Marie-Laures Geburt
Jonathan stand da, mitten im Kreissaal, hielt seine frisch geborene Tochter im Arm und liess sie an seinem Finger nuckeln, während er auf die Schwester wartete, die Babymilch bringen wollte. Nach all der Aufregung und wirren Hektik war es nun seltsam ruhig im Raum. Die Angst, die Alarmiertheit, das verzweifelte „Sein-Bestes-Geben“ hat sich erstaunlich schnell in Niedergedrücktheit verwandelt. Wie eine Glühbirne, die noch einmal hell aufleuchtet, bevor sie erlischt.
„Hier“, sagte die Schwester leise und drückte Jonathan eine körperwarme Schnullerflasche mit einer weissen Flüssigkeit in die Hand. Behutsam zog er den Finger mit einem leisen Plopp aus dem winzigen, zahnlosen Mund und schob stattdessen den Gummiaufsatz der Flasche hinein. Gierig begann das kleine Ding zu trinken.
„Ihre erste Mahlzeit“, sagte Jonathan leise und schaffte es, zu lächeln. Glück und Trauer waren die überwältigendsten Gefühle und beide überfluteten ihn jetzt in voller Stärke. Das erlebt wohl auch nicht jeder, dachte er benommen, gleichzeitig der traurigste und der glücklichste Mensch auf Erden zu sein. Er schniefte und die Tränen liefen ihm über die Wangen; er konnte sich nicht entscheiden, ob er lachen oder weinen sollte; oder ob er vor Glück oder vor Trauer weinen sollte. Das Resultat war ein Gemisch, bei dem von allem etwas dabei war.
Die Schwester, die neben ihm stehen geblieben war, legte ihm behutsam die Hand auf die Schulter. Die Hebamme, der Arzt, ein Pfleger und noch eine Schwester standen betroffen da. Marianne hatten sie mit einem weissen Tuch abgedeckt. Die Schwester schniefte, der Pfleger rieb sich die Augen und der Arzt verbarg seufzend das Gesicht in den Händen. Schliesslich blickte er auf, kam einen Schritt auf Jonathan zu und legte ihm tröstend die Hand auf die noch freie Schulter.
„Es tut uns allen sehr Leid, Herr Pucchelli“, sagte er mit belegter, für einmal nicht so raumfüllender Stimme. „Es haben alle ihr Bestes gegeben, das versichere ich ihnen. Aber die Natur hat es einfach nicht so gewollt.“
„Schon gut, ich…“, brachte Jonathan mit halb erstickter Stimme zwischen zwei Schluchzern hervor. „Es geht schon…“
„Wollen Sie sich setzen?“, Die Schwester dirigierte ihn zu einem Stuhl und er setzte sich, sorgsam darauf achtend, die Stösse auf seine kleine Tochter abzudämpfen, die inzwischen schon das halbe Fläschchen leer getrunken hatte. „Im Sitzen geht es besser zu…“, ein unsicheres Lächeln huschte über ihr Gesicht „…stillen?“
„Danke für den Tipp“, schniefte Jonathan und lächelte tapfer zurück. Während er dasass und dem winzigen Menschlein zusah, wie es die künstliche Babymilch in sich hineinsog und dabei die Händchen fest zu Fäusten zusammenballte, klang die Gefühlsflut langsam ab. Es fühlte sich an, wie wenn man nach einem heftigen Unwetter in der Sonne stand und langsam trocknete.
Marianne, die erste und einzige, die ihn geliebt hatte; die erste und einzige, die ihn geküsst hatte; die erste und einzige, die ein Kind von ihm bekommen hatte – nach all diesen ersten und einzigen Malen ist sie nun einfach gegangen, als hätte sie exakt dafür gelebt. Jonathan seufzte zittrig und betrachtete seine Tochter. Während sie emsig das Fläschchen leerte, gab der Arzt ein paar gedämpfte Anweisungen, worauf einer nach dem anderen aus dem Kreissaal verschwand, bis nur noch der Arzt und die Schwester, die Milch gebracht hatte, blieben.
„Muss ich jetzt…?“ Jonathan sah hilfesuchend zu der Schwester hinüber, als das Fläschchen leer war. Die Schwester lächelte.
„Einfach an die Brust halten, so dass sie über die Schulter sehen kann, vorsichtig etwas klopfen“, sie machte die Bewegung mit den Händen vor, „eigentlich genau so, wie man es immer sieht. Jonathan befolgte ihre Anweisungen und brachte die Kleine vorsichtig in die richtige Position.
„Sie können sie ruhig etwas fester halten, Säuglinge sind zäher als sie aussehen – wie Gummi“, erklärte sie und lachte.
„Gut zu wissen“, meinte Jonathan, während er seiner Tochter sanft auf den Rücken klopfte.
Der Arzt zog sich einen Stuhl heran und setzte sich Jonathan gegenüber hin.
„Also, Herr Pucchelli“, begann er. „Erstmal, wie fühlen sie sich?“
„Das ist schwer zu beschreiben…“, überlegte Jonathan und horchte aufmerksam in sich hinein. „Irgendwie wie nach einem Dauerlauf. Nur dass ich anstatt zu laufen ge… gefühlt habe – irgendwie erschöpft, aber erleichtert und doch zu keiner Bewegung mehr fähig…“
„Aber Sie denken, Sie werden… das… verkraften?“, fragte der Arzt. Jonathan verspürte jäh wieder den Drang, zu weinen, beim Gedanken an Marianne, allerdings nickte er entschlossen.
„Werde ich. Ich bin…“, er lächelte schniefend und warf der Schwester einen Blick zu, „…zäher als ich aussehe.“
„Sie sind wirklich tapfer“, meinte der Arzt anerkennend. „Aber falls Sie Hilfe brauchen, wir haben gute Seelsorger, die sich gern um Sie kümmern würden. Und wenn Sie Hilfe mit dem Baby brauchen – Madeleine steht Ihnen mit Rat und Tat zur Seite.“ Er deutete auf die Schwester, die daraufhin Jonathan ermutigend anlächelte.
„Und nun zu ein paar organisatorischen Sachen mit dem Baby“, fuhr der Arzt fort und holte einige Unterlagen hervor. „Ich habe hier die Geburtsurkunde und mir fehlt noch ein Name für das Mädchen…“
„Marie-Laure“, sagte Jonathan ohne zu zögern. Es war der Name, den er mit Marianne ausgemacht hatte – gerade vor ein paar Tagen hatten sie sich darauf geeinigt. Während er den Namen nannte, stieg ein wunderbares Gefühl in ihm hoch wie eine Rakete: Er war Vater! Dieses kleine Ding, das er da gegen seine Brust drückte war tatsächlich seine Tochter. Seine und Mariannes Tochter Marie-Laure. Seine Freude wurde einzig von dem Gedanken gedämpft, dass Marianne nun nicht mehr dabei war.
Der Arzt schrieb den Namen auf das Formular und fuhr dann fort: „Gut! Nun, wir würden die kleine Marie-Laure gerne noch ein, zwei Tage hier behalten und beobachten, wie sie sich entwickelt. Normalerweise behalten wir die Mutter ebenso lange da, weil sie sich sowieso noch von der Geburt erholen muss… Aber, na ja, Sie… Sie sind schliesslich der Vater… Natürlich kümmern wir uns gerne um das Kind, aber es wäre natürlich gut, wenn Sie es besuchen würden, damit es eine Bindung zu Ihnen aufbauen kann… Wenn Sie wollen, können Sie auch hier bleiben. Wir finden bestimmt ein Bett für Sie…“
Und so kam es, dass Jonathan als Mann, der sich dauerhaft in der Babyabteilung aufhielt, innerhalb dieser zwei Tage zu einer kleinen Attraktion wurde. Trotz des Arztgeheimnisses verbreitete sich die tragische Geschichte um die kleine Marie-Laure unweigerlich und Schwestern, Putzfrauen, werdende und frischgebackene Mütter standen ihm gleichsam bei. In dieser Gesellschaft lernte er zudem rasch den Umgang mit Säuglingen, denn jede fühlte sich als Frau mit Mutterinstinkten verpflichtet, ihm, als in dieser Hinsicht hilflosen Vater, zu helfen.
Das war die Geschichte von Marie.Laures Geburt.