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Manche, die haben halt gar nichts
Der Mann im abgetragenen Mantel nimmt eine Wasserflasche aus seiner großen Umhängetasche und schüttet einen Schluck daraus in den Mülleimer. Misstrauisch schaut er durch den Einwurf. Er steckt den Arm in den Behälter und durchwühlt den Inhalt.
Ich vermute, er hat sich einmal die Finger verbrannt, es gibt Raucher, die ihre Kippen, ohne sie vorher auszudrücken, in den Eimer werfen. Ich beobachte ihn, frage mich, was hat diesen Mann dazu gebracht, im Müll herumzuwühlen? Wann hat er sein Schamgefühl, seine Hemmungen verloren? Er zieht die Hand wieder aus dem Abfallbehälter. Hebt den Kopf, schaut in meine Richtung, unsere Blicke treffen sich. Es ist nicht er, der peinlich berührt, den Kopf senkt. Er hat nichts gefunden, geht weiter.
Vorbei an meiner kleinen Verkaufshütte, weiter durch den verschneiten Weihnachtsmarkt.
Da ist die kleine, alte Frau mit ihrer großen, bunt geblümten Einkaufstasche. Sie schiebt einen Gehwagen vor sich her. Es ist der Abfallbehälter vor H&M, an dem sie stehen bleibt. Mit einem Schlüssel öffnet sie ihn, sucht in dem Wohlstandsmüll nach Pfandflaschen.
Ich schaue in meine Tasche, da muss doch noch irgendwo eine leere PET-Flasche sein.
Lächelnd grüße ich die Frau und gebe sie ihr.
"Danke, das ist aber nett."
„Ich habe Sie schon oft gesehen und mich gefragt, warum Sie einen Schlüssel für den Behälter haben?“
Sie lächelt zurück, und ihr Blick sucht meine Augen, als sie zu erzählen beginnt. „Wissen Sie, ich sammle diese Flaschen nicht für mich, ich sammle sie fürs Hospiz. Am Ende des Monats bringe ich mein Pfandgeld dorthin."
„Warum behalten Sie das Geld nicht für sich?“
„Für mich?" Warum sollte ich es behalten?" Ich bekomme eine Witwenrente, das reicht, mehr brauche ich nicht. Das Hospiz aber braucht Spendengelder. Die Schwestern dort sind nett und nehmen sich Zeit für die Patienten."
Ihre Augen füllen sich mit Tränen und leise sagt sie: „Mein Mann ist da gestorben. Ich hab ihn jeden Tag besucht und den Schwestern geholfen. So kann ich jetzt noch etwas tun. Die Pflegerinnen können das Geld gut für die Leute brauchen, die nicht so viel haben. Ihnen einen Schlafanzug oder mal was zum Naschen kaufen. Jetzt, an Weihnachten auch mal ein kleines Geschenk." Sie hebt die Schultern, lässt sie wie von einer Last nach unten gedrückt wieder fallen. „Manche, die haben halt gar nichts.“
Sorgsam schließt sie den Abfalleimer ab. „Auf Wiedersehen!“
Sie schiebt ihr Wägelchen weiter.
Jeden Abend steht ein junger Mann am Kinderkarussell. Er singt die Kinderlieder mit, abgehackt, laut, unverständlich. Begleitet von einem taumelnden Tanz vor und zurück im Rhythmus der Musik.
Er unterbricht seine Bewegungen, spricht Passanten an. Während er eine imaginäre Zigarette zwischen Zeige- und Ringfinger zum Mund führt, bettelt er. Glück gehabt. Ein Raucher spendet ihm Zigarette und Feuer. Lächelnd und lange, inhaliert er den Rauch. Wühlt im Abfalleimer nach Pfandflaschen. Ohne Angst vor einem Diebstahl, stellt er die beiden gefundenen Flaschen vor einem Schaufenster ab. Er kommt zu mir.
„Ha… ha… hast du du sch....sch… schon WEI hh nachtss pätzchen gebacken?“ Ich muss mich sehr anstrengen, um ihn zu verstehen.
„Ja!" Ich lächle ihn an.
Er antwortet mit einem strahlenden Lächeln.
Ich sehe an dem jungen Mann vorbei und erkenne eine Pfandflaschensammlerin, die hastig die beiden Flaschen in ihre Plastiktüte steckt.
Er folgt meinem Blick, dreht sich ebenfalls um. Ein lautes, langgezogenes, unartikuliertes Schreien begleitet ihn, als er auf die Frau zustürmt.
Wie erstarrt steht sie da, die Plastiktüte mit beiden Händen fest an ihre Brust gedrückt. Er zerrt an der Tüte, will seine Flaschen zurück.
„Es sind nicht deine Flaschen!“, versucht die Frau ihm zu erklären.
Sie will fliehen, doch der Mann zerrt sie an der Tasche zurück. Schlägt nach ihr. „Böse Diebin!" Er reißt an den Flaschen.
Glühweintrinker an runden Tischen beobachten die Szene.
Eine Verkäuferin aus dem nahen Geschäft will der alten Frau helfen, versucht sie in den zu Laden ziehen.
Der Junge ist stärker, wehrt sich dagegen, hält die Tasche fest. Schlägt wieder nach der Frau. Die schützend das Gesicht abwendet. Ich nehme einen Euro aus der Kasse, laufe zu dem jungen Mann und streckte ihm das Geld hin. Das ist für die Pfandflaschen, aber jetzt lass die Frau in Ruhe.“
Mit groß aufgerissenen Augen blickt er mich an. Es dauert eine Weile, bis er versteht. Dann greift er nach dem Euro, geht zurück ans Kinderkarussell.
Und ich höre ihn, mit seinem unverständlichen Singsang, taumelnd vor und zurück: „Kleine Kerze leuchte.“singen
Ein Mann kommt auf mich zu, auf seiner Jacke steht ORDNUNGSAMT.
„Stört der Behinderte die Kinder, belästigt er Sie?"
„Nein, es ist alles gut.“