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Mal sehen ob die schießen
Mal sehen, ob die schießen
Mal sehen, ob die schießen
„Lass uns mal nachsehen was da los ist“, sagte Suresh.
Ich hielt das für keine gute Idee. Aber wie Suresh konnte ich nicht anders. Die Menschenmenge zog mich an. Wir gingen auf den zentralen Kreisverkehr der kleinen Stadt zu. Auf dem Sockel, in der Mitte, wo bis vor wenigen Tagen noch eine Bronzestatue des Königs gestanden hatte, stand nun ein recht lebendiger Redner. Er sprach in Nepali zu den circa einhundert Anwesenden. Ich verstand nur wenig von dem was er sagte, aber das war egal. Überall im Land konnte man in diesen Tagen die selben Reden hören. Sie wurden leidenschaftlich von Studentenführern, Journalisten und Politikern gehalten. Es ging um Demokratie, Demonstrationsfreiheit, Pressefreiheit, um eine neue Regierung und manchmal auch um die Absetzung des Königs.
Suresh und ich kletterten auf eine kleine Mauer um einen besseren Überblick zu gewinnen.
„Dort ist die Militärpolizei“, sagte Suresh. Er deutete auf zwei Seitenstraßen, auf der anderen Seite des Platzes.
Jetzt sah ich es auch. In den kleinen Seitenstraßen standen zivile Lastwagen, die Ladeflächen waren voll mit uniformierten Männern und Frauen. Inzwischen hatten auch andere die Uniformierten bemerkt. Einige deuteten auf die Laster.
„Auf so einem Wagen sind für gewöhnlich zwanzig bis fünfundzwanzig MPs drauf. Zwei Lastwagen sind hier. Im Hauptquartier befinden sich mindestens fünfzig weitere einsatzbereite MPs“, bemerkte ein junger Mann in Englisch, der neben Suresh auf die Mauer geklettert war. Wir musterten ihn und tauschten Blicke aus. Dann sahen wir beide die Hauptstraße hinunter. Wir konnten die ausgebombte Polizeistation sehen und den Beginn des Militärstützpunktes, der einer Festung glich, am Ende der Stadt. Der junge Mann grinste lässig.
„Mal sehen, ob die schießen.“
Suresh und ich wechselten wieder Blicke. Der ist ein Maoist, ein Rebell, dachten wir wohl beide.
Plötzlich flogen Steine im hohen Bogen in die Richtung der Militärpolizei. Ein Stein landete auf dem Dach eines der Lastwagen. Die Männer und Frauen musste nun von den Lastern herunter, wenn sie nicht vom nächsten Stein getroffen werden wollten. Sie verschanzten sich hinter den Lastern. Einige hatten Gewehre, andere Gasflaschen auf dem Rücken. Wieder flogen Steine.
„Idioten“, murmelte ich.
„Wer, die Armee oder die Demonstranten?“ Der Fremde sah mich herausfordernd an.
„Lass uns gehen“, sagte ich zu Suresh.
„Nur noch einen Moment.“ Ich wurde langsam nervös. Die ersten bewegten sich langsam, immer wieder in Richtung der Militärpolizei blickend, vom Platz. Andere gingen ein paar Meter auf die Lastwagen zu und warfen Steine. Ich sprang von der Mauer und Suresh folge meinem Beispiel. Plötzlich rannten alle und wenige Sekunden später fielen Schüsse. Einige Militärpolizisten waren vorgeprescht und schossen in die Menge. Wir rannten los. Die Militärpolizisten rannten der fliehenden Menschenmenge hinterher. Für einen Moment überkam mich Panik. Wohin? Dann sahen wir die Menschen in den umliegenden Ladengeschäften und Hauseingängen verschwinden. Die ersten Roll-Läden wurden schon krachend heruntergelassen. Wir rannten auf einen Sweet-Shop zu. Ein Mann hatte die eiserne Roll-Lade schon auf der Schulter. Ich musste mich bücken um darunter hinein zu schlüpfen. Hinter Suresh und mir wurde auch diese Lade krachend heruntergelassen. Es wurde finster, bis jemand eine Gaslampe anzündete. Der Mann, der die Lade heruntergelassen hatte verband mit einem großen Vorhängeschloss einen Ring am unteren Ende der Roll-Lade mit einem Eisenbügel im Betonboden. Seine Finger zitterten. Dann erhob er sich und lächelte die Menschen, die in seinem Sweet-Shop Zuflucht gefunden hatten, erleichtert an.
Durch den Hintereingang kam ein Junge gerannt, der dem Mann, der die Tür verriegelt hatte, etwas zu rief.
„Was hat er gesagt?“, fragte ich Suresh.
„Die versuchen Tränengas in die Gebäude zu schießen.“
Ein anderer Mann, der bisher gesessen hatte, erhob sich und sagte auf Nepali, dass es besser wäre auf die Dachterrasse zu gehen. Eine Frau antwortete etwas, ich blickte zu Suresh.
„Sie sagt, da sind wir nicht sicher, wenn sie mit Hubschraubern kommen“, übersetzte Suresh.
Plötzlich stand der junge Mann auf, der vorhin mit uns auf der Mauer gestanden hatte. Er sagte etwas zu den Anwesenden in Nepali.
„Das Militär hat hier zur Zeit keine Hubschrauber. Die haben sie alle für die große Offensive in Rolpa abgezogen“, erklärte mir Suresh.
Wir setzten uns langsam in Bewegung. Der Hintereingang führte zu einer Treppe, die bis zur Dachterrasse des zweigeschossigen Hauses führte. Die Brüstung der Terrasse war massiv gemauert, der Aufbau beherbergte die Waschküche. Einige gingen zum Wasserhahn und nahmen einen Schluck. Ich spürte keinen Durst und auch keinen Hunger, obwohl ich schon den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Ich spürte auch die Hitze nicht mehr, obwohl es sicherlich immer noch über 35 Grad waren. Ich setzte mich in den Schatten der Waschküche, mit dem Rücken zur Wand. Suresh und einige andere setzten sich zu mir.
Vor meinem inneren Auge liefen die vergangenen Minuten noch einmal ab. Für einen Moment war es, als wäre ein Alptraum, denn ich schon öfters gehabt hatte, Wirklichkeit geworden. Ich renne gehetzt von bewaffneten Menschen auf eine offene Tür zu um mich im Inneren des Hauses zu verstecken, aber genau vor mir schließt sich die Tür. Normalerweise erwache ich dann mit klopfendem Herz und Schweiß auf der Stirn.
„Die Hitze vor dem Monsun macht die Menschen verrückt im Kopf.“ Die nepalesischen Worte rissen mich aus meinen Gedanken. Die Frau saß mir im Schneidersitz gegenüber. Sie war außer mir die einzige Frau hier auf dem Dach.
„Wenn es nur die Hitze wäre, dann wäre es ja in einigen Tage vorbei“, antwortete ich in Englisch. Die Frau lachte. In Nepali sagte sie: „Ich bin Sita Naupane. Ich bin Ärztin im Krankenhaus hier.“
„Wir sind Suresh und Björk. Wir führen ein paar Kilometer südlich von hier eine Untersuchung durch.“
„Ich habe mich schon gefragt, was eine Weißnase wie Sie hier macht.“ Sita lachte wieder.
„Was machen Sie unter den Demonstranten?“, entgegnete ich.
Sita lächelte schief. „Ich habe nach meinen Sohn Ausschau gehalten, aber er war nicht da. Einmal haben sie ihn bei einer Demonstration festgenommen und zwei Nächte lang auf dem Militärstützpunkt festgehalten. Ich war krank vor Sorge. Er wäre ja nicht der erste, den sie da zu Tode prügeln. Als er wieder zu Hause war habe ich gesagt, wenn er sich noch einmal verhaften lässt, dann schlage ich ihn halb tot, wenn die Armee das nicht getan hat.“
„Nun wäre Ihnen beinahe selbst etwas zugestoßen“, bemerkte ich.
„Mir nicht“, behauptete Frau Naupane. „Ich bin Anästhesistin, die einzige ausgebildete im District. Die Armee ist nicht dumm, die wissen das. Und sie brauchen mich. Sonst wird es in Zukunft sehr schmerzhaft wenn meine Kollegen ihnen im District Hospital die Kugeln rausholen, die ihnen die Maoisten manchmal verpassen.“
Die, die uns zugehört hatten lachten verhalten.
„Die treiben uns durch die Straßen wie Vieh. Das ist nicht richtig“, meinte ein junger Mann, der ganz in der Nähe saß, auf Englisch.
„Letztes mal haben sie sogar versucht Tränengas in das Gebäude des District Hospitals zu schießen. Als ob wir da nicht schon genug Probleme hatten“, fügte Sita Naupane hinzu.
„Was ist schon richtig?“, begann ich. Es war eine rhetorische Frage. „Gestern Morgen haben sie südlich von hier einen Mann auf einer Hochzeitsgesellschaft erschossen. Die Maoisten meine ich, die haben einen Constable erschossen.“ Ich sah von der Ärztin zu dem jungen Mann und dann zu Suresh. „Ist das richtig? Den Trauzeugen auf einer Hochzeit zu erschießen? Vor den Augen seiner Eltern, vor den Augen der jungen Braut und des Bräutigams?“ Ich blickte zu Boden, zwischen meine Füße. Suresh und ich waren an diesem Morgen im Dorf. Wir hatten die Trauer in den Augen der Familie gesehen, die Wut der Nachbarn.
„Ja vielleicht ist es auch noch etwas anderes, dass die Leute verrückt im Kopf macht“, sagte Sita Naupane. „In der Zeitung steht vielleicht: Maoisten erschießen Constable. Oder: Armee nimmt bei Offensive mehrere Maoisten fest, mehrere Rebellen sterben. Aber eigentlich sind es doch junge Männer und Frauen, die ihre eigenen Vettern umbringen. Das muss aufhören.“
„Wie soll es aufhören, wenn niemand weiß wie es angefangen hat?“, antwortete jemand.
Wir saßen auf dem Dach bis die Sonne hinter den Bergen verschwand. Dann verließ jeder das Gebäude und ging seines Weges.