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Lockvogel
Er erwachte wie jeden Morgen mit dem dumpfen Gefühl, etwas Wichtiges unwiederbringlich verloren zu haben. Er konnte nicht sagen, was es gewesen sein mochte, da war nur dieses Gefühl einer unbestimmten Abwesenheit. Da war etwas, da mußte etwas gewesen sein – er konnte sich nur nicht daran erinnern. Wie ein Traum, aber es war kein Traum. Er hatte keine Träume. Der Schlaf war reines Nichts, ein Zustand körperlicher Regeneration, ohne Bewußtsein, ohne Träume. Im Schlaf existierte er einfach nicht. Er öffnete die Augen, weil er sie eine ungefühlte Zeitspanne zuvor einmal geschlossen haben mußte. Dazwischen war nichts. Das war alles. Es lohnte sich gar nicht, darüber nachzudenken.
"Man begreift es nicht, ehe man es nicht selbst erlebt hat." Aus dem Nichts tauchte dieser eine Satz immer wieder in seinem Bewußtsein auf und zerplatzte an der Oberfläche ohne eine merkbare Spur zu hinterlassen.
"Man begreift es nicht …" Eine Art von synaptischem Echo, das Hintergrundrauschen, das bei jedem Löschvorgang übrigbleibt. Und alles nur, weil er nicht träumen konnte, nicht träumen sollte. Was er im übrigen auch gar nicht wollte, gar nicht wollen konnte. Er sollte erlöst werden von seinen Träumen. Das ist gelungen.
"Man begreift es nicht, ehe …" Die Technik ist vom Prinzip her recht simpel: Gequantelte Schwingungsmuster, die als Interferenzen über einen fest definierten Gedankenstrom gelegt werden und diesen schließlich in der Überlagerung auslöschen. Wellenberg legt sich auf Wellental, Tal auf Berg – das Ergebnis ist gegenseitige Annihilation, völlige Nivellierung.
Das funktioniert natürlich nur bei ganz bestimmten, fest umrissenen psychischen Komplexen – bei Zwangsstörungen beispielsweise, oder immer wiederkehrenden Alpträumen, deren allnächtliche Generierung im Grunde auf einem immergleichen psychischen Mechanismus beruht. Ganz so wie bei einem Computer auch, simple algorithmische Grundmuster, in einer hochkomplexen Matrix verwoben. Weberarbeit im Grunde. Jeder Vogel beherrscht dieses Prinzip, wenn er sein Nest baut. Oder Ameisen. Man begreift es nicht, weil es so klar ist.
Man kann Alpträume damit löschen, Traumata, auch unliebsame Erinnerungen, so weit sie einer fest umrissenen Struktur folgen. Aber ein unbehagliches Gefühl bleibt dennoch zurück. Immer.
Das hatte er erlebt, als … Ja, was? Er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Es muß grauenhaft gewesen sein. War es in einem Krieg …? Oder nur ein Verbrechen? Er wußte es nicht mehr. Er hatte keinerlei konkrete Erinnerung mehr daran. Nur so etwas wie einen matten Abdruck, wo eine greifbare Vorstellung gewesen sein mag. Ein Schatten. Der Schatten eines Schattens. Das Wissen um ein Gefühl. Daß da etwas war. Und das war nicht schön gewesen, überhaupt nicht. Er konnte es nicht näher erklären, ein Schatten …
Er konnte sich gerade noch rechtzeitig wegducken, als das Geschoß haarscharf über ihn hinweg in die Mauer einschlug. Aufspritzende Ziegelsplitter schnitten ihm in die Wange. Ein zweites Geschoß hatte seinen Oberarm gestreift, Blut sickerte den Ärmel entlang. Er spürte es nicht. Er war vollkommen ruhig und richtete sein Fernglas auf das düstere Straßengewirr vor sich. Es war nichts zu erkennen. Staub lag in der Luft und beißend schwarzer Qualm, der aus brennenden Fahrzeugen aufstieg. Schien ihm eher ein Glückstreffer gewesen zu sein, er hatte seine Deckung gut gewählt.
Das Bild vor ihm verdunkelte sich fast vollständig als sein Blendschutz aktiviert wurde. Ein riesiger Feuerball blühte in einer Entfernung von vielleicht hundert Metern vor ihm auf. Das automatische Luftüberwachungssystem hatte das Mündungsfeuer des Gegners geortet und sofort reagiert. Brüllend raste die Druckwelle über ihn hinweg, der Geruch von Napalm und von verbranntem Fleisch lag in der Luft. Menschenfleisch.
Er verspürte eine tiefe Genugtuung. Seine Aufgabe war erfüllt. Er hatte sich zielstrebig vorgearbeitet, jede Deckung ausgenutzt und sich langsam, aber zielsicher der vermuteten Rebellenstellung genähert. Hier und da hatte er einen Sekundenbruchteil zu lange gezögert, ehe er sich in eine Deckung drehte; ein-, zweimal etwas zu hastig auf eine Bewegung von drüben reagiert. Furcht gezeigt. Ganz so, wie er es trainiert hatte. Genau nach Plan. Und er hatte Erfolg damit gehabt. Irgendwann wird jeder Gegner leichtsinnig, verliert die Nerven und feuert.
"Hat den Braten nicht gerochen und ist jetzt selber einer", dachte er grimmig. Seine Aufgabe als Lockvogel war nun erfüllt. Mission beendet.
Morgen schon würde er sich nicht mehr daran erinnern. War auch besser so, ein Lockvogel durfte keine Furcht haben. Er sollte sie dem Gegner nur zeigen. Und er mußte dabei immer äußerst vorsichtig vorgehen, wachsam sein. Dafür genügten Schatten.