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Madeleine
Tom lag in Embryonalstellung und zugedeckt auf seinem Bett, starrte auf den mattschwarzen Bildschirm seines Handys und wartete mit pochendem Herzen auf das Klingeln seines Weckers.
Er war wieder einmal zu früh und grübelnd aufgewacht, hatte wieder einmal mit zusammengekniffenen Augen stundenlang in der Dunkelheit gelegen und versucht, nicht an die völlige Abwesenheit seiner Zukunft zu denken, aus der er sich, da er nun mal mit Leib und Seele Musiker war und bleiben wollte, schon vor Corona nicht viel gemacht hatte.
Seine Zukunft war für ihn schon immer etwas unbestimmt und nebelig gewesen. Doch er hatte hinter seinem Nebel immer ein buntes, wohlklingendes und pulsierendes Lebensgewirr erwartet; ein Lebensgewirr, das seit einigen Monaten einem dunklen und klaffenden Abgrund gewichen war, einem Abgrund, der sich immer wieder für ihn öffnete. Er sah ihn beim U-Bahn fahren im versifften Boden, auf offener Straße in den Gesichtern der Passanten und beim Spielen zwischen den Zeilen seiner Notenblätter. Doch wirklich groß und bedrohlich tat sich der Abgrund für Tom vor allem nachts auf. Wie ein riesiges Schwarzes Tor in eine quälende Dimension.
Schweigend und aus dem Nichts gewachsen füllte es die Wand gegenüber von seinem Bett fast vollständig aus und raubte ihm den Schlaf.
Tom erschrak als der Wecker endlich klingelte.
Er brachte ihn sofort wieder zum Schweigen, brachte seine Füße zum Boden, streckte seine Arme in Richtung Decke und gähnte. Dann sprang er auf und torkelte mit leicht angedunkelter Sicht in ein kleines und buntes Badezimmer, um Zähne zu putzen. Auch mit klaffenden Abgründen in Zimmerwänden ließ es sich noch gut leben. Er schrubbte sich die Zähne, spuckte aus und schenkte sich und der Welt ein halbwegs weißes Lächeln, fühlte sich trotzig frech und fröhlich und so, als könne er dem Unglück dieser Welt die Tür eintreten. Leise pfeifend ging er zurück an seinen Schreibtisch, zog den Schreibtischstuhl hervor, drehte ihn zur Wand gegenüber, setzte sich, streckte den Rücken durch und meditierte für zwanzig Minuten mit einer App.
Tom mochte es zu meditieren. Es war so, als würde er sich jeden Morgen ein kleines Stück blaue Ruhe schenken, bevor er sich mit Anlauf in den hektischen Berliner Alltag stürzte.
Am schönsten war es für ihn, sich auf seine Atmung zu konzentrieren, ganz nah und nur bei ihr zu bleiben und dabei zu merken, dass sich die Mundwinkel von alleine nach oben bewegten und ein ernst gemeintes Lächeln formten. Zum Ende der Meditation stellte er sich den Geist, seinen Geist, als einen weiten und blauen Himmel vor.
Und die Gedanken waren Wolken.
Mal weich und weiß, mal dunkel, schwer und voller schmerzhafter, grell aufzuckender und lähmender Blitze. Doch der Himmel blieb klar und blau.
Tom beendete seine Meditation und stand auf. Er fühlte sich etwas besser, etwas geerdeter. Dachte aber gleichzeitig darüber nach, dass die Jahrtausende alte, fernöstliche, spirituelle Verheißung des blauen Himmels im Angesicht der herannahenden Klimakatastrophe an Bedeutung verloren hatte. Der ewig blaue Himmel hatte sich für alle Menschen ein Stück weit zugezogen.
Tom schaute ins Nichts. Dann griff er zu seiner E-Gitarre und schaltete den Verstärker ein. Das Knacken in der Leitung beruhigte ihn. Die Saiten fühlten sich an, wie Gestern, Heute und Morgen.
Er machte ein paar Fingerübungen. Die Tonfolgen krochen lustlos und verhalten aus dem schwarzen Schaumstoff.
Tom sah sich selbst, beim Spielen auf einem nackten Felsen. Sein Blick schweifte zum Horizont einer endlosen Wüste. Ein Büffelschädel ohne Ohren starrte ihm beim Spielen an. Tom sah zum Stapel mit Notenblättern. Eigentlich wollte er üben.
Stattdessen spielte er die Stücke, die er bereits konnte. Stattdessen ließ er sich in seine Soundcouch fallen und spielte ein paar Blumen aus dem Sand. Mit jedem Ton wuchsen sie weiter in seine Richtung. Mit jedem gespielten Song entfaltete sich eine weitere Blüte. Tom spielte sich selbst in einen Garten. Bis plötzlich Jakob, sein Freund, hinter einem Baum hervor trat und ihm freundlich auf die rechte Schulter tippte.
„Waren wir nicht zum Frühstück verabredet?“
„FUCK.“
Alles sackte in sich zusammen. Der Sand lichtete sich und Tom fiel zurück in seinen Schreibtischstuhl. Gitarre weg. Verstärker aus. Der Blick zur Uhr. Erleichterung. Erst zehn Minuten zu spät.
Es blieb noch Zeit, um die Bluetooth-Box mit unter die Dusche zu nehmen und sich singend fertig zu machen. Wenn es mal schlecht lief, dachte Tom, wurde das Singen unter der Dusche zu einer absoluten Notwendigkeit. Er sang, trocknete sich ab, zog sich an, gab seinem Spiegelbild einen Abschiedskuss und machte sich auf den Weg.
Als Tom am Café ankam, war Jakob schon bei seiner zweiten Zigarette.
Er lehnte an der Häuserwand rechts neben dem Café, zog gierig am Filter und folgte den vorbei hastenden Passanten mit nervösem Blick.
Tom hob die Hand, während er weiter auf Jakob zu ging. Jakob bemerkte ihn nicht. Erst als Tom in sein Sichtfeld tänzelte und sich mit übertriebenen Gesten bemerkbar machte, hob Jakob seinen Kopf und lächelte zaghaft. Tom lächelte zurück.
Sein Freund sah mitgenommen aus. Mit einem für den Hochsommer bemerkenswert bleichem Gesicht, einem verfilzten Bart, seinem schwarzen staubigen T-Shirt, der ausgebeulten Cordhose und den durchgetretenen Lederschuhen, die er auch schon im Winter getragen hatte.
Die beiden umarmten sich kurz, entfernten sich mit einem kleinen Schritt und musterten sich mit weichen Blicken voller Erinnerung und Zuneigung.
„Lange nicht gesehen“ sagte Tom.
„Die Kette gefällt mir nicht.“
„Lange nicht gesehen“ versuchte es Tom noch einmal.
„Seit wann trägst du denn Goldketten?“
„Ich dachte mir, ich probier mal was Neues aus.“
„Ah. Linda kann das unmöglich gut finden.“
„Wir haben Schluss gemacht.“
„Schöne Kette.“
„Danke...Und bei dir? Rasierer kaputt und Kleiderschrank zu?“
„Ich habe wichtigeres zu tun“
„Natürlich! Wie geht’s Jenny?“
„Interessiert mich nicht.“
„Sie hat nach dir gefragt. Ich...“
„Können wir uns bitte auf das Wesentliche beschränken? Ich habe nicht viel Zeit.“ „Was wäre denn für dich das Wesentliche?“
„Kaffee natürlich. Und die Musik.“
Tom sah Jakob in die Augen. Jakob hielt seinem Blick mit zitternden Pupillen stand und blickte dann schnell nach unten.
„Lass uns reingehen.“ sagte Tom.
Die Sonnenterrasse des Cafés war gut besucht. Jakob und Tom wichen an einen Tisch am offenen Fenster aus und bestellten zwei Kaffee.
„Isst du nicht?“
Jakob schüttelte den Kopf. Tom bestellte sich ein Zitronen-Madeleine.
Die beiden schwiegen eine Zeit lang. Draußen vor dem Fenster ein Meer an Stimmen. Und viel Sonne.
„Schön, dass du dich endlich gemeldet hast.“
„Deine ständigen Nachrichten haben genervt. Ich musste etwas tun.“
„Wie gehts dir denn?“
„Wie solls mir schon gehen?“
Kaffee wurde gebracht. Tom blieb an den Augen der Kellnerin hängen. Zwei grüne Blitze voller Wärme, die ihm von den Augen direkt zur Brust stieg. Ein Lächeln wurde ausgetauscht. „Gut!“
„GUT?“
Die Kellnerin zuckte beim Weggehen zusammen.
„Ich kanns nicht mehr hören. Tom hast du dich in letzter Zeit mal umgeschaut? Die Welt geht vor die Hunde. Wir nagen unserem Planeten die Haut von den Knochen und schauen dabei auf unsere Handys. Schau raus...“
Tom sah raus.
„...und sag mir, dass dir bei dem Anblick nicht schlecht wird.“
Das Madeleine wurde gebracht.
„Mir wird bei dem Anblick nicht schlecht.“
„Weil du ein Idiot bist.“
Tom biss in das Madeleine; ein weiches, zuckriges Kissen aus Butter und Zitrone.
„Bin ich nicht.“
„BIST DU! Ein Idiot, der den ganzen Tag an seiner Klampfe hockt, die Augen verschließt, und die Musik ANDERER Leute nachspielt. Alle Dystopien der vergangenen Jahrzehnte sind Wirklichkeit geworden. Die Zukunft wurde uns vor den Augen weggesprengt. Mit NACHLÄSSIGKEIT. Die Konzerthallen sind LEER. Ich kann mich nicht ausleben. Und du willst, dass es mir GUT geht?!“
„Komponierst du noch?“
„NATÜRLICH KOMPONIER ICH NOCH! ATMEST DU NOCH?“
Tom musste lachen. Die Kellnerin auch.
„Beruhig dich.“
„FICK DICH.“
Tom tauchte seine Finger in seinen Kaffee und spritze Jakob ein paar Macchiato-Tropfen ins Gesicht. Jakob bemerkte, dass er stand. Er bemerkte seine zu Fäusten verkrampften Hände. Etwas in seinem Hinterkopf rastete wieder ein. Ein böser Geist schwebte zum Fenster hinaus und verdunstete in der Berliner Sonne.
Jakob sackte in seinem Stuhl zusammen und konzentrierte sich für die nächsten Minuten auf seine zitternden Hände. Tom schaute kauend aus dem Fenster. Ruhe kehrte ein.
Dann hob Jakob, schwach und voller Resignation, seinen Rucksack auf den Schoß. Er holte seine schwarze Ledermappe hervor und legte sie vor sich auf den Tisch.
„Ich hab was für dich.“
„Dachte ich mir.“
„Kannst du es spielen und mir sagen, was du denkst?“
Tom zog die Mappe zu sich heran, holte einen Stapel Notenblätter hervor und überflog sie. Er stieß einen leisen Pfiff aus.
„Hier passt ja gar nichts zueinander. Kein Stein auf dem anderen.“
„Spiel es einfach und du wirst sehen, es ergibt Sinn.“
Auf einmal klang Jakob wie ein zwölfjähriges Kind, das aus irgendeinem Grund Kekse verkaufen musste.
Tom schenkte ihm sein herzlichstes Lächeln.
„Ich spiele es wie immer gerne...Wenn du dich rasierst und dir etwas frisches anziehst.“ Jakobs linker Mundwinkel zuckte kurz auf und wurde dann gewaltsam wieder zum Stillstand gezwungen.
„Abgemacht.“
Die Rechnung kam mit einer Handynummer.
Die beiden Freunde teilten sich die Summe, umarmten und trennten sich.
Abends schrieb Tom der Frau mit den grünen Blitzen. Mit fiebriger Brust. Dann spielte er Jakobs Stück.
Sein Freund hatte Recht gehabt. Sein Stück ergab intuitiv Sinn.
Irgendwie passten die Noten in die Zeit.
Seine letzten Gedanken galten ihr.
Ihre Augen waren wirklich sehr schön gewesen.