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Wieder ein bisschen warm geschrieben.
Lollipops und Kippen
Ungefähr 2009, also zwei Jahre vor dem Abi, sprach ich den Direktor an, um die Schule zu wechseln. Ein Kumpel, der in Zehlendorf zur Schule ging, hatte mich auf die Idee gebracht. Der war auf einer Waldorfschule. Nachdem er mich ein paar Mal zu Schultheateraufführungen und kleinen Homepartys mit seinen ‚Waldis’ mitnahm, war mir völlig klar, was mir im Leben fehlte. Menschen, die nicht so sehr im Square dachten, wie die Pimmel auf meiner Schule. Ich fühlte mich wie ein auserlesenes Astralgeschöpf, eine Reinkarnation Hermann Hesses, mit gewissen Anteilen Techno im Blut. Die Waldorfschule erschien mir der richtige Ort für mich zu sein. Steiner nie gelesen. Ein Problem mit den gängigen Vorurteilen gegen ‚Waldis‘ hatte ich auch nicht – im Gegenteil: lieber zu einem Club gehören, der dich potenziell nicht als Mitglied haben will.
Wie ein King fühlte ich mich, einfach so für einen Hospitationstag vom Unterricht freigestellt (Shoutouts an meinen damaligen Schulleiter). U-Bahnhof Oskar-Helene-Heim, mitten im Grünen, die Spaten von meiner Schule konnten mich gern haben. Vor dem Unterricht noch eine Kippe und die Blicke der anderen genießen, sich als der Neue fühlen. Dieser kleine, ziemlich zentrale Unterschied zu meiner alltäglichen Wahrnehmung begleitete mich durch den Tag. Egal ob Lehrer*innen, Schüler*innen oder die Ziegen und Hühner in den Gehegen auf dem Schulhof – ich fühlte mich gesehen.
„Hast du Feuer?“, fragte ein Mädchen mit strähnigem Pony und schwarzem Kajal.
„Klar.“
„Was machst du hier?“, fragte sie. Ihre Freundinnen hielten einen Meter interessierten Sicherheitsabstand.
„Ich will vielleicht auf diese Schule.“
Wir rauchten unsere Kippen zusammen. Dann kam mein Kumpel dazu. Stellte sich raus, dass die beiden sich kannten. Wir verabredeten uns, am Nachmittag zum Schlachtensee zu fahren. Dreiundzwanzig Grad. Ein Tag im Mai. Sonnenflecken im Muster der Lücken im Blätterwerk von Platanen, Eichen und Ahorn. Zehlendorf im Vorsommer eben.
Charlotte war ihr Name. Wir fanden raus, dass wir uns beide ein bisschen depressiv fühlten und gut darüber quatschen konnten. Außerdem stand ich hauptsächlich auf Frauen und sie auf Typen. Und mehr aus Langeweile hatten wir ein Mal was miteinander, sahen aber genauso schnell ein, dass das nichts war. Aus dieser Gemengelage entstand: eine beste Freundschaft.
Partys gab es eigentlich immer genug. Ich hatte indes eingesehen, dass das mit dem Wechsel an die Waldorfschule nichts werden konnte. So kurz vor dem Abi. Nee, passte nicht. Mit meinem damaligen Kumpel machte ich noch gelegentlich was, aber mittlerweile hing ich eher mit Charlotte rum. Wir schauten Filme, besoffen uns unter der Woche, rauchten Kippchen, tranken Capri-Sonne und verzierten uns mit Wassertattoos. Kurz: wir fühlten uns krass. Meine Eltern waren alles andere als angepasst, trotzdem ging es schwer in ihre Köpfe, dass wir nur Freund*innen waren. Tatsächlich hatte ich mich ziemlich in Charlottes beste Freundin, Ronja, verknallt. Sowieso war ich ziemlich schnell verknallt, wenn ich fand, dass jemand hot aussah – und Letzteres war in ihrem Fall der Fall. Ich hatte ‚Schmetterlinge im Bauch‘. Ein geiles Gefühl, dass ungefähr die Spitze meiner sonst recht wackligen Gefühlsamplitude bildete.
Es war ein Herbstabend. Ronja und ich hatten was, aber im Gegensatz zu mir, sammelten sich die Schmetterlinge bei ihr nicht so sehr bei nur einer Person. Gelegentlich war was mit Charlotte und außerdem gab es so einen Typen von der Bundeswehr. Ich schaute, ob ich meine Fühler auch woanders ausstrecken konnte, um besser klarzukommen, aber die waren in meiner Eifersucht gegenüber Ronjas Begehrtheit eingeklemmt. Regelmäßiges Selbstmitleid bescherte mir geile Höhenflüge und in den Tiefphasen pushten Charlotte und ich uns mit allen möglichen Mitteln weg. An besagtem Herbstabend war es warm und die Blätter aller Bäume grün. Ich hatte einen Sack Lollipops gekauft und Charlotte vier Packungen Billig-Kippen. Mit Ronja, U-Bahn und Bus fuhren wir nach Dahlem. Die Tochter des HIT-Ulrich-Supermarktinhabers machte eine Party bei sich in einer Villa. Was geil klang, war unterm Strich eine ziemlich lahme Veranstaltung. Also löteten wir uns weg, zumindest ich, schmissen Lollipops und Kippen wie Konfetti durch die Räume und rasteten ein bisschen aus.
Nach etwa einer Dreiviertelstunde war ich so scheiße dicht, dass ich weder sprechen noch gehen konnte. Ich peilte ein Sofa an und landete mit Rücken und Kopf auf dem Teppichboden. Ein paar Leute lachten. Mein Hirn konnte ihre Gesichter nicht verarbeiten. Irgendwelche Pimmel, dachte ich. Die Pimmel wuschelten mir durch die Haare, zogen mir einen Schuh aus und schmissen ihn aus dem offenen Fenster. Ich wollte ihnen eine klatschen, aber konnte nicht mal mehr meinen Mund aufmachen.
Als ich endlich wieder klarkam, suchte ich zuerst meinen Schuh (Gebüsch) und dann Charlotte und Ronja. Ich fragte rum. Viele Leute waren bereits gegangen. Wie bei jeder lahmen Party. Ich hatte Lust, zu kotzen, aber war noch nicht ganz bereit. Schließlich erfuhr ich, dass die beiden sich in einem Raum eingeschlossen hatten. Ich war damn eifersüchtig und rastete ein bisschen auf mich selbst und meine Gefühle aus. Aber auf die schlechte Art und Weise. Ich war innerlich so wütend, weil alles in meinem Leben so ungewiss und scheiße verlief. Und irgendwie ja auch ziemlich gut. Aber halt gleichzeitig auch nicht. Und das waren Momentaufnahmen. Jeder Tag hatte das Potenzial, alles neu oder kaputtzumachen. Wie ein Glücks- oder Pechrad.
Ich hämmerte gegen die Tür und irgendwann kam Charlotte raus.
„Komm mal bitte klar, Carlo“, sagte sie.
„Fick dich.“
„Fick dich selbst. Und verhalt dich bitte nicht wie ein Arschloch, okay?“
„Ihr seid die wahren Arschlöcher“, sagte ich.
„Wie du meinst.“
„Ihr könnt mich am Arsch lecken. Ich gehe.“
„Jetzt chill bitte“, sagte Charlotte.
„Nein. Ihr seid scheiße“, sagte ich und ging wirklich.
Ich kampierte auf den Treppenstufen des U-Bahnhofes. Vorgeblich, um ein Kippchen und einen Lolli zu konsumieren. Nach zwanzig Minuten kam Charlotte, Ronja war nicht dabei.
„Ihr seid Arschlöcher“, sagte ich.
Charlotte setzte sich zu mir, nahm sich eine Kippe und einen Lolli.
„Kannst du irgendwie mein Hirn austauschen?“, fragte ich.
„Wenn du mir sagst, wie.“
„Klatsch mir eine.“
Charlotte klatschte mir eine.
„Nochmal bitte und doller.“
Charlotte klatschte mir eine zweite. Aber es war nur derselbe Schmerz.
„Was willst du damit erreichen?“, fragte Charlotte.
Ich wusste es nicht. Vielleicht wollte ich mich für etwas bestrafen. Vielleicht aufwachen. Vielleicht einen Anlass schaffen, um mich an diesen Abend zu erinnern. Endlich ließ ich den Kopf nach vorne fallen, kotzte auf die Treppenstufen, meine Schuhe, einen Lollistiel und einige Kippenstummel. Charlotte brachte mich irgendwohin nach Hause.