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Maler am Morgen
Es ist sehr früh als die Sonnenstrahlen sich ihren Weg durch die Jalousien ins Schlafzimmer suchen. Ein angenehmes Dämmerlicht breitet sich im Raum aus. Auch die Vögel sind schon wach. Durch das geöffnete Fenster hört der Mann ihr Zwitschern und Trällern im Garten. Sein alter, grauer Hund brummt im Schlaf. Die Welt ist friedlich und ruhig. Leise, vorsichtig, so dass er seine Frau nicht weckt, zieht er die Schublade seines Nachtschränkchens auf. Aus der hintersten Ecke befördert er einen dicken, abgegriffenen Zeichenblock. Die Seiten rascheln beim Blättern. Menschen jeglichen Alters mit meist traurigen, melancholischen Gesichtern ziehen an ihm vorbei. Ein Fachwerkhaus, etwas windschief, ein verlassenes Barockschloss, ein einsamer Hund, eine Reihe knorriger, blattloser Bäume. Er weiß nicht, wie viele bemalte Seiten es sind, als er schließlich ein jungfräuliches Blatt aufschlägt. Der abgegriffene Bleistift beginnt sogleich wie von selbst über das Papier zu huschen. Als bald wild und unkontrolliert fast schon wütend, dann wieder zaghaft und leise krakelt und kritzelt der Stift in seiner Hand. Von Zeit zu Zeit sieht er zu seiner Frau hinüber. Dann hält er inne, wirft einen letzten, prüfenden Blick auf seine Arbeit, klappt den Block zu und legt ihn sorgfältig zurück ins Nachtkästchen.
Er hat längst das Haus verlassen, als seine Frau das Werk in Händen hält. Ihre Augen sind vor Schreck geweitet, als sie erkennt, dass sie selbst es ist, die er da gezeichnet hat. Leicht nach vorne gebeugt steht sie da mit dem Skizzenblock ihres Mannes in der Hand. Er hat ihr nicht geschmeichelt. Das strähnige, viel zu dünne Haar, die kleinen Brüste, die breiten Hüften und nicht zuletzt der teuflische, ja fast besessene Blick, der auf dem Zeichenblock heftet. Das ist keine spielerische Neckerei. Es spricht nichts von Liebe oder Vertrautheit. Er hat sich endlich Luft gemacht.