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Marionette
Endlich! Vater ist zur Post gefahren. Ich schleiche über den Flur, verharre vor Alejandros Zimmertür, drücke die Klinke herunter, husche in den Raum und schließe die Tür leise hinter mir. Manchmal habe ich es satt, Dinge hinter Vaters Rücken zu tun, aber hey … Ich muss schauen, wo ich bleibe. In Alejandros Zimmer habe ich das Gefühl ihm nahe zu sein. Ich setze mich an den Schreibtisch, öffne die oberste Schublade und ziehe den Zeichenblock hervor, lege ihn auf die Knie und blättere die Skizzen durch. Wie immer halte ich auf Seite 27 inne, meinem Lieblingsbild. Ich lächle, während meine Finger den Rio Azul entlanggleiten, der in herrlichen Türkistönen schillert. Der strahlend blaue Himmel, die Vögel, die mit weit gespreizten Schwingen über den Horizont schweben. Wenn ich die Augen schließe, bin ich mitten in der Natur. Ich höre das Zirpen der Grillen, schmecke die Gischt auf der Zunge, atme den leichten Fischgeruch ein. An diesen Platz ist Alejandro immer mit seinem besten Kumpel José zum Angeln gefahren. Die zwei Unzertrennlichen, der Polizist und sein Bewunderer. Ich habe Alejandros Worte noch im Ohr: „Wenn ich nur so sein könnte wie José. Erfolgreich, beliebt. Er braucht sich keine Gedanken darüber zu machen, ob sein Vater stolz auf ihn ist. Von ihm kann ich lernen. Er ist mein Vorbild.“
Mit Tränen in den Augen klappe ich den Block zu, verstaue ihn in der Schublade, gehe hinüber zu Alejandros Bett und lege mich auf die Matratze. Mutter hat Bettwäsche, Kissen und Laken im Schrank verstaut. Trotz der Sterilität in diesem Zimmer kann ich ihn spüren. Ich höre das herzhafte Lachen, das tief aus dem Bauch kommt. Ich fühle seine Hände, die mich kitzeln, halten, trösten und ich rieche den Duft seines Lieblingsparfums Jean Gaultiers „Le Male“, der mir stets Geborgenheit vermittelt hat. Meine Finger umklammern den Delphinanhänger, den er mir zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt hat. Ach, Alex, du fehlst mir. Gestern war es ein Jahr. Du hast mir versprochen, bald zurückzukommen. Wo steckst du? Ich sehe ihn vor mir, die Sporttasche mit dem Nötigsten in der Hand. Ein letzter Kuss auf die Stirn, dann war er weg mit dem Versprechen bald wieder zu kommen. Er hat gelogen. Ich schluchze, verberge das Gesicht in den Händen. Die Enttäuschung wühlt in meinen Eingeweiden.
Schritte reißen mich aus den Gedanken. Die Türklinke wird heruntergedrückt, Mutter betritt den Raum, setzt sich an die Bettkante. Der Rock raschelt, als sie die Hände in den Schoß legt. „Was machst du in Alejandros Zimmer? Du weißt, dass dein Vater das nicht ausstehen kann. Reiz ihn nicht ständig.“
Ich richte mich auf, wische mir die Tränen ab. „Kannst du mich nicht verstehen? Ich vermisse Alex. Fragst du dich nicht, wo er gerade ist, wie es ihm geht, was er tut? Hast du keine Sehnsucht nach ihm?“
Sie schüttelt den Kopf. Ein unwilliges Schulterzucken, die Falte zwischen ihren Augenbrauen vertieft sich. „Er hat es so gewollt. Dein Bruder ist ein Egoist. Einfach gegangen ist er. Hat uns nur diese hingekritzelten Worte hinterlassen, dass wir nicht nach ihm suchen sollen. Bitte schön! Warum soll ich mir seinetwegen den Kopf zermartern?“
„Wie kannst du so kalt sein?“ Ich balle die Hände zu Fäusten. „Vater hat dich angesteckt.“
„Unser Leben war ihm nicht gut genug. Alejandro wollte Abenteuer, darum ist er gegangen. Und jetzt ist Schluss mit dem Thema. Dein Vater und ich sind bei den Martinez´ zum Geburtstagsessen eingeladen. Würdest du bitte die Tomaten im Garten pflücken?“ Mit diesen Worten erhebt sie sich, zieht den Haargummi straff und verlässt das Zimmer.
Ich stehe auf, trete ans Fenster, sehe Mutter nach draußen gehen. Vater wartet im Wagen. Der verbeulte Ford Fiesta stößt eine Rauchwolke aus, dann verschwindet er um die nächste Ecke. Gut, dass sie weg sind. Ich lehne mich an die Wand, versinke in Erinnerungen. Eine Szene kristallisiert sich heraus:
Mutter mit verschränkten Armen im Wohnzimmer neben der Couch. Vater, der die Beine hochgelegt hat und eine Sportsendung anschaut.
„Was ist nur aus dir geworden, Juan? Wir hatten es einmal schön miteinander.“
„Was zur Hölle hast du für Probleme, Weib?“, schreit er ungehalten. „Mangelt es dir an etwas? Wir haben jeden Tag Essen auf dem Tisch, wir haben Kleidung, ich gehe arbeiten, reiße mir den Arsch für die Familie auf. Wir haben ein Haus, einen Garten. Und so dankst du es mir?“
Aus ihren Wangen weicht die Farbe, ihre Lippen zittern. „Dir ist alles egal. Wann hast du mich das letzte Mal geküsst? Mit mir geschlafen? Ich bin vierundvierzig. Soll das alles gewesen sein?“
Er rauft sich die Haare. „Wir haben früh geheiratet, weil du schwanger warst. Und mal ehrlich …“ Er lacht boshaft, zeigt mit dem Finger auf sie. „Hast du in letzter Zeit in den Spiegel geschaut? Du lässt dich gehen. Gib dir Mühe. Vielleicht bekomme ich dann ja wieder Lust, dich anzufassen.“
Sie versteift sich, ihr Gesicht gleicht einer Maske. „Was ist mit den Kindern? Ständig müssen sie deine Launen ausbaden.“
Er kneift die Augen zusammen, eine steile Falte erscheint auf seiner Stirn. Immer wieder dreht er die Fernbedienung in den Händen hin und her. Er ist kurz vor der Explosion. „Ich habe mir dieses Leben nicht ausgesucht. Wärst du nicht schwanger geworden, dann wäre ich jetzt als Pilot unterwegs, würde die Welt erkunden.“ Sein Gesicht wird feuerrot, während er die Worte förmlich ausspeit. „Dann …“ Er hält kurz inne, erhebt sich, baut sich vor ihr auf, packt sie an den Schultern, schüttelt sie. „Willst du wirklich die Wahrheit wissen? Kannst du sie ertragen?“
Sie senkt den Kopf, ihre Finger krampfen sich ineinander.
„Ich hasse Alejandro!“, zischt er. „Kann den Jungen nicht um mich haben. Wäre er nicht auf die Welt gekommen, wäre ich ein freier Mann.“
„Du gibst deinem Sohn die Schuld? Ernsthaft?“, wispert sie.
„Genau“, erwidert er kalt. „Ich sehe keine Perspektive. Tag ein, Tag aus derselbe Ablauf. Ich arbeite, trinke mein Feierabendbier, sonntags geht es in die Kirche. Das ist kein erfülltes Leben für einen Mann. Hättest du ihn nur nie zur Welt gebracht.“
„Du bist verbittert! Hörst du eigentlich, was du da redest? Wer hat dich davon abgehalten Pilot zu werden? Das warst du selbst!“
"Dass ich nicht lache! Und wer hätte die Rechnungen bezahlt? Du etwa? Du taugst doch nur für Haushalt und Kindererziehung. Ich habe dich und den Jungen durchgefüttert. Und statt Dankbarkeit haust du mir dein Gejammer um die Ohren. Halt den Mund, Weib! Mir reichts!“
Damit ist die Unterhaltung für ihn beendet. Er dreht den Fernseher lauter, würdigt sie keines weiteren Blickes.
Ich kehre zurück in die Realität. Schaudernd verlasse ich das Zimmer, drücke die Tür hinter mir zu und schleppe mich in den Garten. Eine erfrischende Dusche wäre mir lieber, dennoch will ich Mutter den Wunsch erfüllen. Mit geübten Handgriffen sammle ich die Tomaten ein. Wenig später ist der Korb gefüllt. Ich reibe die Hände an dem knielangen Leinenrock ab, kann ein Gähnen nicht unterdrücken. Jetzt duschen, etwas essen und dann ins Bett. Die Diskussion mit Mutter hat mich ausgelaugt. Warum lehnt sie sich nicht gegen Vater auf? Sie sieht unglücklich aus, die Frustration spricht aus ihrem Gesicht. Warum ändert sie nichts? Ich habe meine Eltern satt. Wenn ich wüsste, wo Alejandro ist, würde ich meinen Koffer packen und ihm folgen.
Ein Geräusch lässt mich zusammenzucken. Was war das?
„Penelope … Penelope …“, ruft es aus dem Dunkel des Gartens.
Irritiert drehe ich mich um.
Eine Person tritt aus dem Schatten ins Licht. Es ist José. Was hat er hier zu suchen? Seit Alejandros Verschwinden habe ich ihn nicht mehr gesehen.
„Nimmst du mich mit rein?“, fragt er mit einem Augenzwinkern.
Ich schüttle den Kopf. „Nein, das geht nicht. Meine Eltern sind unterwegs. Kann ich dir helfen?“
„Zier dich nicht“, flüstert er und schiebt mich sachte ins Innere des Hauses. „Als Alejandro noch hier war, hab ich euch ständig besucht. Lass uns reden.“
Ich erstarre, stehe mitten im Raum, während er den Kühlschrank öffnet, nach einem Bier greift, den Flaschenöffner sucht, den Deckel entfernt und einen Schluck nimmt.
Er schaut mir in die Augen. „Du wirst mit jedem Tag schöner.“
Ich blicke auf den Boden, winde mich vor Verlegenheit, streiche mir das Haar aus dem Gesicht. „Keine Ahnung. Findest du?“
Er nickt. „Oja. Wenn du nicht erst fünfzehn wärst, würde ich dich zu meiner Freundin machen.“ Er baut sich vor mir auf, schiebt mir eine Locke aus dem Gesicht. „Blaue Kulleraugen, schwarzes Haar. Du bist mein Schneewittchen.“ Er berührt meine Wangen, verweilt an meiner Unterlippe, legt den Kopf schief.
Will er mich küssen? Ich bin verunsichert. Er ist ein attraktiver Mann, aber er ist Anfang dreißig. Was soll das? Für eine Sekunde schließe ich die Augen und warte ab. Es passiert nichts. Ich reiße die Lider wieder auf.
Er trinkt das Bier aus, schaut sich in der Küche um und tritt von einem Fuß auf den anderen. „Hast du Lust gemeinsam fernzusehen? Wie wir es mit Alejandro gemacht haben? Eine Runde Telenovela, na, wie wär‘s?“
Ich weiche zurück, presse den Rücken gegen die Wand. Einerseits wünsche ich mir Gesellschaft. Ein wenig Ablenkung würde guttun. Andererseits weiß ich nicht, was ich von Josés Besuch halten soll. „Meine Eltern würden das nicht gutheißen. Du weißt doch, wie sie sind.“
„Dein Vater ist ein typischer Macho. Schlägt er dich? Brauchst du Hilfe?“
„Er hat mich nie angerührt. Nur Alejandro hat Prügel bezogen, wenn er mal wieder am Träumen war oder gezeichnet hat. Vater hält ihn für einen Waschlappen.“
„Ich hab ihm geraten, Euren Vater anzuzeigen, aber er wollte nicht.“
„Ich weiß. Er will ihm keinen Schaden zufügen. Er ist trotz allem unser Vater.“
„Und du? Was hast du vor?“
Ich runzle die Stirn, verschränke die Hände hinter dem Rücken. „Keine Ahnung. Ich würd so gerne studieren, aber das wird er nicht zulassen. Frauen gehören hinter den Herd, sagt er immer.“
„Armes Mädel. Und was tust du dagegen?“
„Ich lerne heimlich. Wann immer ich kann.“
„Sehr gut. Du bist ein schlaues Ding!“ Sein Lächeln ist warmherzig, ein wohliger Schauer durchrieselt mich. Die gemeinsamen Fernsehabende fallen mir ein. José hat Chips mitgebracht und wir haben es uns zu dritt gemütlich gemacht. Es wurde viel gelacht. Wehmütig verziehe ich das Gesicht. „Es ist besser, wenn du gehst.“
Er fixiert mich, nickt schließlich mit dem Kopf. „Okay. Ich will nicht, dass du meinetwegen Probleme bekommst. Du könntest mich morgen nach der Schule besuchen. Ich mache Kakao, besorge ein paar Churros, wir reden über Gott und die Welt. Und über Alejandro.“
Ich schlucke, der Kloß in meinem Hals schwillt an. „Über Alejandro? Hast du etwas von ihm gehört?“
„Ja. Er hat sich gemeldet. Ich habe einiges zu berichten.“
Meine Neugierde ist geweckt. „Weißt du, wo er ist? Wird er bald nach Hause kommen?“
„Wir unterhalten uns morgen in aller Ruhe“, sagt er, berührt meine Schulter zum Abschied und lässt mich alleine zurück.
Ich frage mich, ob die beiden wirklich Kontakt haben. Immerhin hat Alejandro lange für José gearbeitet, hat Botengänge erledigt, ihn bei Polizeirecherchen unterstützt. Ich höre Alejandros Stimme klar und deutlich: „Dank ihm kann ich der Routine entkommen. Er gibt mir die Anerkennung, die Vater mir verwehrt.“
Soll ich José wirklich besuchen? Meine Eltern dürfen das nicht spitzkriegen. Ja, ich will das Risiko eingehen. Ich habe es satt, immer nach Vaters Pfeife zu tanzen. Ich möchte ein mutiges Mädchen sein. Mein Magen schnürt sich zusammen, ich habe Gänsehaut, die Knie zittern. Vor lauter Aufregung ist an Schlaf nicht zu denken.
Am nächsten Tag klammere ich mich an den Henkel der Schultasche, während ich zu Josés Wohnung laufe. Kaum habe ich geläutet, wird die Tür mit Schwung aufgerissen.
„Da bist du ja. Komm rein.“ José lächelt charmant, macht eine einladende Geste. „Ich habe alles vorbereitet. Lass es dir schmecken.“ Er rückt mir den Stuhl zurecht, gießt Kakao in eine Tasse. Sich selbst serviert er einen Espresso.
„Musst du nicht arbeiten?“, frage ich mit vollem Mund. Die Churros sind wirklich köstlich. Bei uns gibt‘s die nur einmal im Monat, wenn‘s hochkommt.
„Ich habe heute frei.“ Er streckt die Beine aus, reckt die Arme in die Höhe. „Das genieße ich.“
„Wie läuft es auf dem Revier?“
„Super. Demnächst werde ich befördert.“ Er grinst selbstzufrieden. „Schade, dass ich nicht mit Alejandro feiern kann. Aber hey … Jetzt bist du ja hier! Möchtest du mit mir feiern?“
Ich kichere, nehme einen Schluck Kakao. „Das wäre toll. Sag … Wann hat Alejandro sich bei dir gemeldet?“
„Vor drei Tagen. Deshalb bin ich gestern vorbeigekommen. Ich weiß ja, wie sehr er dir fehlt.“
„Ich fasse es nicht. Vor drei Tagen. An seinem Geburtstag. Jetzt ist er einundzwanzig. Der erste Geburtstag, den wir nicht zusammen verbracht haben.“
„Er vermisst dich.“
Ich reiße die Augen auf. „Warum meldet er sich dann nicht?“
„Er ist in einer schwierigen Situation.“
„Inwiefern?“
„Du weißt ja, wie wichtig ihm die Anerkennung seines Vaters ist. Er will erst heimkommen, wenn er ihn stolz machen kann.“
„Vater wird nie zufrieden sein. Er hängt an seinem konservativen Rollenbild fest. Ich soll heiraten und Kinder bekommen und Alejandro soll eine praktische Ausbildung absolvieren und Familienernährer werden. Vater interessiert sich nicht für seine künstlerische Ader.“
José zuckt mit den Schultern. „Naja. Mit der Malerei lässt sich schlecht Kohle verdienen.“
„Hat er dir erzählt, warum er gegangen ist?“
„Viel hat er nicht preisgegeben. Er wollte Abstand, irgendwo neu durchstarten. Geld verdienen. Sich einen Namen machen.“
„Ich kann nachvollziehen, dass er nicht bleiben wollte. Zu Hause ist es unerträglich. Die Stimmung ist im Keller. Mutter und Vater ignorieren oder zanken sich. In dieser Familie gibt es keine Liebe. Ich halt das nicht aus“, schniefe ich. „Ohne ihn fühle ich mich so einsam. Meinst du, wir können ihn besuchen? Meine Eltern brauchen es nicht zu wissen.“
„Das lässt sich bestimmt einrichten. Ich werde mit ihm reden. Und ich versteh dich.“ Er setzt sich neben mich, spielt mit meinem Haar, wischt mir den Puderzucker aus dem Mundwinkel. „Sei nicht traurig, Engelchen. Du hast ja mich.“
Mit seinen Blicken zieht er mich aus. Ich zupfe an dem Rock, um die Knie zu bedecken. Er legt mir die Hand zwischen die Oberschenkel und streichelt sie.
Vor Schreck fällt mir ein Stück Gebäck aus der Hand. „José! Was tust du da?“
Er lacht derb, hebt den Churro vom Boden auf und legt ihn auf den Tisch. „Ganz ruhig. Ich will dich nur trösten. Du musst nicht einsam sein. Ich bin für dich da, wie ich für deinen Bruder da war. Stell dich hin, mein Engelchen.“
Keine Ahnung warum, aber ich tue es. Ich komme mir vor wie eine Marionette. Der Puppenspieler strafft die Fäden. Ich setze mich in Bewegung. Ferngesteuert lasse ich zu, dass José meine Beine liebkost, über die Waden streichelt, die Fußknöchel berührt. Seine Hände sind gepflegt, die Nägel manikürt. Er hat lange Finger, die meine Schenkel umfassen, dann meinen Slip berühren. Ich halte den Atem an. Was treibt er da? „Bitte lass das“, flüstere ich und schiebe seine Hand weg.
„Hey … Warum so garstig? Bin ich dir nicht gut genug?“ Er schlägt sich auf die Brust, öffnet die obersten Knöpfe des Hemds. Eine goldene Kette mit einem Kreuzanhänger baumelt um seinen Hals.
Ich schüttle den Kopf. „Das ist es nicht.“
„Was dann? Erst jammerst du über Einsamkeit und dann stößt du mich weg. Frauen!“, zischt er verächtlich.
„Verzeih mir. Ich hab keine Erfahrung.“ Ich lege den Kopf schief, betrachte ihn. Soll ich etwas mit ihm anfangen? Würde ich mich dadurch Alejandro näher fühlen? José könnte mich stützen, mich aufmuntern. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Innerlich schüttle ich mich. Was für Gedanken. Was ist nur in mich gefahren? „Wir können Freunde sein. Es langsam angehen lassen“, schlage ich vor.
Völlig unerwartet packt er mein Haar, biegt meinen Kopf nach hinten. Ich zucke zurück, wimmere leise. Was ist jetzt los?
„Du bist kein Kind mehr, du bist eine Frau. Schau dich an! Kommst zu mir nach Hause in diesem Minirock, einem Shirt, unter dem sich die Nippel abzeichnen. Faselst etwas von langsam angehen. Du willst es! Gib es zu!“
Ich fühle mich schuldig, bin voller Scham. Wie kann er das von mir denken? Was habe ich falsch gemacht? „Nein!“, schreie ich laut in meinem Inneren, doch ich bringe keinen Ton heraus. Warum demütigt er mich? Noch nie habe ich mich so entblößt gefühlt. Tränen laufen mir übers Gesicht. Ich will keine Heulsuse sein.
„Du solltest dir gut überlegen, was du willst.“ Er streckt den Arm aus, deutet zur Tür. „Du kannst jederzeit gehen. Ich zwinge dich zu nichts. Aber …“
„Was aber?“
„Wenn du jetzt gehst, wirst du nie erfahren, wo dein Bruder ist.“
„Wer sagt mir, dass du mich nicht belügst? Vielleicht ist Alejandro längst tot. Vielleicht hast du ihm etwas angetan.“
Er starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an. „Du hast eine blühende Phantasie, Mädchen. Glaubst du das ernsthaft?“
Ich zucke mit den Schultern, reiße mich zusammen. Die Fäden straffen sich erneut, führen mich einen Schritt in seine Richtung, mein Mund öffnet sich: „Ich bleibe. Sag mir bitte, was du über Alejandro weißt. Ist er in Ordnung?“
Er schnalzt mit der Zunge. „Schön, dass du bleibst. Ich freue mich. Wir werden uns eine schöne Zeit machen.“ Er grinst, bleckt die Zähne. „Jetzt machen wir es uns gemütlich.“ Er nimmt mich bei der Hand, führt mich ins Schlafzimmer. Mein Atem stockt, als ich die zerwühlten Laken sehe. Mit wie vielen Frauen er hier wohl geschlafen hat? Er wirft sich aufs Bett, klopft neben sich auf die Matratze. „Komm zu mir.“
Ein paar hölzerne Schritte, schon liege ich im Bett. Er kommt über mich, tastet nach meinen Brüsten, schiebt den Rock nach oben. „Ist doch gar nicht so schlimm. Oder?“
Ich schließe die Augen, rühre mich nicht, lasse es über mich ergehen. Vielleicht ist das der Preis, den ich zahlen muss. Während er sich an mir zu schaffen macht, denke ich an meinen Bruder. Im Geiste höre ich seine Stimme, konzentriere mich fest darauf. José nestelt an meinem Slip. Noch nie hat jemand mich da unten berührt. Es schmerzt, als er einen Finger in mich schiebt. Mein Körper versteift sich. Sein heißer, nach Bier stinkender Atem an meinem Ohr verursacht dreht mir beinahe den Magen um. „Ich kann das nicht“, flüstere ich.
Er lacht höhnisch, verstärkt den Griff. „Du kannst! Es wird dir gefallen.“ Seine Hände ballen sich zu Fäusten. Er zieht an meinem Haar. Der Schmerz schießt mir in den Kopf, ich kneife die Augen zusammen. „Warum quälst du mich?“
„Quälen?“, grölt er. „Was ist nur los mit dir?“ Seine Augen funkeln vor Verlangen. „Lass uns ein wenig Spaß haben. Sei nicht so verklemmt.“
Mein Blick huscht hin und her. Ich will hier weg! Einfach nur raus hier! Weg von dem Mistkerl! Er darf nicht weitermachen. Unter keinen Umständen. Das packe ich nicht. Ich bin Jungfrau. Meine Gedanken wirbeln durcheinander. Es muss doch irgendetwas geben, was ich tun kann, um ihn davon abzuhalten. „Warum bist du so grausam?“ Ich versuche, meiner Stimme einen gefassten Klang zu geben.
„Stell dich nicht so an! Du willst doch, dass ich ein Treffen mit Alejandro arrangiere. Also … Streng dich an!“
Er spielt mit meinen Locken. Ich presse die Beine zusammen, Schweißflecken bilden sich unter meinem Shirt, mein Atem beschleunigt sich.
„Ruhig, Engelchen. Ich werde dir nicht wehtun.“
Dann sind seine Hände unter meinem Shirt. Da ist Gier in seinen Augen. Ich spüre sie in seinen Berührungen. Er knetet, kneift, drückt, behandelt mich wie ein Stück Fleisch. Erkennt er nicht, dass ich gleich durchdrehe? Ich halte den Atem an, schüttle mich innerlich. Bitte, lass es schnell vorbeigehen.
Er leckt sich über die Lippen. „Oh, Penelope“, stöhnt er, während er meine Arme nach oben reißt, sie mit seiner Rechten hinter meinem Kopf festhält, die Linke in meinen Slip schiebt, mit zwei Fingern in mich eindringt. Es fühlt sich an, als würde eine scharfe Klinge meinen Unterleib malträtieren.
„Aua!“ Ich schreie vor Schmerzen auf. „Du Schwein! Du tust mir weh.“
„Jetzt reicht‘s mir! Ich hab‘s echt im Guten versucht.“
Er lässt meine Arme los, presst meinen Hinterkopf ins Kissen, schlägt mir ins Gesicht. Mein Schädel fühlt sich an, als würde er gleich explodieren. Ich bin der Ohnmacht nahe. Er ist so brutal. Wie kann Alejandro mit ihm befreundet sein? Ich verstehe es nicht. Alejandro hat immer von ihm geschwärmt, wie konnte er sich so täuschen? Mein Überlebensinstinkt regt sich. Ich beiße ihm in die Schulter, dann nutze ich sein Zusammenzucken, um mich seinem Griff zu entziehen. Ich taumle vom Bett, laufe Richtung Tür. Nichts wie raus hier! Ich will nach Hause! Ein Drang, den ich unter anderen Umständen niemals hätte. Er ist flink. Ich habe ihn eindeutig unterschätzt. Mit raubtierhaften Bewegungen schnellt er vom Bett in die Höhe, schleudert mich gegen die Wand, schlägt zu. Er ist außer sich vor Wut. Zerrt an meinen Haaren, schüttelt mich hin und her wie eine Puppe. Ich habe keine Chance, schaffe es nicht, mich zu wehren. Er wirft mich zu Boden. Sein Blick ist der eines Irren.
„Nein! Nein! Bitte nicht!“, flehe ich.
Mit einem dreckigen Grinsen steht er über mir, demonstriert seine Macht. „Du Mistgöre! Denkst du, du hast irgendwas zu sagen?“, donnert er. Seine Faust kracht gegen die Wand, der Putz bröckelt, rieselt zu Boden.
Ich kauere mich zusammen, schluchze vor mich hin, ziehe den Rotz hoch. Alejandro, wo bist du? Bitte steh mir bei.
Er tritt mit den Schuhen gegen meine Rippen, prügelt auf mich ein. Was für ein Sadist! Die Aktion bereitet ihm größtes Vergnügen. Alles um mich herum dreht sich.
„Jetzt wirst du sehen, was du davon hast.“ Er streift die Jeans herunter, trägt keine Unterwäsche. Oh Gott! Das darf nicht passieren. Bitte nicht! Er packt mich, zerreißt den Slip, spreizt meine Beine und dringt in mich ein. „Du gehörst mir!“ Sein keuchender Atem an meinem Ohr macht mich wahnsinnig. Ich will schreien, will ihm den Rücken zerkratzen, will, dass er mich in Ruhe lässt.
Mein Körper zuckt unter seinem Gewicht. Ich bäume mich auf, winde mich.
„Ja, wehr dich, geile Mieze!“ Er drückt meine Kehle zu. Ich bekomme kaum Luft. War‘s das jetzt? Endet mein Leben so? Nebelschlieren tanzen vor meinen Augen, die Umgebung wird unscharf. Ich presse die Lider zusammen, lasse mich fallen und befinde mich mit einem Mal in einer Art Trance. Meine Seele spaltet sich von meinem Körper ab. Ich schwebe an der Decke und sehe dabei zu, wie er sich an mir vergeht. Nebelschwaben umwabern mich, in der Ferne tanzen Lichtblitze. Plötzlich ist alles still, ich empfinde beinahe Frieden, fühle mich sicher. Als neutrale Beobachterin nehme ich mir Zeit, die Situation zu analysieren. In meinem Kopf taucht eine Melodie auf, die Klänge einer Flamencotänzerin. Ich höre das Klackern der Schuhe, spüre die Kraft, die Stärke, die Energie.
Josés Stöße werden heftiger, endlich lässt er von meinem Hals ab. Ich keuche, sauge die Luft in meine Lungen, bin kurz vor dem Kollaps.
„Oja! Ich komme!“, schreit er, verzieht das Gesicht zu eine Grimasse, stöhnt immer wieder auf.
Da ist eine heiße Flüssigkeit tief im Innern meines Körpers. Er ist fertig mit mir, lässt von mir ab, wankt ins Bett, rollt sich zusammen und schnarcht. Mir tut alles weh, ich friere, zittere wie Espenlaub. Er lässt mich liegen wie ein Stück Müll.
Steh auf, sage ich mir. Du musst hier weg.
Mit einem Stöhnen rapple ich mich auf. Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Ich wanke ins Bad, kann mich kaum auf den Füßen halten. Mein Spiegelbild erschüttert mich. Verquollene Augen, Kratzer, blaue Flecke. Die Haare stehen in alle Richtungen vom Kopf ab. Aus der Nase sickert Blut, aus dem linken Ohr ebenso. Was hat er mir angetan? Der unbescholtene Polizist, Alejandros Mentor. Ich kann es nicht glauben.
Meine Kehle ist trocken, ich trinke direkt aus dem Wasserhahn. Immer wieder kehrt der Schwindel zurück. Um nicht zu stürzen, klammere ich mich an der Handtuchstange fest. Ich habe keine Kraft mehr. Etwas in mir ist zerbrochen. Mein Leben ist vorbei.
Was soll ich tun? Die Polizei rufen? Nein! Niemand darf davon erfahren. Ihn mit einem Kissen ersticken? Ihm eine Vase über den Schädel ziehen? Ein Messer aus der Küche holen, zustechen? Ich massiere die Stirn, die pochenden Schläfen. Denk nach, denk nach!
Ich sinke auf die Knie, verharre in dieser Stellung, grüble. Die Gedanken rasen durch mein Gehirn. Alejandro hat mich im Stich gelassen. Er hat mich nicht beschützt. Es interessiert ihn einen Scheiß, was mit mir ist. Mutter hat Recht! Er ist ein Egoist, wir sind ihm nicht gut genug. Plötzlich sehe ich Vaters Gesicht vor mir. Ich hasse Männer! Sie sind Abschaum, nehmen sich, was sie wollen. Wir Frauen sind nichts als Dreck für sie.
Eins ist klar: José muss bezahlen! Ich kann ihn nicht damit davonkommen lassen. Wenn ich nichts unternehme, wird er es wieder tun. Wieder und immer wieder. Ich hab's in seinen Augen gesehen. Er hat Blut geleckt, das war erst der Anfang. Und noch einmal halte ich das nicht aus. Die Demütigung, die Erniedrigung, die Schmerzen. Nein!
Unsichtbare Fäden ziehen an mir, richten mich auf, führen mich in die Küche. Das Steakmesser glitzert im Licht des Sonnenscheins. Ein Griff, und es liegt sicher in meiner Hand. Ferngesteuert wanke ich ins Schlafzimmer. Mein Blick verharrt auf José, der immer noch schnarcht. Ich empfinde nichts. In mir ist nur Leere. Die unsichtbaren Fäden reißen meinen Arm in die Höhe, dann steche ich zu. Immer und immer wieder.