtige Mischung aus Realitätsbezug und hypothetischen Möglichkeiten, dazu eine Prise Philosophisches:

Im Schlaf existierte er einfach nicht.
Alles in allem eine Geschichte im Sinne dieses Threads.

Ein kleiner Fehler:

Er sollte ihn erlöst werden von seinen Träumen.
Hier ist das "ihn" zuviel.

Schöne Grüße
Roy

 

Hallo Roy,

vielen Dank für dein überschwengliches Lob für meine kleine Geschichte. Das ist außerordentlich aufbauend und motivierend. Und auch danke für den Fehlerhinweis, das kommt davon, daß man immer wieder umformuliert, und der Trottel von Autor merkt es natürlich wieder mal als letzter, wenn ihm ein kleines "ihn" auf der Strecke bleibt ...

Viele liebe Grüße
Hans Jürgen

 

Gute Geschichte. Der Einstieg ist sprachlich gelungen, die Erläuterungen genügen, um dem Leser eine Palette von Möglichkeiten zu eröffnen (ist er ein Mörder, eine Versuchsperson, ein Opfer...). Die Auflösung bietet dann eine Option, auf die der Leser sicher noch nicht gekommen ist, und die Unmenschlichkeit der Vorgehensweise kommt dadurch gut zur Geltung. Leicht unklar war für mich der Moment der Explosion: Auf den ersten Blick hätte es auch der Einschlag eines gegnerischen Geschosses sein können. Ich habe es erst beim zweiten Lesen richtig verstanden.

Mission beendet. Ein weiterer Aspekt des Krieges. Töten aus Aufgabe, die abgehakt wird. Da kann man sich dann gut vorstellen, was da denn nun im Gehirn ausgelöscht wurde. Und was offenbar bei zahlreichen Zeitgenossen heute ohnehin nicht vorhanden ist.

Fazit: sprachlich gut, inhaltlich gut. Empfehlung von mir! :thumbsup:

Uwe
:cool:

 

Hm, hab das Teil schon gestern wegen Roys Link gelesen.
Auch wenn ich jetzt als Meckerer vom Dienst dastehe: Ich entdecke nichts Philosophisches und nichts, was die Geschichte "unbedingt lesenswert" macht.
Nein, schlecht ist sie keinesfalls, aber ich finde sie auch nicht überragend.
Es wird also eine Erinnerung gelöscht, kein neues Thema. Warum der Lockvogel "Furcht zeigen" muss, man weiß es nicht, warum die Erinnerung (und die Erfahrung!) gelöscht wird, hm, warum der Gegner schießt, wenn es ganz offensichtlich seinen Tod bedeutet, möglicherweise Haarspalterei.
Sprachlich zweischneidig - ganz gut geschrieben, an sich, aber z.B. gefällt mir die zu häufige Verwendung von "Er +Verb" am Satzanfängen nicht.
So, jetzt wisst ihrs ;)
...para

 

Zunächst möchte ich mich ganz herzlich bei Uwe für die ausgesprochene Empfehlung bedanken - ein so positives Feedback ist natürlich Balsam für die gepeinigte Literatenseele.

Zur Kritik von Paranova nur ganz kurz: Die Frage scheint berechtigt, warum eigentlich der Gegner überhaupt schießt. Vielleicht, weil er nicht weiß, daß der Lockvogel ein solcher ist. Und wenn er es weiß, dann muß er immer noch damit rechnen, daß er hinwiederum von diesem angegriffen und "ausgeräuchert" wird. Man darf auch nicht die äußerst angespannte Situation vergessen, in der sich die Kämpfer befinden müssen. Da kann der Finger schon jucken am Abzug, denke ich mir.
Ein Einwand allerdings gibt mir zu denken: Daß mit der Löschung des emotionalen Traumas auch die gemachten Erfahrungen vernichtet sein könnten. Könnten, wohlgemerkt. Denn ich könnte mir auch vorstellen, daß eine fortschrittliche neurobiologische Technologie gezielt nur solche Erinnerungen zu löschen in der Lage ist, die mit starken, negativen Emotionen aufgeladen sind, und die Techniken, Fähigkeiten und Kenntnisse, die für den Einsatz im Krieg vonnöten sind, unberührt läßt oder diese sogar in einer Art von simulierter "Trockenübung" antrainiert werden könnten.
Ach ja: "Furcht zeigen" ist natürlich Teil des Trainingsprogramms, um den Feind zu einem leichtsinnigen Schuß zu animieren.

Und die Klage, daß es nichts Neues unter der Sonne gibt, findet sich ja schon in den jahrtausendealten Texten der Bibel ... So gesehen auch nix Neues.

Jedenfalls bin ich sehr erfreut über das außerordentliche Interesse und das tolle Feedback, das ihr meiner kleinen Geschichte entgegenbringt. Vielen Dank dafür euch allen.

Hans Jürgen

 

Hi Hajku,
ich fand den Anfang deiner Geschichte eher langweilig und verwirrend als aufregend oder besonders herausragend. Das man am Ende erahnt, wozu dein Charakter "missbraucht" wurde, rettet das ganze irgendwie - die Idee ist interessant ausgedacht und umgesetzt; aber wie gesagt, die ersten Absätze mit Beschreibung und dem Vorbereiten des Lesers auf das Kommende, fand ich nicht überzeugend.

glg Hunter

 

Uwes Empfehlung finde ich schon recht gutmütig, aber eine gute Geschichte ist daß hier auf jeden Fall.

Noch zwei Fehlerchen, die bis jetzt übersehen worden sind: "Er hatte sich zielstrebig vorgearbeitet, jede Deckung ausgenutzt und sich langsam, aber zielsicher der vermuteten Rebellenstellung genähert.

"Das Bild vor ihm verdunkelte sich fast vollständigKOMMA als sein Blendschutz aktiviert wurde."

Gruß
Jona

 

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