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Madgermanes
Auch ich verspüre diese Wut. Denn ich bin einer von Euch. Im Jahr 1979 haben wir gemeinsam auf den Tag gewartet. Zwanzigtausend waren wir! Wer kann sich das vorstellen? Und alle sind wir in die DDR geflogen. Wisst ihr noch, wie wir am Rollfeld standen? Voller Erwartungen. Nervosität, Vorfreude, Erleichterung in unseren Gesichtern. Traurig, unser Land seinen Gebrechen zu überlassen. Geknickt, weil unsere Liebsten ohne uns weiterkämpfen mussten. Wir standen am Flughafen, aber waren Fischer, verloren auf See. Unseren Fuß von dieser Erde zu nehmen, fiel uns so schwer, doch ist es leichter, wenn man an den Horizont denkt. Wir dachten, wir tun das Richtige. Ist es nicht so?
Was haben sie uns versprochen? Was haben sie gesagt, damit wir alle in ihre Flugzeuge gestiegen sind? Eine Ausbildung, haben sie dir gesagt. Ein anständiger Beruf. Eine Qualifikation. Du wirst von den Deutschen lernen, haben sie mir gesagt. Unsere Schwester, die DDR, braucht Gastarbeiter. Zwischen unseren Völkern herrscht Freundschaft. Geld haben sie allen versprochen. Sie haben gesagt, wenn ihr zurückkommt, dann helft ihr beim Aufbau unseres Staates. Weil dann wisst ihr, was zu tun ist. Die Deutschen werden es euch beibringen. Tut es für Mosambik. Tut es für den Sozialismus. Tut es für eure Familien. Und ich frage mich, wo sind wir heute? Wohin hat uns das geführt!
Sie haben uns nach Wismar geschickt, nach Ilmenau, nach Rostock und nach Hoyerswerda. Was hat uns dort erwartet? Unter die Erde haben sie uns geschickt. Begruben unsere Träume unter Kupfer und Braunkohle. In die Fabriken. An die Heizkessel. Zum Maschinenbau. Sie haben uns überall dorthin geschickt, wo Mangel herrschte. Achtzehn Stunden am Tag! War das eine Ausbildung? Nein, das war es nicht. Wo sind unsere Diplome? Ich habe nie eines erhalten. Seht ihr diese Hände? Seht ihr meine Mühe, aufrecht zu stehen? Das ist meine Qualifikation! Was haben wir von den Deutschen gelernt? Nichts, außer ihrer Sprache. Aber was nützt uns die jetzt noch?
Ich hab am eigenen Leib erfahren, was Ausgrenzung bedeutet. Neger und Affe nannten sie uns. Verglichen uns mit Rußbürsten und Kohlesäcken. Mit den Stiefeln traten sie nach uns. Bespuckten uns und ließen uns weiterarbeiten, während sie Bier tranken und sich darüber lustig machten. Mitten in der Nacht haben sie mich geweckt und mir die Zähne eingeschlagen. Ob die aus Elfenbein sind, haben sie gefragt! Wie viele lagen mit mir in den Unterkünften, zusammengepfercht wie Vieh, und träumten von Schlaf? Aber schlafen durften wir nicht. Zum Reden waren wir zu müde. Sich frei zu bewegen war verboten. Jahrelang. Und ich frage euch, in welchem Land dieser Erde ist das gerecht?
Und für was haben wir all das getan? Fünf Jahre, sechs Jahre, acht Jahre, zehn Jahre lang? Für was? Für Mosambik? Für den Sozialismus? Für unsere Familien? Nein, für den Krieg haben wir das getan! Auf diesen Rücken hat die Regierung die Schulden des Bürgerkriegs abbezahlt! Jeder hat bezahlt, während sie unser Land kaputtgemacht haben. Seht uns an. Was fühlten wir, als wir zurückkehrten, fallengelassen wie Dreck, nach der Wiedervereinigung? Waren wir stolz? Gab es Platz für Hoffnung? Nein. Dass der Krieg unser Land zerstört hatte, sahen wir unter den Wolken. Dass die DDR unsere Seelen zerstört hatte, lasen sie in unseren Gesichtern. Unsere Würde liegt in Hoyerswerda und Rostock begraben. Ich konnte nichts anderes tun, als die Toten zu zählen. Weinen konnte ich nicht. Fühlte mich fremd in diesen unseren Straßen. Hilfloser als am Flughafen. In unserem Mosambik, das ich so lange vermisst hatte!
Weil sie mir keine Arbeit gegeben haben, bin ich abtrünnig geworden. Wie so viele von uns. Wir haben die gerechte Sache vergessen. Ein hungriger Mann ist ein wütender Mann. Wir sind Verstoßene im eigenen Land. Ausgegrenzt wie in der DDR. Aber heute weiß ich, es sind nicht meine Nachbarn, die mein Geld gestohlen haben. Es sind nicht meine Brüder, die mich ausgenutzt haben. Es ist niemand in diesen Straßen, der mir das angetan hat. Ihr schleicht wie Hyänen durch die Stadt, und in euren Augen sehe ich immer noch den Krieg. Ich sehe eure Angst und den Hass auf den weißen Mann. Aber vergesst nicht, diese Weißen von heute sind nicht die DDR, diese Weißen haben uns das nicht angetan! Es waren nicht sie, die uns bespuckt und erniedrigt haben. Sie trifft keine Schuld. Diejenigen, die schuldig sind, haben sie längst mit klarem Wasser abgewaschen.
Wir alle waren Opfer zweier Regierungen. Ich sage, vergessen wir unsere Wut gegenüber unseren Brüdern und Schwestern. Vergessen wir unsere Wut gegenüber den Weißen. Aber vergessen wir niemals diese Wut. Was hat die DDR gemacht? Anstatt uns auszubezahlen, schickte sie unserer Regierung fünfundsiebzig Millionen Mark. Eigentlich schickte sie dieses Geld uns allen, allen, die ihr hier seid. Mir. Dir. Jedem Einzelnen von uns. Aber was tat unsere Regierung? Was hat die mit unserem Geld gemacht? Unsere Wut gilt der DDR. Unsere Wut gilt der mosambikanischen Regierung. Sie beide sind die Schuldigen. Das dürfen wir niemals vergessen!
Wie lange kämpfen wir schon für unsere Rechte? Für unsere Familien? Für unser Geld? Dreißig Jahre, fünfunddreißig? Viele von uns wissen es schon selbst nicht mehr. Auch ich bin müde geworden. Schaut euch an. Schaut mich an. Ich sehe eure Kraft. Die Kraft darf uns niemals verlassen. Hören wir nicht auf zu kämpfen, sage ich. Erinnern wir uns an die Gerechtigkeit. Für unsere Zukunft. Für unsere Familien. Für uns. Denn wir sind stolz. Stehen wir auf, sage ich. Stehen wir auf, wir sind Madgermanes!