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Mama, Maria, Papa
Maria war wieder ganz klein. Zusammengekauert saß sie in ihrer alten Höhle hinter der Kommode, den Rücken fest an die Wand gelehnt. Vor zwei Jahren, kurz nach ihrem sechsten Geburtstag, hatte Papa die schwere Kommode weit genug von der Wand gerückt, damit seine Tochter sich dahinter eine gemütliche Höhle bauen konnte. Jetzt hatte Maria die Beine an den Körper gezogen und fest mit ihren Armen umschlungen. Ihr Kinn ruhte in der Mulde, die ihre zusammengepressten Knie bildeten. Sie wollte nicht weinen, aber es war schwer, die Tränen zurückzuhalten. Die feinen Staubpartikel, die sich in ihrer Nase absetzten, juckten. Nur mühsam unterdrückte Maria ein Niesen.
Jetzt nur kein Geräusch machen. Mit etwas Glück würde Papa sie nicht finden. Mit etwas Glück konnte sie noch ein Weilchen in Frieden in ihrer Höhle sitzen.
Durch das leichte T-Shirt fühlte Maria an ihrem Rücken die vertrauten Hubbel der Raufasertapete. Sie nahm den staubigen Geruch der Kommode wahr und als sie den Blick hob, sah sie die Rückwand des Möbelstückes verschwommen vor sich. Daran waren sicher diese blöden Tränen schuld. Langsam löste sie eine Hand und strich mit dem Finger über die splitterigen, hölzernen Unebenheiten.
Trotz ihres Kummers mußte sie lächeln. Wie oft hatte sie sich früher beim Spielen in ihrer Höhle einen dieser ekligen Splitter in den Finger gezogen.
So ein Splitter im Finger war eine Katastrophe gewesen. Weinend, jammernd und schreiend hatte sie jedes Mal zwischen Papas Beinen gestanden, wenn er sich mit Nadel und Pinzette abmühte, den lästigen Fremdkörper zu entfernen.
Und Papa hatte es immer geschafft.
Wenn Maria ehrlich war, dann musste sie zugeben, dass die Schmerzen, die sie bei diesen „Operationen“ zu ertragen gehabt hatte, in keinem angemessenen Verhältnis zu ihrem wilden Schreien und Toben gestanden hatten. – Aber früher war sie ja auch noch klein gewesen und hatte gar nicht gewusst, was Schmerzen waren. Wenn Papa den Splitter schließlich entfernt hatte, war Maria vom vielen Weinen jedes Mal so erschöpft, dass sie schlafen musste.
Bei dem Gedanken an Mama, die ihr schluchzendes Kind auf den Arm genommen und ins Elternschlafzimmer getragen hatte, zitterte Marias Unterlippe. Tonlos summend schaukelte sie ihren Oberkörper vor und zurück, gerade so weit, wie es der knappe Platz zwischen Kinderzimmerwand und Kommode zuließ.
Mama hatte Maria dann immer in das große Ehebett gelegt, das so herrlich nach Mama und Papa geduftet hatte. Schaukelnd dachte Maria daran, wie sie in der tröstlichen Mittelritze gelegen hatte und, eingehüllt von dem vertrauten Mama-und-Papa-Geruch, sehr schnell eingeschlafen war. Oft brachten die Eltern es nicht übers Herz, ihr schlafendes Kind zu wecken, wenn sie selbst später zu Bett gingen, und so kam es, dass Maria manches Mal in der Nacht aufgewacht war und sich in der wunderbaren Ritze liegend wiedergefunden hatte, getröstet und behütet zwischen einer gleichmäßig atmenden Mama und einem leise schnarchenden Papa.
„Maria! – Wo hast du dich denn versteckt?“
Das war Papas Stimme. Maria hielt den Atem an.
Als sie vorhin – vor wenigen Minuten? – vor einer Stunde? – das Klingeln des Telefons gehört hatte, hatte sie sofort gewusst, wer da anrief. Das konnte nur Mama sein. Am Sonntag Nachmittag rief sonst niemand bei Papa an. Maria kannte den Grund für Mamas Anruf. Mama wollte mit ihr, mit Maria sprechen. Und wenn sie jetzt ans Telefon ging und den Hörer ans Ohr hielt, dann würde Mama ihr wieder die schreckliche Frage stellen:
"Soll ich dich um sechs abholen? Möchtest du nach Hause kommen? Oder möchtest du noch bei Papa bleiben?“
Maria wusste, Mama freute sich, wenn Maria wieder zu ihr zurück kam. Und Maria war gerne bei Mama. Mit Mama hatte man immer etwas zum Lachen. Mama konnte so schön vorlesen, am liebsten lustige Bücher. Abends vor dem Einschlafen, las Mama vor, obwohl Maria schon groß war und alleine lesen konnte. Wenn Maria Mamas Stimme hörte, dann schlief sie beruhigt ein. Bei Mama war Maria zu Hause.
Papa hatte es ebenfalls gern, wenn Maria bei ihm war. Er war so stark. Manchmal trug er Maria sogar noch Huckepack, obwohl sie gar kein Baby mehr war. Maria war auch gerne bei Papa. Mit Papa konnte sie stundenlang spielen und reden. Papa spielte Marias Lieblingslieder auf der Gitarre und sang dazu mit dröhnender Stimme. Bei Papa war Maria zu Hause.
Diesmal steckte der Splitter nicht in Marias Finger. Diesmal steckte er an einer ganz anderen Stelle und Papa konnte ihn nicht mit Nadel und Pinzette entfernen ...