- Beitritt
- 22.11.2005
- Beiträge
- 993
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 19
Magnus
Liebe Olga,
du bist die Einzige, die ich außerhalb dieser Mauern noch kenne, und der ich vertraue. Mit dir zu arbeiten und Kaffee zu trinken, hat mir immer sehr viel Spaß gemacht. Daher bist du auch die Einzige, der ich die Geschehnisse erzählen möchte, die mich hierhin gebracht haben. Du hast dich bestimmt schon gefragt, wo ich bin, wenn es unsere liebe Chefin, die du hiermit bitte lieb grüßen mögest, nicht schon erzählt hat.
Ich möchte dir die Geschichte so erzählen, wie sie sich wirklich zugetragen hat, ohne Umschweife und Verschönerungen. Entschuldige, wenn das alles etwas durcheinander klingt. Ich bin eben kein Coelho.
Ich hoffe aber trotzdem, dass du den Sachverhalt verstehen und den zuständigen Behörden verständlich machen kannst. Ich tippe diesen Brief nun schon zum fünften Mal. Ich brauche deine Hilfe! Bitte hol mich hier raus. Ich bekomme Tabletten und bin den ganzen Tag müde, es gibt nur schlechte Bücher und niemand redet mit mir. Sie halten mich für verrückt, aber das bin ich nicht.
Also zur Geschichte:
Ich hatte einen Kater. Er hieß Magnus. Ich glaube nicht, dass du ihn gekannt hast. Er ist nicht oft vor die Tür gegangen. Er hatte schwarzes, samtenes Fell und einen kleinen weißen Fleck über dem rechten Auge. Er war, genau wie ich, schon etwas gesetzter, nahm das Leben nicht so auf die harte Schulter, war schwer aus der Ruhe zu kriegen und ging die Dinge gelassen an. Wozu aufregen?
So wenigstens habe ich ihn immer geliebt und geschätzt, bis sich auf einmal alles drastisch änderte.
Früher, da haben wir uns gemeinsam Woody Allen Filme angesehen, Spaziergänge gemacht und zusammen gegessen. Der gute Magnus, der hat mir immer zugehört! Er hat den Kopf zur Seite gelegt und mich verschmust angeschnurrt, wenn ich ihm von meinem Tag und den Leuten berichtet habe, die wieder in der Buchhandlung waren. Manchmal glaubte ich tatsächlich, mein Magnus versteht mich.
Ein erstes Unbehagen überkam mich allerdings, als ich feststellen musste, dass sich mein Magnus in mich verguckt hatte. Oft kam er zu mir an die Badewanne, um mit dem Schaum zu spielen. Wenn ich aus der Wanne stieg, tapste er für gewöhnlich von dannen. Es gab eine Zeit, und im Nachhinein betrachte ich diese Zeit als den Anfang der ganzen Tragödie, da nahm er vor mir Platz, wenn ich mich rasierte. Ich bin mir nicht sicher, aber ich hatte dieses Gefühl. Dieses Gefühl, Magnus wisse ganz genau, was er da sieht. Ich hielt es irgendwie für albern, aber zu dieser Zeit bedeckte ich mich, wenn er zugegen war, oder schloss die Badezimmertür ab.
Wenn ich gewusst hätte, zu was er fähig sein konnte, hätte ich ihn damals abgegeben.
Natürlich war ich bei der Polizei! Aber die haben einen Psychiater vorbeigeschickt und eben keinen Tierbändiger. Und du hättest einmal sehen sollen, wie normal Magnus auf einmal wieder sein konnte, als er vom Psychiater begutachtet wurde. Er ist ihm um die Beine gestrichen! Wie ein ganz normaler Kater, tierisch und klein.
„Du warst also bei der Polizei, du Fotze!“, hat er mich angeschrien und sich wieder auf den Sessel zu seinem Bier gesetzt. Wenig später ist er dann total ausgeflippt. Ich habe die Spuren von seinen Krallen immer noch im Gesicht. „Hast wohl gedacht, ich kann nicht mehr auf harmlosen Kater machen, wie? Aber da hast du dich geschnitten, du Schlampe! Und jetzt hör auf zu flennen und besorg mir meine Mäuse. Wenn du das nicht kannst, dann blas` mir wenigstens einen! … Hure!“
(Bitte entschuldige die schlimmen Wörter)
Er war nicht mehr derselbe kleine Kater, der mir immer zuhörte und mich verstand. Er war rüpelhaft, brutal und ekelig. „Wenn sie klein sind, sind sie noch süß, aber wenn sie groß werden ...“, meinte Sarah, eine damalige gute Bekannte (die später jedoch gegen mich ausgesagt hat), als ich ihr die Narben gezeigt und erzählt habe, welche Grausamkeiten Magnus mit mir anstellte. „Du solltest dich von ihm trennen“, war ihr gut gemeinter Rat. Aber einen Kater wie Magnus kann man nicht einfach zurückgeben. Oft blieb ich länger auf der Arbeit oder lief noch etwas durch Kreuzberg, bevor ich mich nach Hause traute. Oder ich schloss mich im Bad ein. Wenn Magnus betrunken war, war er zu allem fähig.
Mit der Zeit und dem Alkohol war er richtig fett geworden, sein einst schönes schwarzes Fell verblasste und er wurde kahl. Ich ekelte mich vor ihm, wenn ich ihn unterm Kinn kraulen oder an Stellen lecken musste, die ich hier nicht erwähnen möchte. Und gefressen hat er wie ein Scheunendrescher. Ich kam aus dem Kochen gar nicht mehr raus. „Wer soll denn so was fressen, du Fotze! Den Fraß kannste den Streunern vor der Tür vorsetzen, aber nicht mir!“
Es sollte Fisch geben. Nur Fisch. Den ganzen Tag Fisch. Drei Mal am Tag. Und nicht den billigen aus der Tiefkühltruhe! Frisch gefangen, bitteschön! Das ging ganz schön auf den Geldbeutel. Den Fisch hätte das Gehalt aus dem Buchladen noch hergegeben, ich gönnte mir selbst ja schon nichts mehr, aber Magnus versoff alles.
Daher bin ich anschaffen gegangen. Wenn Magnus mich mit einem Freier erwischte, hat er mich immer windelweich geprügelt. Aber noch schlimmer war es, wenn kein Geld für Alkohol mehr da war. Betrunken traf er nicht mehr so gut und war oft zu müde zum Verprügeln. „Such dir selbst einen Job, oder fang deine Mäuse selbst, du mieser Kater“, schrie ich ihn an, als ich von einem besonders brutalen Freier heimkehrte. Danach erinnere ich mich an nichts mehr. Ich wachte nackt und an den Heizkörper gefesselt auf. Von Magnus keine Spur. Kein Schnurren und Schnauben durchhallte die Wohnung. Zwei Tage verbrachte ich an der bis zum Anschlag aufgedrehten Heizung. Die Verbrennungen trage ich noch heute mit mir herum.
Eine Nachbarin hatte meine Schreie vernommen und die Polizei verständigt. Ein Mann, so sagten die Beamten, läge tot im Schlafzimmer, wahrscheinlich am Erbrochenen erstickt. Und einen kleinen Kater haben sie halb verhungert im Badezimmer gefunden. „Dieses Mistvieh! Töten Sie es! Töten Sie ihn!“, schrie ich, durch den Schock wieder im Vollbewusstsein meiner geistigen Kräfte. Aber sie haben ihn nicht getötet. Sie haben ihn in eine Klinik gebracht, dann zu einer neuen Familie. Den Mann habe ich nicht identifizieren können, woraufhin ich hierhin gebracht wurde.
Ja, liebe Olga, ich hoffe, diese Geschichte hat dich nicht zu sehr schockiert. Aber so und nicht anders hat es sich zugetragen. Bitte hilf mir. Ich gehöre nicht hierher. Bitte finde jemanden, der mir helfen kann, hier rauszukommen. Ich würde gerne wieder mit dir im Buchladen arbeiten und Kaffee trinken.
Deine Heike
Liebe Frau Neumann,
diesen Brief schickte Ihnen Frau Kunze am 29. Februar 2009. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass alle Briefe, die von Patienten unserer Nervenheilanstalt verfasst und abgegeben werden, von unseren Therapeuten gelesen werden müssen. Sollten Sie Fragen zum Zustand der Patientin 198, Frau Heike Kunze haben, oder an einer Besuchsstunde interessiert sein, bitte wenden Sie sich an
Frau Eva Schmidt
Freunde des Lebens
Adenauerallee 54
40764 Marsberg
mit freundlichen Grüßen,
Ihre Eva Schmidt/ Marsberg, den 23. April 2009