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Mädchenglut
Natürlich kenne ich die Geschichten von den Versenkten im See. Jeder hier kennt die. Wir jagen uns gerne einen Schrecken ein beim Schwimmen, stupsen mit Stöcken nach tretenden Beinen und kreischen, wenn wir selbst was abkriegen.
Vor ein paar hundert Jahren gab's 'ne Menge Wasserproben vor Ort. Ich hab' von dieser Magd gelesen, die mit ihrem Herrn und Meister gefickt hat; einem Bauern, den Hof gibt's noch heute. Die Bäuerin fand's heraus, also zeigte sie die Frau an und bezichtigte sie der Hexerei, was der Typ dann bezeugte. Klar, sie hatte ihn verzaubert, was sonst, schließlich war der Mann ja Katholik, also band man ihr die Daumen mit den Großzehen zusammen und schmiss sie in den See.
Mein Vater ist verbrannt, weil er sturzbetrunken im Bett geraucht hat. Bei irgendeiner Schlampe aus der Stadt, die gleich mit abgefackelt ist. So hat's mir zumindest meine Mutter erzählt. Ist schon lange her.
Vor Kurzem meinte sie, sie wäre glücklich mit ihm gewesen, bis ich auf die Welt gekommen bin.
»Und was soll das heißen?«
»Wir waren jung, reisten um die Welt.« Mutter lächelte. »Er hat fotografiert, war richtig gut. Rucksack, Kamera, ich mit Notizbuch, und los.« Sie sah auf die Zimmerpflanze mit den fettgrünen Blättern. »Dann vielleicht ein Buch, Diavorträge, um Geld für den nächsten Trip zu machen. Oder eine Strandbar eröffnen ...«
»Bis ich kam«, sagte ich.
»Sophie, Schätzchen«, sie strich mir übers Haar und sah mir in die Augen, »nicht immer alles falsch verstehen.«
Wir umarmten uns, dann setzte ich mich in den Schneidersitz und spielte an meinen Socken herum. Beschwor ein Bild in mir herbei: Ein Mann ohne Gesicht, im schwarzen Anzug, mit Schulterpolstern aus Blei und einer Aktentasche in der Hand.
Manchmal denke ich an die Scheiterhaufen, die dort aufgetürmt wurden, wo heute der Grillplatz ist. Schräg gegenüber der Gerichtseiche, die so alt ist, dass sie kaum mehr ihre Äste tragen kann.
Würstchen zu brutzeln, wo einst Frauen um ihr Leben gebrüllt haben, ist, na ja, heftig, finde ich. Aber das will ja eh niemand hören und wer weiß schon, was sich dort abgespielt hat, außer mir.
Andere finden es spooky, Nadine zum Beispiel, aber ich liebe die Hexengeschichten vom Ort, und manchmal, wenn ich lange genug mein Gesicht im Spiegel betrachte, wird mein braunes Haar zu rotem, bekommt meine Nase einen Höcker und ich muss lachen, ganz hexenhaft schrill, bis Mutter aus der Küche wettert: »Bist du jetzt völlig durch?«
Das Feuer knistert und ich fliege durch die Nacht, Sterne glitzern wie Pailletten über mir, dann falle ich. Das kalte Wasser reißt mich aus einem Traum, der niemals enden soll. Während ich zurück ans Ufer schwimme, segelt Gregor johlend durch die Luft und klatscht mit dem Rücken voran in den See. Nadine sitzt auf einem Ast, Joe wirft ihr das Tau nach oben, aber sie fängt es nicht gleich, sagt: »Ich trau' mich nicht!«
»Komm schon. Ist saugeil, Nadine!«, rufe ich und trockne mich ab. Dann gibt sie sich einen Ruck, das Seil jetzt in Händen, und schwingt kreischend dem Wasser entgegen. Doch sie lässt nicht los, pendelt zurück, Joe in die Arme. Ich pruste los und Gregor ebenso, der klatschnass zu unserem Platz watschelt und sich trocken rubbelt. »Was war das denn?«, sagt er.
Der Ruf eines Vogels, irgendwo im Dunkel. Unser Lagerfeuer schießt Funken in die Nacht. Ich zucke zusammen, nehme einen Schluck Apfelkorn und lausche dem Sprechgesang der Frösche. Mir ist kalt, ich umarme mich selbst, reibe mir die Schultern und rücke näher zur Hitze. Die kleiner werdenden Flammenzungen spiegeln sich in Joes glasigen Augen.
»Hört ihr auch das Zischen verbrennender Leiber?«, sage ich. »Wenn die Haut aufplatzt und ...«
»Lass gut sein«, sagt Nadine. »Nicht schon wieder Horrorgeschichten.«
»Das sind keine Geschichten!«
»Muahaha«, macht Gregor, das letzte a zieht er in die Länge, Joe grinst nur vor sich hin.
»Kommt schon, mir ist langweilig.«
»Halt einfach die Klappe, Sophie, genieß mal die Ruhe!« Nadine wirkt genervt, Gregor lacht. »Du bist schon 'ne Nummer«, sagt er zu mir und zieht Nadine näher zu sich ran, küsst sie auf den Mund. Sie macht Anstalten, ihn wegzustoßen, gibt den Widerstand aber schnell wieder auf. Ich sehe ihre rosa Zunge aufblitzen, bevor sie verschlungen wird. Gregors Hand findet einen Weg unter ihr Shirt, sie stöhnt erstickt. Ich hasse sie! Beide! Starre wie gebannt hin und mir bleibt beinahe das Herz stehen, als mich was an der Schulter zupft.
»Ich hau ab«, sagt Joe. »Kommst du mit?« So wie er es sagt, mit diesem Lächeln im Gesicht, wird mir schlecht.
»Ich bleib noch.«
»Sicher?« Er nickt in Richtung Liebespaar. »Wir könnten es uns auch bequem machen, ein Stückchen weiter weg vielleicht.«
»Du spinnst wohl«, zische ich.
Er lacht, sagt: »Dann nicht«, und raschelt schon durchs Gebüsch, bleibt aber noch mal stehen. »Sophie ...«
»Was denn?«
»Ich ..., egal. Ciao.«
Ich nicke nur, dann ist er weg.
Nadine und Gregor kichern, ein Funkeln in den Augen. Er taxiert mich, lächelt, schiebt dann ein Bein über Nadine und drückt sie zu Boden. Ich sehe, wie ihre Hände über seinen Rücken wandern, wie sie dabei Falten in das Shirt reiben, wie sie ... ach, ich schnappe mir die Flasche, gehe ans Ufer und zähle die Sterne.
Irgendwann der letzte Schluck, und der war zu viel. Ich spüre, wie sich das süße Zeug nach oben kämpft, vermengt mit Säure, und kotze alles aus. »Nadine!«, rufe ich gequält. »Wir gehen!«
Der Mittwoch ist mein Lieblingstag. Am Abend zuvor wechsle ich immer die Bettwäsche. Ist die Schule aus, lernen wir zusammen. Und anschließend genießen wir unsere Mädelszeit. Meine Mutter hat mir ein Abo zum Geburtstag geschenkt und Nadine und ich stürzen uns seit beinahe einem Jahr auf Fotostorys, Promiklatsch und Dumme-Jungen-Fragen.
Meine Mutter, nie ist sie da, immer am Arbeiten, aber ich muss zugeben, ihr Geschenk hat ins Schwarze getroffen, auch wenn wir eigentlich viel zu alt für so was sind.
»Habt ihr es schon mal gemacht?«
»Was?« Nadine legt die Illustrierte ab und starrt mich an.
»Habt ihr miteinander ... geschlafen? Neulich am See ...« Ich versuche, beiläufig zu klingen. »Du bist doch noch zu Gregor.«
»Geht dich das was an?« Ihre Wangen blühen auf.
»Nadine?«
Sie lacht jetzt. »Okay«, sagt sie, »ja, wir haben schon miteinander geschlafen. Zufrieden?«
»Hast du mir gar nicht erzählt.« Ich wälze mich zu ihr, drehe Knötchen in mein Haar. »Und?«, frage ich. »Wie ist es?«
Nadine legt sich auf die Seite, wir sehen uns tief in die Augen. Sie riecht nach Nivea. Wie sich ihr Brustkorb bewegt, ihr Kehlkopf hebt und senkt ...
»Es ist total schön mit ihm.«
»Wie berührt er dich?«
»Er ist ... zärtlich.«
»Zeig mir, was er macht.«
»Was?«
Ich nehme ihre Hand und lege sie mir auf die Brust.
»Nein«, sagt sie und zieht sie weg.
Ich greife erneut nach ihr, packe kräftig zu und ziehe sie mir in den Schritt. »Fasst er dich auch da an, Nadine?«
»Du spinnst wohl!«, schreit sie, reißt sich los und scheuert mir eine.
Hexen hüten Schätze. Tiegelchen und Fläschchen voller geheimnisvoller Tinkturen. Kräuter und Pulver und verbotene Bücher mit Sprüchen und teuflischem Wissen nennen sie ihr Eigen. Meinen Schatz bewahre ich in einem Holzkästchen auf, das ich selbst bemalt habe. Rot wie Blut und schwarz wie Krähenfedern. Ich ziehe die Schublade unterm Bett hervor, wühle mich nach hinten, durch Berge von Schlüpfern und viel zu klein gewordener Socken. Da ist es ja! Das Zahlenschloss klemmt schon wieder, ich gehe in die Küche und träufele Öl auf das blöde Ding. Reibe mir die Hände an der Jeans ab und ärgere mich über die Flecken darauf. Egal, ich will nicht, dass die Briefe fettig werden. Auch nicht das Haargummi – es riecht nicht mehr nach ihr! –, und schon gar nicht die karierten Zettelchen, Dutzende davon, fein säuberlich gestapelt. Magische Formeln, Versprechen, heimliche Gedanken.
Heute Abend am See? Den hab' ich gesucht! Ich glätte mit dem Handrücken die Falten im Papier, fahre mit dem Finger die Worte nach, sehe Nadine, eine Sitzreihe vor mir, wie sie ein Stückchen aus dem Collegeblock reißt, die Frage schreibt, und mir den Zettel nach hinten gibt. Ihr verschwörerisches Lächeln, ganz kurz nur, dann, als wäre nichts, den Blick wieder nach vorne gerichtet.
War klar, dass er kommt. Gregor hat die Handschrift erkannt, auch wenn sie nicht für ihn bestimmt war, sondern für mich! Lange vor ihm! Noch bevor er alles durcheinandergebracht hat. Er sitzt auf der Bank unter der Gerichtseiche und raucht.
»Hey«, sage ich.
»Sophie?« Er spricht es Soffi aus. Nicht schön, nicht französisch, nicht Sophie.
»Jepp.«
»Und Nadine? Ich dachte, sie wär übers Wochenende ...«
»Bei ihren Großeltern. Ist sie auch.«
»Ähm ... und das? Was soll das?« Er kramt den Zettel aus der Tasche und hält ihn mir entgegen. »Ich soll herkommen«, sagt er und steckt ihn wieder ein.
»Keine Ahnung. Verarsche. Vielleicht will sie nicht, dass du auf die Party gehst.«
Gregor nimmt einen Zug – die Falte zwischen den Brauen wird tiefer – und schaut zum See. Die Abendsonne hat einen roten Teppich aufs Wasser gemalt. Enten schlagen mit den Flügeln auf die Oberfläche, hetzen einander, halb fliegend, halb rennend.
»Vielleicht will sie einfach nur, dass du an sie denkst.«
Er schüttelt den Kopf und bläst Rauch durch die Nase.
»Oder dass du keinen Blödsinn anstellst.« Mehr fällt mir nicht ein. »Kann ich auch eine haben?« Ich nehme mir eine Zigarette aus der zerbeulten Gauloises-Schachtel neben ihm und setze mich.
Gregor greift sich in die Hose, fummelt ein Zippo raus und gibt mir Feuer. »Ihr hattet Streit, stimmt's?«
»Wieso?«
»Nadine hat gesagt: Hey, die ist total durchgeknallt!« Er lacht und schnippt die aufgerauchte Kippe weg. »Total durchgeknallt«, wiederholt er, reißt dabei die Augen auf und fuchtelt theatralisch durch die Luft. »Was war denn?«
»Wir verstehen uns wieder.«
Er nickt und angelt sich die nächste Zigarette aus der Schachtel. »Kommst du auch auf die Party heute?«
»Klar«, sage ich.
»Da wird sich Joe aber freuen«, sagt er und grinst.
Mir sticht Rauch in die Augen, ich kneife sie zusammen, reibe mir die Tränen weg und sage: »Okay. Und warum das?«
»Komm schon, hast du nichts bemerkt?«
Die Luft drückt bleiern, wir rauchen, moderiger Geruch vom See dringt zu uns rüber.
»Komische Aktion. Das mit Nadine«, sagt er.
Ich ersticke die Zigarette unter meiner Sandale, lege eine Hand auf Gregors Oberschenkel. Lasse sie dort liegen, für einen Moment, einen Augenaufschlag lang. »Wir sehen uns dann heute Abend, ja?« Den Stummel werfe ich in die tote Feuerstätte vor uns. »Ich bring was Selbstgebrautes mit«, sage ich und stehe auf.
»Das Rezept von deiner Oma? Fuck!« Gregor lacht wieder.
»Das Zeug hat's in sich, hab's vor zwei Wochen angesetzt.« Ich zwinkere ihm zu und schnalze mit der Zunge.
»Alles klar«, sagt er gedehnt und ich sehe, dass sich was in seinem Blick verändert hat.
»Ach, übrigens ... der Streit. Es ging dabei um dich.«
Die Idee, davonzurennen, gefällt mir. Ich drehe mich kurz um, lächele. Wie ein Fragezeichen hockt er da, und während ich ihn noch im Rücken spüre, verzieht sich mein Gesicht zu einem Grinsen, wird mein braunes Haar zu rotem und meine Nase bekommt einen Höcker.
»Freut mich, dass du gekommen bist!« Joe streicht sich die Haare nach hinten. »Nichts gegen Nadine, ist aber echt mal schön, dich alleine zu treffen!« Ganz außer Atem ist er, Schweiß glänzt auf seiner Stirn.
»Alleine?« Ich sehe mich um und rümpfe die Nase.
Joe lacht. »Ja, okay, alleine nicht unbedingt. Ich meine ... du weißt schon ...«
Irgendjemand hat die Anlage hochgedreht. »Ist Gregor auch da?« Ich hebe die Stimme über die von Eddie Vedder, der gerade zu seinem I'm still alive ansetzt.
»Gregor? Hab ihn noch nicht gesehen.«
Den Rucksack stelle ich zwischen uns ab, mein ganzer Rücken ist feucht, ich zupfe an meinem Top und wedele ein paar aufdringliche Mücken weg.
»Siehst toll aus«, sagt Joe, dann geht mit einem Mal die Musik aus, manche lachen, andere motzen. »Scheiß Ding«, sagt er und läuft Richtung Generator, der bald wieder zu knattern beginnt.
»Noch 'n Schluck?«
»Scheiße«, sagt Gregor, nimmt mir die Flasche aus der Hand, hebt sie hoch und betrachtet sie von unten. »Haben wir das ganze Zeug leergesoffen?«
»Noch ist was drin«, sage ich.
»Nicht mehr lange.« Er setzt an und saugt den letzten Tropfen aus dem Flaschenhals. »Hast mich total abgefüllt, weißt du das?«
Ich lege meine Hand auf sein Knie, lächele mein bezauberndstes Hexenlächeln und taste mich seinen Oberschenkel entlang. Das Gelächter und die Musik in der Ferne werden leiser, als flögen wir davon. Weit weg. Aber wir sitzen hier. Ganz in der Nähe.
»Hey!«, sagt er und packt wie ein Schraubstock zu. Aber er löst sogleich den Druck. Ich reibe ihn zwischen den Beinen, seine Hand liegt noch auf meiner, aber er lässt mich machen, und ich spüre, was mit ihm passiert, spüre auch bald die andere Hand auf meiner Brust und die nach Gauloises und Schnaps schmeckende Zunge, die er in mich schiebt. Dann liegen wir hinter dem Baumstamm, auf dem wir eben noch saßen. Ich bin erregt, mehr nicht. Bin eine Hexe, Hexen wollen wissen. Das ist alles.
Er knöpft mir die Jeans auf, stopft mir die Zunge weiter in den Mund und die Hand in meine Hose. Er ist schwer, ich bekomme kaum Luft, will ihn wegdrücken, hauche: »Warte.« Aber er wartet nicht und für einen Augenblick verkrampft sich alles, ich drehe den Kopf zur Seite, Luft, ich brauche Luft und ich zwänge meine Hände unter seine Schultern und drücke so fest ich kann. »Warte«, sage ich und der Mühlstein über mir wird leicht. Ich weiß in diesem Moment nicht mehr, wie weit ich gehen soll, und doch greife ich in die Tasche und zaubere ein Kondom hervor. Strähnen hängen in seiner Stirn, ich rieche scharfen Schweiß. Der Mund ist halb geöffnet, verzieht sich zu einem Grinsen. Gregor zerrt mir ungestüm Hose und Schlüpfer runter, fädelt mein linkes Bein hindurch und hinterlässt einen Hosenklumpen am rechten. Der Boden fühlt sich kalt an. Nadeln piksen meinen Hintern. Ich rieche Rauch vom Lagerfeuer. Gregor kniet vor mir, rollt den Gummi über und ich schließe die Augen und denke an Nadine. Zärtlich hat sie gesagt. Er ist ... zärtlich. Mir tut er weh, ich stöhne nicht aus Lust, ich bin die Magd, die macht, was Herr und Meister ihr befielt.
Irgendwann ist es vorbei. Ich spüre ihn noch brennend in mir, aber er bewegt sich nicht mehr. Sein Atem wird ruhiger, meiner gleicht sich an.
»Verdammtes Arschloch!«
Gregor rollt von mir runter und wir sehen Joe vor uns stehen. Gregor springt auf und zieht sich die Hosen hüpfend hoch, das Kondom baumelt hin und her. Joe schubst und Gregor fällt. »Was soll der Scheiß?«, ruft er und Joe wirft sich auf ihn, schreit wieder: »Du blödes Arschloch!«.
Ich ziehe mich an, schnappe mir den Rucksack und renne los.
Niemand spricht mit mir, sie weichen mir aus, schlagen Bögen, bevor sie an mir vorbeigehen. Alle an meiner Schule machen das, zumindest alle, die mich kennen, aber auch die, die mich nicht kennen. Sie wissen es oder ahnen, wer ich bin, was ich bin, schon immer gewesen bin.
Während ich hier am See sitze, die Eiche im Rücken, male ich mir einen schwarzen Fleck auf den Unterarm. Aus dem Fleck wird ein Herz, schwarz wie Krähenfedern. Ich nehme den Nagel in die Hand und hoffe, dass sie kommt.
Und sie wird kommen. Das weiß ich.
Sie steht vor mir, die schöne Klägerin, der erste weibliche Inquisitor der Geschichte.
»Ich werde mich nicht entschuldigen«, sage ich.
Nadine antwortet nicht, fixiert mich nur, die Arme verschränkt, die Haare zusammengebunden wie ein Tau.
»Willst du, dass ich büße!« Ich stehe auf, keine zwei Armlängen von ihr entfernt und halte den Nagel fest umklammert. »Hm? Willst du das?«
Ein Lächeln nur, ein höhnisches Grinsen.
Ich drücke mir den Nagel in den Unterarm, dort, wo mein Hexenmal gewachsen ist. Verziehe keine Miene. Nadines Blick ist nun nicht mehr so fest, ein leichtes Zucken, aber sie sieht nicht hin, nicht auf das, was warm über die Haut zu fließen beginnt.
»Verstehst du es jetzt!«, schreie ich.
»O Gott.« Sie dreht sich um, schüttelt den Kopf und sagt: »Du tust mir einfach nur leid.«
»Bleib stehen!« Doch sie bleibt nicht stehen, also krame ich das Fläschchen aus dem Rucksack. »Bleib stehn!« Schon ist sie beim Gebüsch und ich schreie so laut ich kann ihren Namen, so laut, dass man ihn im ganzen Ort hören wird, auf der ganzen Welt, und Nadine zuckt zusammen, dreht sich um und sieht, dass das Fläschchen aus Metall ist, dass das Feuerzeugbenzin ist, mit dem ich mir die Beine bespritze und dabei lache, hexenhaft schrill. »Erkennst du es?«, rufe ich, werfe die Metallflasche zu Boden und halte Gregors Feuerzeug in Händen. Ich drehe am Rädchen und es flammt auf. »Erkennst du's?«
»Du bist krank, weißt du das!«
Sie kehrt mir wieder den Rücken zu und ich lasse das Zippo fallen, höre dieses Geräusch, das ich schon immer geliebt habe. Dieses Wusch und als ich losrenne, wuscht es noch lauter und ich denke an meinen Vater, an die Schlampe aus der Stadt, fühle Nadines Blicke im Rücken, höre, wie sie mir nachruft, während ich mich in die Fluten stürze und schwimme und schwimme so schnell ich kann, so weit ich kann, bis die Lungen brennen.
»Sophie!«, ruft sie. Niemand spricht es so schön aus wie du, Nadine. Niemand.
Ganz klein ist sie geworden, dort am Ufer, von der Eiche zu ihrer Linken umrahmt. Sie fuchtelt mit den Armen, ruft erneut nach mir und ein warmes Kribbeln durchzieht mich und ich schwebe und kann nicht anders, als zu lächeln. Und das Wasser liebkost mich mit kühlen Fingern, überall. Ich lasse mich fallen. Unter mir nur Dunkelheit, über mir zucken Blitze aus Sonnenlicht, und Luftbläschen funkeln wie Perlen auf dem Weg nach oben. Ich schließe die Augen, höre das Pochen in meinem Kopf. Schneller, schneller. Trommelschläge auf einem Sklavenschiff. Ich ziehe die Beine an, versuche die Zehen zu packen und das Wasser dreht mich und dreht sich selbst in unsichtbaren Wirbeln. Dann halte ich sie fest umschlungen und irgendetwas zieht an mir wie an einem Griff, und als ich die Augen öffne, werde ich geblendet. Die Wasseroberfläche ist nah, es trennt uns nur noch ein Häutchen, das ich jetzt durchsteche, und Luft füllt meine Lungen. Brennend heiße Luft.