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Mama, Maria, Papa

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17.09.2002
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Mama, Maria, Papa

Maria war wieder ganz klein. Zusammengekauert saß sie in ihrer alten Höhle hinter der Kommode, den Rücken fest an die Wand gelehnt. Vor zwei Jahren, kurz nach ihrem sechsten Geburtstag, hatte Papa die schwere Kommode weit genug von der Wand gerückt, damit seine Tochter sich dahinter eine gemütliche Höhle bauen konnte. Jetzt hatte Maria die Beine an den Körper gezogen und fest mit ihren Armen umschlungen. Ihr Kinn ruhte in der Mulde, die ihre zusammengepressten Knie bildeten. Sie wollte nicht weinen, aber es war schwer, die Tränen zurückzuhalten. Die feinen Staubpartikel, die sich in ihrer Nase absetzten, juckten. Nur mühsam unterdrückte Maria ein Niesen.
Jetzt nur kein Geräusch machen. Mit etwas Glück würde Papa sie nicht finden. Mit etwas Glück konnte sie noch ein Weilchen in Frieden in ihrer Höhle sitzen.

Durch das leichte T-Shirt fühlte Maria an ihrem Rücken die vertrauten Hubbel der Raufasertapete. Sie nahm den staubigen Geruch der Kommode wahr und als sie den Blick hob, sah sie die Rückwand des Möbelstückes verschwommen vor sich. Daran waren sicher diese blöden Tränen schuld. Langsam löste sie eine Hand und strich mit dem Finger über die splitterigen, hölzernen Unebenheiten.

Trotz ihres Kummers mußte sie lächeln. Wie oft hatte sie sich früher beim Spielen in ihrer Höhle einen dieser ekligen Splitter in den Finger gezogen.

So ein Splitter im Finger war eine Katastrophe gewesen. Weinend, jammernd und schreiend hatte sie jedes Mal zwischen Papas Beinen gestanden, wenn er sich mit Nadel und Pinzette abmühte, den lästigen Fremdkörper zu entfernen.

Und Papa hatte es immer geschafft.

Wenn Maria ehrlich war, dann musste sie zugeben, dass die Schmerzen, die sie bei diesen „Operationen“ zu ertragen gehabt hatte, in keinem angemessenen Verhältnis zu ihrem wilden Schreien und Toben gestanden hatten. – Aber früher war sie ja auch noch klein gewesen und hatte gar nicht gewusst, was Schmerzen waren. Wenn Papa den Splitter schließlich entfernt hatte, war Maria vom vielen Weinen jedes Mal so erschöpft, dass sie schlafen musste.

Bei dem Gedanken an Mama, die ihr schluchzendes Kind auf den Arm genommen und ins Elternschlafzimmer getragen hatte, zitterte Marias Unterlippe. Tonlos summend schaukelte sie ihren Oberkörper vor und zurück, gerade so weit, wie es der knappe Platz zwischen Kinderzimmerwand und Kommode zuließ.

Mama hatte Maria dann immer in das große Ehebett gelegt, das so herrlich nach Mama und Papa geduftet hatte. Schaukelnd dachte Maria daran, wie sie in der tröstlichen Mittelritze gelegen hatte und, eingehüllt von dem vertrauten Mama-und-Papa-Geruch, sehr schnell eingeschlafen war. Oft brachten die Eltern es nicht übers Herz, ihr schlafendes Kind zu wecken, wenn sie selbst später zu Bett gingen, und so kam es, dass Maria manches Mal in der Nacht aufgewacht war und sich in der wunderbaren Ritze liegend wiedergefunden hatte, getröstet und behütet zwischen einer gleichmäßig atmenden Mama und einem leise schnarchenden Papa.

„Maria! – Wo hast du dich denn versteckt?“

Das war Papas Stimme. Maria hielt den Atem an.

Als sie vorhin – vor wenigen Minuten? – vor einer Stunde? – das Klingeln des Telefons gehört hatte, hatte sie sofort gewusst, wer da anrief. Das konnte nur Mama sein. Am Sonntag Nachmittag rief sonst niemand bei Papa an. Maria kannte den Grund für Mamas Anruf. Mama wollte mit ihr, mit Maria sprechen. Und wenn sie jetzt ans Telefon ging und den Hörer ans Ohr hielt, dann würde Mama ihr wieder die schreckliche Frage stellen:

"Soll ich dich um sechs abholen? Möchtest du nach Hause kommen? Oder möchtest du noch bei Papa bleiben?“

Maria wusste, Mama freute sich, wenn Maria wieder zu ihr zurück kam. Und Maria war gerne bei Mama. Mit Mama hatte man immer etwas zum Lachen. Mama konnte so schön vorlesen, am liebsten lustige Bücher. Abends vor dem Einschlafen, las Mama vor, obwohl Maria schon groß war und alleine lesen konnte. Wenn Maria Mamas Stimme hörte, dann schlief sie beruhigt ein. Bei Mama war Maria zu Hause.

Papa hatte es ebenfalls gern, wenn Maria bei ihm war. Er war so stark. Manchmal trug er Maria sogar noch Huckepack, obwohl sie gar kein Baby mehr war. Maria war auch gerne bei Papa. Mit Papa konnte sie stundenlang spielen und reden. Papa spielte Marias Lieblingslieder auf der Gitarre und sang dazu mit dröhnender Stimme. Bei Papa war Maria zu Hause.

Diesmal steckte der Splitter nicht in Marias Finger. Diesmal steckte er an einer ganz anderen Stelle und Papa konnte ihn nicht mit Nadel und Pinzette entfernen ...

 
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Hallo al-dente,

für manche Splitter im Herzen hilft nicht einmal die Pinzette Liebe. Denn was nützt es einem Kind, wenn die Mama es liebt, wenn der Papa es liebt, sich aber Papa und Mama nicht mehr lieben? Und wenn die Kinder sich dann entscheiden müssen, wen sie mehr lieben.

Zu Beginn deiner Geschichte hast du mich aufs Glatteis geführt. Du hast deine Geschichte aufgebaut, wie einen körperlichen Gewaltakt. Und natürlich wirkt sich die Last der Scheidung auch körperlich aus.

Ich hoffe, deine Geschichte nun nicht völlig missverstanden zu haben.

So wie ich sie gelesen habe, hat sie mir jedenfalls gut gefallen.

Lieben Gruß, sim

 

Und wieder einmal bist Du erstaunlich schnell, lieber sim.
Wie schön, dass Dir die Geschichte gefallen hat und wie schön, dass ich Dich aufs Glatteis führen konnte - denn genau das wollte ich.

Liebe Grüße
und bis nächste Woche
Barbara

 

Liebe Barbara!

Auch mir hat Deine Geschichte sehr gut gefallen. :)

Sie zeigt die Zerrissenheit, den Loyalitätskonflikt, in den Maria durch die Scheidung gebracht wird. Beide Eltern wollen sie bei sich und wenn sie sich für einen entscheidet, tut sie dem anderen damit weh, und sich selbst am meisten...
Genau wie die Erinnerungen an bessere Zeiten, die auch nur mehr weh tun können.

Geschrieben von Marius Manis:

Nur die Hubbel der Tapete wirken auf mich ziemlich groß - der Rücken ist sehr unempfindlich. Man kann nichtmal erkennen, wieviele Fingerspitzen einer Hand ein Bekannter einem auf den Rücken drückt.

Hast Du Hornhaut am Rücken? :shy: ;)
Also mich hat das nicht gestört, diese Raufaserdinger können manchmal ziemlich spitz sein, und das spürt zumindest ein Kinderrücken...:)

Alles Liebe,
Susi :)

 

Hallo al-dente,

Deine Geschichte macht einmal mehr klar, daß Kinder die wirklich Leidtragenden einer Trennung sind. Ein besonderer Kunstgriff ist Dir auch gelungen, Sim hat ihn ebenfalls bemerkt, ich hatte das Gefühl, daß Maria körperliche Gewalt angetan wurde. Auch wenn dem nicht so ist, wird einem doch klar wir schrecklich Maria ihre Situation zwischen allen Stühlen empfindet. Um so schlimmer, da dieser Zustand in den meisten Fällen unabänderlich sein dürfte.
Eine bewegende Geschichte.

Viele Grüße
chianello

 

Hallo Ihr Vier!

Ich habe mich sehr gefreut, dass Ihr meine Geschichte gelesen habt und dass sie Euch gefiel! :)

@Marius Manis
Als ich ein Kind war, habe ich mich immer mit dem Rücken an die Raufasertapetenwand gelehnt und mit geschlossenen Augen die Stelle "erfühlt", an der sich mein Rücken gerade befand - vielleicht ist Dein Rücken unempfindlicher, als meiner es damals war? :D

@Susi
Über Deinen Kommentar habe ich mich besonders gefreut - weil Du nämlich gar keine Rechtschreibfehler oder Ähnliches zu bemängeln hattest und das will wirklich etwas heißen. :D
Ich wollte zeigen, dass auch die Kinder sehr leiden, deren Eltern sich "im Guten" trennen und nicht versuchen, die Kinder gegen den anderen aufzuhetzen ...

@chianello
Auch Du hast den "Kunstgriff" bemerkt. Ich bin davon überzeugt, dass das, was Maria angetan wird mindestens so schlimm ist, wie körperliche Gewalt.
Dein letzter Satz hat mich gerührt. Danke.

Liebe Grüße
Euch allen
Barbara

 

Hallo liebe Al-dente,
sehr schöne Geschichte, kann mich den Vorrednern nur mit Lob anschließen.
Allerdings möchte ich als geschiedene Mutter einer Tochter eine Lanze für die Scheidung brechen.
Weil ich meinen Kind das Scheiden nicht antun wollte, habe ich lange damit gewartet. Mein Kind hat natürlich unter der Scheidung gelitten, aber hätte es mit "heimlich" zerstrittenen, sich nicht liebenden Eltern nicht mehr Schaden genommen?
Frohe Ostern, Damaris :-)

 

Hallo Damaris,

wie nett, dass du diese sechs Jahre alte Geschichte noch einmal hervorgeholt hast!
Ich habe mich natürlich darüber gefreut, dass dir die alte Geschichte gefällt. :)

Du hast natürlich recht - ein Leben mit den unterschwellig total zerstrittenen Eltern wird für ein Kind genauso quälend oder sogar noch quälender sein.
Aber ich wollte damals mit meiner Geschichte ganz sicher nicht entscheiden, welches der bessere Weg ist, Trennung oder zusammen Ausharren. Ich wollte nur zeigen, dass eine Trennung selbst dann, wenn sie einvernehmlich und friedlich verläuft, für das Kind schwierig ist.

Ich bin dir übrigens richtig dankbar fürs Geschichte ausgraben! Ohne dies hätte ich diese Geschichte vermutlich nicht noch einmal gelesen und so konnte ich nun aber feststellen, dass ich mich beim Erzählen damals ein wenig im Ton vergriffen habe. Maria soll offenbar zwölf Jahre alt sein, aber ich habe aus Marias Sicht in einem Erzählton für deutlich jüngere (circa acht Jahre alte) Kinder geschrieben. Darüber werde ich mir jetzt auf jeden Fall noch einmal Gedanken machen. Vermutlich mache ich Maria einfach ein bisschen jünger.

Viele Grüße
al-dente

 

Hallo al-dente,
stimmt. Ich habe sie auch für jünger gehalten. Für eine 12-jährige müsstest Du die ganze Geschichte ändern und das fände ich schade.
VlG Damaris :-)

 

Hallo Damaris (falls du dies hier noch einmal liest :)),

jetzt ist Maria deutlich jünger und ich finde, das passt viel besser :).

Gruß
al-dente

 

Hallo al-dente,

und schön, dass jemand die Geschichte hoch geholt hat.

Sie ist ja schon ganz schön bedrückend. Das arme Kind, denkt man die ganze Zeit. Deshalb kann ich auch den letzten Satz nicht leiden. Der ist mir eine Spur zu ... na Du weißt schon.

So ein Splitter im Finger war eine Katastrophe gewesen.
...
Und Papa hatte es immer geschafft.
...
zwischen einer gleichmäßig atmenden Mama und einem leise schnarchenden Papa.
...
Und wenn sie jetzt ans Telefon ging und den Hörer ans Ohr hielt, dann würde Mama ihr wieder die schreckliche Frage stellen:
...
Bei Mama war Maria zu Hause.
...
Bei Papa war Maria zu Hause.

Das sind für mich die emotionalsten Sätze der ganzen Geschichte. Und dabei sind sie so kurz und einfach gestrickt. Das ist echt schön.

Gern gelesen und gerührt
Fliege

 

Liebe Fliege,

wie schön, dass du diese alte Geschichte gelesen hast! Das hat mich gerührt. :)

Ich habe den letzten Satz jetzt gleich noch ein paarmal gelesen und - ja - vielleicht hast du recht, ein wenig dick aufgetragen ...
Aber einfach nur weglassen? Ich weiß noch nicht so richtig. Ich denke einfach mal noch ein wenig darüber nach :D

Danke fürs Lesen und das Lob!

Liebe Grüße
al-dente

 

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