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Machtspielchen
Fliegen schwärmen auf, als ich den Hausflur betrete. Die Küche ist ein Schlachtfeld. Ich steige über Trümmer und Unrat, die wie Tretminen verstreut sind. Ich atme nur flach und trotzdem kann ich es nicht verhindern: die Luft klebt vor Gestank und der Ekel rumort in meinem Bauch. Zwei Augenpaare reflektieren das Licht meiner Taschenlampe, als ich unter den Tisch leuchte. Dann huschen zwei räudige Katzen wie Schatten an mir vorbei.
Ich habe mich als Kind vor allem gefürchtet. Der Keller, das Plumpsklo, der große Schrank. Es ängstigte mich. Ich habe still gelitten, unauffällig, weil ich nicht einordnen konnte, was mich bedroht.
Als ich mit sechs Jahren immer noch nicht richtig sprechen konnte, kam eine Frau zu uns nach Hause. Die Frau hinterließ meiner Mutter einen Zettel.
Langsam steige ich Stufe um Stufe die Eichentreppe hinauf ins Obergeschoss. Die Holzdielen ächzen, als wollen sie mir ihren Dienst verweigern. Der Handlauf ist glatt und meine Finger finden an ihm Halt. Ich ziehe mich mehr die Treppe hoch und als ich oben angekommen bin, wird mir schwindelig. Durch eine Dachluke fällt etwas Licht hinein, weil die Sonne keine andere Wahl hat, als zu scheinen. Die Blümchen auf der vergilbten Tapete möchten von ihr wiederbelebt werden, weil sie zerfressen sind. Die Katzen nagen sie und den Leim von der Tapete.
Meine Mutter las den Zettel irgendwann später und telefonierte. Kurz darauf brachte mich die Frau in ein Haus, mit großen Sälen und kleinen Betten. Es gab einen großen geschmückten Tannenbaum im Haus, was mich sehr verwunderte und ich bekam mein erstes Geschenk. Es war ein Stoffbär. Als ich ins Bett ging, legte die Frau den Bären neben das Kissen.
Der Boden wankt gefährlich, als ich in das Schlafzimmer gehe. Es ist dunkel darin, weil die Vorhänge der Sonne und den Augen der anderen gnädig sein wollen. Mit der Taschenlampe leuchte ich auf das Bett. Braune Spuren zieren das Laken, das Federbett liegt zusammengeknüllt am Fußende. Der Lichtkegel fällt auf eine Flasche mit Wodka. Ich spüre, wie trocken mein Hals geworden ist.
Meine Mutter habe ich nie wieder gesehen. Ich konnte sprechen als ich großjährig war und doch fragte ich nicht nach ihr. Ich hatte sie nicht vergessen, nur erinnerte ich mich nicht wie sie aussah.
Ich umklammere den zerbrechlichen Hals, setze mich auf das Parkett und nehme einen großen Schluck. Die Katzen miauen. Es klingt, als würden sie weinen.
Ich verließ das Heim mit einem Teddy im Gepäck. Irgendwann war Teddy fort.
Warum habe ich meinen Teddy verloren? Erinnerungsfetzen nebeln mich zu, viel behutsamer als der Alkohol aus der Flasche. Ich muss lachen. Stoße an den kalten Körper neben mir. Ihn habe ich auch geliebt.
Er war soviel älter als ich. Mein Dozent an der Universität. Ich hing an seinen Lippen und er sah mir auf den Busen. Keck streckte ich meine Brüste heraus. Als er mich am nächsten Tag rücksichtsvoll entjungferte, ging ich im Geiste die Vokabeln durch. Wolfgang und ich heirateten, als ich mein Diplom hatte. Seine Kinder waren so alt wie ich. Ich wollte keine Kinder.
Die Katzen haben großen Hunger, geben keine Ruhe, streichen schnurrend um meine Beine und ich finde kein Futter. Aus dem Kühlschrank gähnt mich ein weißes Licht an.
„Wolfgang hat nichts für uns eingekauft“, sage ich den Katzen, die an mir hochspringen. Ich fühle ihre Krallen. Es besänftigt mich.
Für den Kirchenchor hat er Zeit!“, mäkele ich trotzdem weiter an ihm herum, während ich eine Dose Sardinen in der hintersten Ecke des Küchenschranks entdecke.
„Schließlich habe ich heute den ganzen Tag gearbeitet...“, sage ich zu den Katzen, als ich die Konserve öffne.
Blut rinnt aus meinem Finger. Die Dose knallt gegen die Wand. Öl - und Fischgeruch hängen in der Luft. Die Katzen sind wie toll.
Ich arbeite in einer Kanzlei. Meine Mandanten erschöpften mich mit ihren Problemen, die nicht meine sind.
Wolfgang und ich stritten. Weil er vorgab alt zu sein. Weil ich wollte, dass er es mir besorgte. Er musste erst Bier dazu trinken, hielt mir anschließend unseren Sex und die harte Tour vor. Ich giftete zurück, er solle von der Flasche lassen und da hat er es gewagt zu sagen, dass er mich verlassen wird.
Ich liebe ihn und er hatte mich angesehen aus dunklen tiefliegenden Augen. Seine Tränen rührten mich, wie letztes Jahr, als meine Nase gebrochen war. Er stieß mich weg, ich prallte mit dem Kopf ans Treppengeländer. Als ich wieder zu mir kam, lag Wolfgang stumm mit einer Flasche Wodka im Arm in unserem Ehebett. Zärtlich strich ich ihm über seine unrasierten Wangen. Kroch zu ihm unter die Decke. Er zuckte zusammen, schlug seine Augen auf.
„Lass mich!“
„Was wollen Sie?“
Blaue Uniformen umzingeln mich. Jemand rennt die Treppen hoch. An der Eingangstür erkenne ich im Gegenlicht nur schwach Lara, die Tochter meines Mannes. Sie ist heute bei mir im Büro gewesen, weil Wolfgang sich nicht meldet, obwohl sie ihn um Rückruf gebeten habe. Sein Handy wäre ausgeschaltet.
„Er hat mich zusammengeschlagen“, flüstere ich den Polizisten zu, streiche mir die Haare aus dem Gesicht, damit man die blaugrünen Schwellungen besser sieht. Meinen Kollegen und Lara sind sie auch aufgefallen, das habe ich heute Morgen bemerkt. Ich habe Lara fortgeschickt, ich hätte zu tun.
Der Rettungsassistent ruft von oben nach dem Notarzt. Ich weiß, dass er zu spät kommt. Das Messer im Rücken. Muss furchtbar aussehen.