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Maritas Hände

Seniors
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31.08.2008
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Maritas Hände

Marita schaute mich mit ihren angsterfüllten braunen Augen an. Ihre Lippen zitterten. „Nimm das Bleuel in deine Hände und arbeite!“ Schwester Gerhild war außer sich. Langsam hob Marita ihre Arme, nahm das im Waschbottich stehende Bleuel, ihre Finger schlossen sich zögernd um das Holz und die Haut auf ihren Fingergelenken wurde weiß. Sie begann, das Bleuel auf und ab zu bewegen. Ich versuchte, es ihr vorzumachen, drückte mit meinem Bleuel die Wäsche unter das heiße Waschwasser und sah sie aufmunternd an. Marita machte nun richtig mit.
„Wer nicht arbeitet, braucht auch nicht zu essen!“, wütete Schwester Gerhild und ging zu den anderen beiden Bottichen und sah nach, wie die Mädchen dort arbeiteten. Ein Mädchen drehte sich zu ihr um, als sie ihr über die Schulter sah, da hatte sie auch schon eine Ohrfeige von der Schwester bekommen. Maritas Hände begannen zu zittern.

Wir mußten die Wäsche zu zweit aus den Bottichen nehmen und auf langen Holzrosten ausschlagen. Ein Mädchen legte die Wäsche lang aus und das andere schlug darauf, um den Schmutz und das Waschwasser hinauszutreiben. Als Marita an der Reihe war, schlug sie so zaghaft zu, daß es fast keine Wirkung hatte. Von hinten näherte sich schweigend Schwester Gerhild. Ich warf Marita einen warnenden Blick zu; sie verstand und begann, fester zu schlagen. Die Schwester ging wortlos hinter uns vorbei.

Es waren meine ersten Tage im Kinderheim von Bad Burgstedt. Alles erschien mir wie ein Traum, ständig wartete ich darauf, aufzuwachen. Es war erst eine Woche her, daß ich mit einer Freundin, deren Eltern schon einen Fernseher hatten, einen Film gesehen hatte und später nach Haus gekommen war. Vor der Haustür hatte ein Polizist auf mich gewartet und mir gesagt, daß meine Eltern mit dem Auto verunglückt seien. Sie seien beide sofort tot gewesen. Wenige Stunden später erschien eine Fürsorgerin, packte mit mir zusammen einige meiner Sachen in eine kleine Tasche und brachte mich in dieses Heim. Ich konnte in dem Augenblick an nichts denken; später fragte ich mich, warum ich nicht zu meiner Tante oder zu meinen Großeltern gebracht worden bin; die hätten mich bestimmt gern bei sich aufgenommen.
Ich wurde von der Fürsorgerin und einem Fahrer in einem kleinen schwarzen Auto über die holprigen Landstaßen Schleswig-Holsteins nach Bad Burgstedt in das Heim gefahren. Hier würde es mir bestimmt gut gehen, hatte die Fürsorgerin gesagt, es wäre ein christliches Heim, in dem die Kinder mit Liebe betreut würden.

Der Speisesaal war groß und hoch, die gescheuerten Holztische standen in Reihen, daneben auf beiden Seiten Bänke. Marita saß neben mir; niemand sprach. Daß man hier nicht reden durfte, brauchte man mir nicht zu sagen: das bedrückte Schweigen und die Angst in den Gesichtern der Mädchen waren deutlich genug. Marita reichte mir unter dem Tisch ihre Hand; ich ergriff sie und wurde mit einem Strahlen in ihrem Gesicht belohnt.

Abends mußten wir uns nackt in einem großen Waschraum waschen. Manchmal führte Schwester Gerhild die Aufsicht. Eines Abends hatte sie den Eindruck, daß ich mich nicht gründlich genug wusch; sie schrie mich an, „Manuela! Ich werde dich Reinlichkeit lehren!“, nahm einen rauhen Scheuerlappen und rieb so gewaltsam zwischen meinen Beinen, daß ich hinterher wund war. Wenn Schwester Roswitha die Aufsicht führte, wurden wir nur geschlagen. Außer den beiden gab es noch Schwester Magdalena, die deutlich jünger als die anderen beiden war; sie schlug uns nie.

Marita schlief in dem Bett neben mir. Ich hatte schon bemerkt, daß sie manchmal nachts stöhnte. Wir gaben uns die Hand, von Bett zu Bett, und sagten uns damit schweigend gute Nacht. Marita schlief schnell ein, während ich lange wach lag. Durch die Freundschaft mit Marita war ein Stück Leben zurückgekommen; es brachte mich dazu, über die vergangenen Tage nachzudenken. Es war so kurze Zeit vergangen und doch schien mir mein zu Hause weit hinter mir. Wie war es meinen Eltern ergangen? Wie war der Unfall passiert? Wann wurden sie beerdigt? - Mit einem Mal stöhnte Marita laut auf, schrie kurz: ein schriller, gellender Schrei. Schwester Roswitha kam in den Saal gestürzt, zischelte etwas von „das darfst du nicht tun, das ist eine schwere Sünde“ und „der Herr möge dir vergeben“ und schlug heftig auf Marita ein. Schwester Gerhild war dazugekommen; gemeinsam banden sie Maritas Arme am Bettgestell fest. „So, nun kannst du nicht mehr sündigen.“ Ich lag steif im Bett und wagte es nicht, mich zu rühren.

Morgens wurde Marita losgebunden. Eines der anderen Mädchen hatte in dieser Nacht ins Bett genäßt. Schwester Gerhild schrie sie an: „Dir werde ich Reinlichkeit beibringen!“, schleifte sie an den Haaren in die nächste Toilette und schloß die Tür hinter sich. Wir hörten die Schreie des Mädchens, dazu das dumpfe Schlagen ihres Kopfes gegen die Wand. Stille. Schwester Gerhild schloß die Tür wieder auf und zog das Mädchen, das offenbar bewußtlos war, hinter sich her, durch den Flur, die Kellertreppe hinunter in den „Bunker“ genannten Raum, der für Strafen als Gefängnis diente. Ihr Weg wurde durch eine dicke Blutspur gezeichnet. Unten angekommen, verriegelte sie laut hörbar die schwere Tür. Wir übrigen bekamen den Befehl, „sauberzumachen“. Wir holten die Wischeimer und Feudel und putzten das Bad, in dem sich am Boden eine riesige Blutlache ausbreitete und von oben bis unten alle Wände mit Blut bespritzt waren, den Flur und die Stufen der Kellertreppe. Bei jedem
Auswringen lief es wie reines Blut aus dem Feudel über unsere Hände, bis das Wasser im Eimer dunkelrot war. An der Tür zum Bunker lauschten wir voller Angst; es rührte sich nichts.

Auf dem Weg zum Speisesaal kamen wir am Schwesternzimmer vorbei und hörten, wie sich die Schwestern lautstark stritten. Schwester Magdalena rief immer wieder:
„Das dürft ihr nicht! Das ist Sünde!“, während Schwester Roswitha dagegen hielt:
„Nur mit Strenge können wir sie auf Gottes Weg bringen!“ und Schwester Gerhild wie immer von „Zucht und Ordnung“ und von „Abhärtung“ sprach.
Die anderen Mädchen nahmen nicht erkennbar Notiz davon; sie schienen es gewohnt zu sein.

Es dauerte drei Tage, bis das Mädchen aus dem Bunker geholt wurde und wieder mit uns essen und schlafen durfte. Sie hatte große rote und blaue Wunden am Kopf und im Gesicht; sie sah uns seitdem nicht mehr an, sondern immer nur nach unten; ihr Blick war leer geworden.

Nachmittags mußten wir oft im Garten arbeiten. Der Gärtner, ein gutmütiger alter Mann, beaufsichtigte uns, aber er war nicht streng, sodaß wir sogar miteinander reden durften. Marita und ich hackten nebeneinander in einem Beet und ich fragte sie, wovon sie träume, wenn sie nachts aufwachte und schrie. Sie schaute mich angstvoll an und wandte den Blick wieder ab. Schließlich sagte sie:
„Von meinen Eltern.“
„Waren sie nicht gut zu dir?“, fragte ich nach.
„Meine Eltern waren sehr lieb“, antwortete sie.
„Was war dann so schlimm?“, wollte ich nun dringend wissen.
„Die Einbrecher“, antwortete sie.
„Einbrecher? Was haben die gemacht?“
„Sie haben meine Eltern getötet.“
Ich bekam einen Schreck. Ungläubig starrte ich sie an.
„Und du … du warst dabei?“, fragte ich.
„Ja. Meine Eltern haben mir gesagt, ich solle mich schnell verstecken. Ich bin unter das Bett gekrochen. Von dort aus habe ich alles gesehen.“
Ich fühlte, wie diese Nachricht langsam von mir Besitz ergriff, den Bauch und die Glieder schmerzhaft erglühen ließ. Gleichzeitig sah mich Marita so offen und hoffnungsvoll an, daß ich sofort begriff, daß sie das bisher noch niemandem anvertraut hatte.
„Das muß sehr schlimm gewesen sein“, sagte ich, ohne die Hoffnung, sie damit trösten zu können.

Wenn die gewaschene Wäsche von den Kunden, den Hotels der Umgebung, abgeholt wurde, mußten wir immer in die hinteren Arbeitsräume gehen, damit wir von dem Fahrer nie gesehen wurden. Schwester Magdalena war manchmal dabei und paßte auf uns auf. Sie hatte ein bedrücktes, rundliches Gesicht und war nie streng. Trotzdem schwiegen alle, auch weil wir spürten, daß sie mit den anderen Schwestern Ärger bekommen würde, wenn sie uns nicht ruhighielt. Schwester Magdalena lief oft am Tage in die kleine Kapelle, die zum Heim gehörte, um zu beten. Sie war die einzige, die das tat.

In einer der kommenden Nächte lag ich wieder wach, während Marita und die anderen schliefen. Marita begann, leise zu stöhnen. Schließlich wurde ihr Stöhnen lauter und ich bekam Angst um sie. Die Tür wurde aufgerissen, und Schwester Gerhild und Schwester Roswitha kamen in den Saal, schlugen Marita, daß sie aufwachte und vor Schmerzen heulte. „Du sündigst schon wieder. Du darfst nicht sündigen!“, schrie Schwester Roswitha wieder und wieder. Schließlich banden sie Maritas Hände wieder an das Bettgestell und verließen den Schlafsaal.

Marita weinte still. Ich streckte eine Hand aus, um sie zu berühren und zu zeigen, daß sie nicht allein ist. Sie streckte ihre Hand zu meiner; mühelos löste sich das Band, mit dem die Hand gefesselt worden war. So hielten wir uns die Hände. Plötzlich wurde wieder die Tür aufgerissen, wir nahmen sofort unsere Hände unter die Decken. Schwester Gerhild kam herein und stellte sich mächtig vor Maritas Bett auf. Sie sagte nichts, aber ihre kochende Wut konnte ich mit geschlossenen Augen spüren. Schließlich bemerkte sie, daß Maritas eine Hand wieder gelöst war.
„Na warte!“, sagte sie und verließ den Saal. Kurz darauf kam sie mit Schwester Roswitha zurück; beide trugen Wäschebleuel.
„Auch dich werden wir auf den rechten Weg bringen!“, rief Schwester Roswitha und beide schlugen mit den Bleueln auf Marita ein. Marita stöhnte nur einmal leise vor Schmerz; dann blieb sie stumm. Die Schwestern hieben auf sie ein, bis sie erschöpft von ihr abließen. Als sie die Tür des Schlafsaales hinter sich geschlossen hatten, entstand eine unerträgliche Stille im Raum, und ein Gefühl von Leere, das vorher nicht da war. Ich wagte es nicht, mich zu rühren. Erst nach langer Zeit flüsterte ich:
„Marita! Marita! So sag doch etwas!“ Ich streckte angstvoll meine Hand aus. Marita rührte sich nicht.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Maritas Bett leer. Schweigend wuschen wir uns und gingen in den Speisesaal zum Frühstück. Niemand sagte etwas oder fragte. Nach dem Frühstück sollten wir alle aufstehen, da Schwester Roswitha etwas bekanntgeben wollte.
„In der vergangenen Nacht hat der Herr unsere Marita zu sich genommen. Ihr nehmt draußen Aufstellung; wir werden geordnet zum Friedhof gehen, um sie beizusetzen. Ich erwarte, daß ihr in Zweierreihen geht und niemand spricht. Wer dagegen verstößt, bekommt drei Tage Bunker.“

An das folgende kann ich mich nur schwach erinnern. Ich weiß nicht mehr, wie wir den Lämmerweg hinunter in den Ort und zum Friedhof gegangen sind und ob es eine Predigt gab oder nicht. Die ganze Welt erschien mir wie hinter einem grauen Schleier, unwirklich und weit weg. Als wir im Kreis um das geöffnete Grab herum standen, sah ich verschwommen die anderen Mädchen. Nur an das Lied kann ich mich noch genau erinnern; wir sangen:

So nimm denn meine Hände
und führe mich
bis an mein selig Ende
und ewiglich!
Ich mag allein nicht gehen
nicht einen Schritt;
wo Du wirst gehn und stehen,
da nimm mich mit!

In dein Erbarmen hülle
mein schwaches Herz
und mach es gänzlich stille
in Freud und Schmerz!
Laß ruhn zu deinen Füßen
dein armes Kind;
es wird die Augen schließen
und glauben blind.

Wenn ich auch gleich nichts fühle
von seiner Macht,
Du führst mich doch zum Ziele
auch durch die Nacht.
So nimm denn meine Hände
und führe mich
bis an mein selig Ende
und ewiglich!

Epilog
Manuela erzählte mir im Herbst 1974 diese Geschichte aus ihrer Kindheit, die damals etwa zehn Jahre zurücklag. Personen- und Ortsnamen sind verändert, das Bundesland nicht. Es handelte sich um ein evangelisches Heim in Schleswig-Holstein.

 

Hallo Setnemides!

Marita schaute mich mit ihren angsterfüllten braunen Augen an.

Komma nach "angsterfüllten", und warum nicht "ängstlichen"?

Ihre Lippen zitterten um ihren halboffenen Mund.

Das ist kein schönes Bild für "Angst". Außerdem formen die Lippen den Mund. "Ihre Lippen zitterten", reich völlig.

„Nimm das Bleuel in deine Hände und arbeite!“, wurde sie von Schwester Gerhild angeherrscht.

Hm, hm. Das gefällt mir nicht. Nur die Rede, und dann anders klarstellen, wer spricht? "Nimm es in die Hände und arbeite!" Schwester Gerhild war außer sich.

Langsam hob Marita ihre Arme, nahm das verblichene Holz des im Waschbottich stehenden Bleuels, wobei ihre Hände sich sträubten, das Holz anzufassen, und als sich die Finger um das Holz schlossen und die Haut auf ihren Fingergelenken weiß wurde, ging ein Zittern durch die Hände und Arme.

Das ist viel zu lang und schachtelig. Sie nimmt besser den Bleuel, nicht das Holz dessen, ihre Hände sträuben sich nicht, sondern sie tut das.

Sie begann, das Bleuel auf und ab zu bewegen. Ich versuchte, es ihr vorzumachen, und drückte mit meinem Bleuel die Wäsche unter das heiße dampfende Waschwasser und sah sie dazu aufmunternd an.

Hier kommt das erste Mal ein "Ich" vor. Das ist blöd. Die Perspektive muss vorher klar sein, sonst weiß ich nicht, als wer ich gerade erlebe.

unter das heiße dampfende

Komma nach "heiße".

Waschwasser und sah sie dazu aufmunternd an.

Das "dazu" kann weg.

und ging zu den anderen beiden Bottichen, um zu sehen, wie die Mädchen dort arbeiteten.

Hm, hm. Sie ging und sah nach, nicht sie ging um nachzusehen.

Bundeslandes nach in Bad Burgstedt

Ohne "in".

und dort durch die Allee den Lämmerweg aus dem Ort hinaus zum Heim gefahren

Komma nach "Allee" und nach "Lämmerweg", das "hinaus" kann weg.

Bei jedem Mal auswringen

Ohne "Mal".

sich nichts.-

Das "-" muss weg.

Insgesamt eine tragisch-schöne Geschichte. Ich fands spanned erzählt, nie übertrieben, immer korrekt und trotzdem so beklemmend. Hier geht es nicht um Effekte, hier geht es um die Realität, wie sie ist, und gerade das macht die Erzählung so authentisch.

Mir hat es sehr gut gefallen.

Schöne Grüße,

yours

 

Hallo Setnemides,
noch zwei Anmerkungen.
"...brauchte man mir nicht zu sagen, als ich hier die erste Mhjlzeit aß."
...,seit ich hier...", passt besser.

"Marita hatte eine Hand unter dem Tisch und hielt sie vorsichtig zu mir."
... und hielt sie in meine Richtung, finde ich deutlicher.

Eine bedrückende Geschichte, die ich nicht einen Moment anzweifle. Die Schulderungen der brutalen Ereignisse überlagern allerdings für meinen Geschmack die Charaktere der Mädchen und die der Schwestern, da hätte ich mehr Differenziertheit gewünscht. Aufgefallen ist mir das besonders bei dem Abschnitt, der mit "Es waren meine ersten Tage..." beginnt, wo die Person von Manuela in ihrer Not gar nicht gezeichnet wird. Sie wird so dargestellt, als mache sie alles ohne Regung mit, lediglich der Hinweis auf das Gefühl, in einem Traum gefangen zu sein, läßt etwas von ihrem Zustand ahnen. Mit Marita ergeht es mir ähnlich. Die Geschichte funktioniert natürlich trotzdem gut, weil allein die Thematik tief rifft.
LG,
Jutta

 
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Hallo Setnemides!

Ich finde Deine Geschichte sehr gut zu lesen, aber vor allem ein wichtiges Thema und freue mich, daß Du es aufgegriffen und diese Geschichte geschrieben hast.

Eigentlich hab ich nur ein Problem damit, und das ist die Zeit, in der sie spielt. Ich las sie nämlich zuerst direkt in die NS-Zeit und setzte dabei geistig schon zu einigen Kritikpunkten an, bis ich am Beginn des Epilogs las: »Manuela erzählte mir im Herbst 1973 diese Geschichte aus ihrer Kindheit, die damals etwa zehn Jahre zurücklag.« Also Anfang der Sechziger. Damit fallen natürlich die auf die NS-Zeit bezogenen Kritikpunkte weg.
Aber ich denke, Du solltest das schon früher in der Geschichte deutlich machen, denn hinterher hat es irgendwie eine abschwächende Wirkung, dann ist es »nicht ganz so schlimm« – hoffe, Du verstehst, was ich meine. ;)
Allerdings frag ich mich dann auch, was es mit den Eltern der beiden in Wahrheit auf sich hat. Oder sind die einen wirklich bei einem Autounfall gestorben und die anderen von Einbrechern ermordet worden? Erst las ich es ja als vorgeschobene Gründe der SS oder wem auch immer, dachte, die Eltern wären ins KZ gekommen. Jetzt bin ich mir nicht sicher, ob ich diese Eltern-Geschichten glauben soll oder nicht, Du läßt ja auch Deine Protagonistin ein wenig daran zweifeln, wenn sie sich etwa fragt, warum sie nicht zu ihrer Oma oder Tante gekommen ist, da würde ich mir also noch irgendwelche Hinweise wünschen.

Die in den fünfziger und sechziger Jahren oft zu hörende Drohung „…sonst kommst du ins Heim“ macht deutlich, daß die Zustände in den Heimen nicht unbekannt, sondern vielmehr Teil des kollektiven Wissens gewesen sind.
Ja, den Satz kann ich nur unterschreiben und bestätigen, und würde ihn bitte gerne mindestens bis in die Siebziger ausgedehnt sehen. ;-) Sogar Anfang der Achtziger gab es noch mancherorts die einen oder anderen Praktiken, die seit der NS-Zeit nie abgestellt wurden.
In der Folge waren die Kinderheime in Deutschland bis zu fünfundzwanzig Jahre nach Kriegsende Orte, an denen Kinder schwer mißhandelt, sexuell mißbraucht, zu Zwangsarbeiten gezwungen und in Einzelfällen getötet wurden.
Zum einen darfst Du es ruhig auch auf Österreich oder eben auf das ganze ehemalige Deutsche Reich ausdehnen, zum anderen bin ich sicher, daß auch in Deutschland nicht ab 1970 plötzlich damit Schluß war. 1970 mögen die Veränderungen begonnen haben, aber es hat schon eine Weile gedauert, bis die liebgewonnenen Gewohnheiten auch in den entlegensten, vor der Außenwelt gut geschützten Heimen und Anstalten abgestellt waren. Aber bevor ich das jetzt nachrecherchiere, warte ich lieber auf sim, der wird das glaub ich wissen. ;-) Ich weiß es nur von hier, und zwar von konkreten Fällen aus dem Jahr 1982. Außerdem kann ich mich an einen Bericht erinnern, da muß ich so zehn Jahre alt gewesen sein, also Mitte der Siebziger, wo sie aufgedeckt haben, daß in einem oberösterreichischen Heim Kinder u.a. an Heizkörpern festgebunden waren, damit sie sich nicht weh tun …

Ansonsten kann ich nur sagen, daß Du mich mit der Geschichte mitgenommen hast. Die Beziehung der beiden Mädchen zueinander baust Du sehr gut auf, das Händegeben zwischen den Betten finde ich besonders schön. Auch, wenn es mehr einseitig erscheint, ist es doch ein gegenseitiges Stützen, weil auch die Erzählerin sich dadurch nicht alleine ausgeliefert fühlt.
Nach dem Lied wäre ich allerdings noch gerne kurz bei der Erzählerin geblieben. Wie sie zum Beispiel am Abend die Hand ins Leere streckt, oder wie ein neues Mädchen in Maritas Bett liegt und erzählt, warum es hier ist. Sie könnte aber auch ab da öfter von Marita träumen und stöhnend aufwachen.

Jutta schrieb:
da hätte ich mehr Differenziertheit gewünscht. Aufgefallen ist mir das besonders bei dem Abschnitt, der mit "Es waren meine ersten Tage..." beginnt, wo die Person von Manuela in ihrer Not gar nicht gezeichnet wird. Sie wird so dargestellt, als mache sie alles ohne Regung mit, lediglich der Hinweis auf das Gefühl, in einem Traum gefangen zu sein, läßt etwas von ihrem Zustand ahnen.
Da ich auch ein paar mehr Details eingefordert habe, möchte ich dazusagen, daß ich das nicht aus demselben Grund mache, wie Jutta. Das Erlebnis, die Eltern so plötzlich zu verlieren, und dann auch noch in so ein Heim verfrachtet zu werden, ohne jeglichen Trost oder Verständnis, ist ja ein extrem traumatisierendes. Dabei wird ein natürlicher Schutzmechanismus ausgelöst, der das bewußte Empfinden auf ein erträgliches Maß herunterschraubt oder auch ganz ausblendet – verdrängt. Daher paßt der Eindruck, sie mache alles ohne jede Regung mit, auch sehr gut dazu.


So, ein paar Anmerkungen noch – was schon genannt wurde, hab ich gleich weggelassen:

»es brachte mich dazu, über die vergangenen Tage nachzudenken, und über meine Eltern.- Mit«
– Wenn es ein Gedankenstrich sein soll, dann mit Leertasten vorne und hinten: »Eltern. – Mit« Du könntest stattdessen aber auch zwei, drei Sätze einfügen, was sie über ihre Eltern nachdenkt.

»„Und du…du warst dabei?“, fragte ich.«
– Leertasten vor und nach den drei Punkten

»daß sie mit den anderen Schwestern Ärger bekommen würde, wenn sie uns nicht ruhig hielt.«
– zusammen: ruhighielt

»mühelos löste sich die das Band,«
– das »die« ist zuviel

»wo Du wirst gehn und stehen,«
»In dein Erbarmen hülle«
»Laß ruhn zu deinen Füßen
dein armes Kind;«
»Du führst mich doch zum Ziele«
– würde auch die »dein« und »deinen« groß schreiben

»„…sonst kommst du ins Heim“«
– Leertaste vor »sonst«

»Zwangsarbeit bis zum 21sten Lebensjahr«
– einundzwanzigsten

»Weder wurden gegen die Täter ermittel, noch wurden die Opfer entschädigt«
– wurde (-n)
– ermittelt (+t)


Liebe Grüße,
Susi :)

 
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Liebe Susi,

vielen Dank, ich freue mich, daß Dir die Geschichte gefällt, wenn man das so nennen kann. Ich habe ja einen langen Epilog geschrieben, der eigentlich nicht dazu gehört, aber zeigen soll, daß hier Literatur aufhört und etwas anderes beginnt - Politik, Realität, Aufarbeitung - was immer. Das Phänomen ist in viel größerem Raum zu betrachten. Ähnliche Zustände in irischen Heimen führten wurden vor wenigen Jahren erfolgreich verfilmt.

Ich habe beim Schreiben immer die Stimme Manuelas im Ohr gehabt, die ja 18 Jahre alt war, als sie mir das erzählt hat. Trotzdem habe ich in der Geschichte den Prot. in das Kinderalter versetzt, um eine größere Unmittelbarkeit herzustellen. Dafür wird einiges weniger präzise einsortiert: aus der kurzen Mitteilung: "sie war traumatisiert, sie hat oft im Schlaf gestöhnt, die Schwestern haben geglaubt, daß sie masturbiert; darum haben sie ihr die Hände festgebunden. Als das nicht half, haben sie sie totgeschlagen." wird in der Kg die ausführliche Darstellung mit "Das darfst du nicht. Das ist eine Sünde." etc.´, bei der ich nicht sicher bin, ob sie so verstanden wird. Vielen ist der Zusammenhang Masturbation - Hände anbinden geläufig, andere kommen nicht darauf. Manuela hat als Kind möglicherweise nicht verstanden, worum es ging, sondern sich die Erklärung samt Fremdwort dafür später gedacht.- Aus der Perspektive eines 8 Jahre alten Mädchens kann ich es nicht deutlicher machen.

Ich habe gerade 2 Stunden mit einem Vertreter einer Initiative telefoniert, die sich um die Aufarbeitung der Mißstände in Heimen bemüht. Er bestätigte mir den Betrieb eines staatlichen Heimes mit mehreren Todesfällen jährlich bis Mitte siebziger Jahre. Auf die Frage, warum in dem Heim bis zur Schließung die alte Kleidung aus dem Konzentrationslager, das dort bis 1945 bestanden hat, weiter getragen wurde, hat der zuständige Behördenleiter, heute im Ruhestand, gesagt: die mußte doch aufgetragen werden, das Land hatte doch kein Geld...

So stellt sich das heute dar.

Liebe Grüße

Set

 
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Hallo Setnemides!

Ich habe ja einen langen Epilog geschrieben, der eigentlich nicht dazu gehört, aber zeigen soll, daß hier Literatur aufhört und etwas anderes beginnt - Politik, Realität, Aufarbeitung - was immer.
Trotzdem würde ich mir für die eigentliche Geschichte einen "richtigen" Schluß wünschen - eben weil sie da aufhört. ;)

Trotzdem habe ich in der Geschichte den Prot. in das Kinderalter versetzt, um eine größere Unmittelbarkeit herzustellen.
Das finde ich auch gut so.

aus der kurzen Mitteilung: "sie war traumatisiert, sie hat oft im Schlaf gestöhnt, die Schwestern haben geglaubt, daß sie masturbiert; darum haben sie ihr die Hände festgebunden. Als das nicht half, haben sie sie totgeschlagen." wird in der Kg die ausführliche Darstellung mit "Das darfst du nicht. Das ist eine Sünde." etc.´, bei der ich nicht sicher bin, ob sie so verstanden wird. Vielen ist der Zusammenhang Masturbation - Hände anbinden geläufig, andere kommen nicht darauf.
Für mich war es gleich klar, was die Schwestern geglaubt haben - gerade durch die "Sünde" wäre mir da gar nichts anderes eingefallen, sie kommen ja aufgrund des Stöhnens. Meiner Meinung nach hast Du das gut gelöst - so wird der Erzählerin kein Wissen untergeschoben, das sie nicht haben kann, aber der Leser kann erkennen, was für ein Mißverständnis hier vorliegt (wobei es ohne Mißverständnis natürlich nicht besser wäre).

Ich habe gerade 2 Stunden mit einem Vertreter einer Initiative telefoniert, die sich um die Aufarbeitung der Mißstände in Heimen bemüht. Er bestätigte mir den Betrieb eines staatlichen Heimes mit mehreren Todesfällen jährlich bis Mitte siebziger Jahre.
Ich finde es nicht richtig, das nur an den Todesfällen festzumachen, auch wenn sie die Spitze des Berges waren, der da abzutragen war. Auch ein KZ wäre noch keine Wohngemeinschaft geworden, hätte jemand bloß das Gas abgedreht. - Die Beiseitigung des äußersten Extrems macht die Zustände an sich noch nicht menschlich. Es hat sicher auch einige Zeit gedauert, bis man überhaupt erkannt hat, was alles geändert gehörte.
Und man sollte dabei auch den Blick auf die Psychiatrien nicht auslassen, wo es nicht nur oft die selben Zustände gab, sondern auch eine enge Zusammenarbeit. Ich weiß zum Beispiel von drei Mädchen, die aus dem Erziehungsheim ausbrechen wollten (eine mit zusammengeknoteten Leintüchern aus dem zweiten Stock, eine aus dem Erdgeschoßfenster, eine wurde beim Überklettern der Mauer erwischt, die rund um das Heim stand) - sie wurden alle wegen angeblichen Selbstmordversuchs in die Psychiatrie eingewiesen, wo sie zumindest für fünf Wochen bleiben mußten und mit Tabletten beruhigt wurden - für die Mädchen aus dem Heim gab es da schon ein eigenes Zimmer, sie wechselten einander ab. Sie mußten melden, wann sie die Regel hatten, das wurde auch kontrolliert, und wenn sie sie innerhalb der fünf Wochen nicht hatten, wurde ein Schwangerschaftstest gemacht und bei positivem Ergebnis, was bei einem Mädchen der Fall war, eine Zwangs medizinisch erforderliche Abtreibung durchgeführt. 1982. Im Heim wurde niemand mehr totgeschlagen oder niedergespritzt.
- Den Maßstab an den Toten anzulegen, ist also auf jeden Fall zu wenig und kehrt viel unter den Teppich.
Wie viele Kinder bis in die Siebziger mußten zum Beispiel im Kindergarten - weil man während des Essens nicht aufstehen durfte, in den Teller - Erbrochenes noch einmal essen oder haben das zumindest in ihrem Kindergarten gesehen? Die Kindergärtnerin in der NS-Zeit aufgewachsen - was sollte sie daran falsch finden, wenn sie selbst ja gar nichts anderes kannte? Und weil Heimkinder ja viel mehr ausgeliefert sind, da sie niemanden haben, der sich um sie kümmert, darf man da noch viel Schlimmeres als in den Kindergärten annehmen, auch wenn es zu keinem Totschlagen mehr kam.

Auf die Frage, warum in dem Heim bis zur Schließung die alte Kleidung aus dem Konzentrationslager, das dort bis 1945 bestanden hat, weiter getragen wurde, hat der zuständige Behördenleiter, heute im Ruhestand, gesagt: die mußte doch aufgetragen werden, das Land hatte doch kein Geld...
So stellt sich das heute dar.
Wenn man sich schon nichts dabei denkt, ein Kinderheim in einem ehemaligen KZ anzusiedeln, warum sollte man das dann bei der Kleidung tun?
Sie haben ja jahrelang eingetrichtert bekommen, diese und jene Menschen als minderwertige Kreaturen zu sehen, und so schnell haben die das hinterher nicht abgelegt, manche bis heute nicht. Woher sollte die Idee kommen, sich über deren Kleidung Gedanken zu machen?
Auch, daß die "Minderwertigen" die Allgemeinheit zu viel Geld kosten, haben sie über die Jahre brav gelernt - schon in den Schulbüchern hatten sie ja so schöne Rechnungen, was kostet ein Behinderter - wie viele deutsche Kinder könnten davon satt werden? Gelernt ist gelernt und solange diese praktische Kleidung zum Auftragen da war ... Sicher gab es auch noch ein paar übrige, nazibraune Zwirnspulen, damit man sie noch ein paarmal flicken konnte.

Zwei Anmerkungen noch:

ab 1970 in wenigen Jahren aufgelöst bzw. grundlegend verändert
Bitte streich "in wenigen Jahren", das klingt so, als würde sich ein Verantwortlicher dabei selbst anerkennend auf die Schulter klopfen, und ich glaub echt nicht, daß Du das willst. ;) Oder einfach "in den Siebzigern".

Weder wurden gegen die Täter ermittelt, noch wurden die Opfer entschädigt, nachträglich für die geleistete Zwangsarbeit entlohnt und Rentenansprüche aus dieser Tätigkeit anerkannt
"Weder wurde" (Einzahl), und statt dem "und" muß ein "oder" vor "Rentenansprüche".

Und irgendwie hast Du da glaub ich zwei Kritiken übersehen ... ;)

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hallo Susi,


"Trotzdem würde ich mir für die eigentliche Geschichte einen "richtigen" Schluß wünschen - eben weil sie da aufhört. "

Verstehe ich nicht. Mit dem Lied hört die Geschichte auf. In der Erzählung damals und in der Logik der Geschichte. Mit diesem Lied geht ein Lebensabschnitt der Prot. zu Ende. Zehn Jahre später hatte ich den Eindruck, sie würde immer noch die Welt durch den Schleier sehen. Ich kann nur hoffen, daß sie ihn wieder abgenommen hat.

Liebe Grüße

Set

 
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Hallo Yours truly, Jutta Owens und Häferl!

Vielen Dank für Eure Kritiken und dafür, daß Ihr diese Geschichte inhaltlich gewürdigt habt. Ich habe jetzt mit Euren Hinweisen eine Überarbeitung eingestellt. Für weitere Änderungen, die inhaltlich eingreifen, ist es für mich zu früh.

Ein paar Anmerkungen zu Euren Kritiken:
Yours:

"Zitat:
Marita schaute mich mit ihren angsterfüllten braunen Augen an.
Komma nach "angsterfüllten", und warum nicht "ängstlichen"?"

Für mich ist "ängstlich" viel schwächer als "angsterfüllt".


"Zitat:
„Nimm das Bleuel in deine Hände und arbeite!“, wurde sie von Schwester Gerhild angeherrscht.
Hm, hm. Das gefällt mir nicht. Nur die Rede, und dann anders klarstellen, wer spricht? "Nimm es in die Hände und arbeite!" Schwester Gerhild war außer sich."

Ich habe es geändert; habe aber eine Unzufriedenheit. Meine Formulierung "sie wurde angeherrscht" stellt durch das Passiv deutlicher heraus, daß Marita hier ein Objekt ist, mit dem etwas gemacht wird, was sie nicht beeinflussen kann.


"Langsam hob Marita ihre Arme, nahm das verblichene Holz des im Waschbottich" stehenden Bleuels, wobei ihre Hände sich sträubten, das Holz anzufassen, und als sich die Finger um das Holz schlossen und die Haut auf ihren Fingergelenken weiß wurde, ging ein Zittern durch die Hände und Arme.
Das ist viel zu lang und schachtelig. Sie nimmt besser den Bleuel, nicht das Holz dessen, ihre Hände sträuben sich nicht, sondern sie tut das."


Ich habe es geändert, wegen der Lesbarkeit. Ich denke trotzdem, daß sich Dissoziation auch darin ausdrückt, daß einzelne Handlungen wie von den Gliedmaßen ausgeführt oder verweigert erscheinen und ein "sie tut etwas" eben gerade nicht mehr existiert.


"Zitat:
Sie begann, das Bleuel auf und ab zu bewegen. Ich versuchte, es ihr vorzumachen, und drückte mit meinem Bleuel die Wäsche unter das heiße dampfende Waschwasser und sah sie dazu aufmunternd an.
Hier kommt das erste Mal ein "Ich" vor. Das ist blöd. Die Perspektive muss vorher klar sein, sonst weiß ich nicht, als wer ich gerade erlebe."

Nein, der erste Satz enthält ein "mich": "Marita schaute mich an." damit ist klar, daß es einen Ich-Erzähler gibt; das muß reichen; ein "Ich" gleich am Anfang ist nicht nötig. In der seelischen Verfassung der Prot. ist es mit dem "Ich" sowieso problematisch.


"Insgesamt eine tragisch-schöne Geschichte. Ich fands spanned erzählt, nie übertrieben, immer korrekt und trotzdem so beklemmend. Hier geht es nicht um Effekte, hier geht es um die Realität, wie sie ist, und gerade das macht die Erzählung so authentisch."

Danke Dir dafür. Ich habe mir ein paar ruhige Tage im Urlaub dafür genommen, bis ich die Erzählung wieder gegenwärtig im inneren Ohr hatte; dann habe ich das aufgeschrieben. Während ich mit anderen Geschichten in der Regel ein Thema abschließe, ist diese ein Einstieg; ich werde mich weiter damit beschäftigen, allerdings nicht literarisch.


jutta Owens:

"Eine bedrückende Geschichte, die ich nicht einen Moment anzweifle. Die Schulderungen der brutalen Ereignisse überlagern allerdings für meinen Geschmack die Charaktere der Mädchen und die der Schwestern, da hätte ich mehr Differenziertheit gewünscht. Aufgefallen ist mir das besonders bei dem Abschnitt, der mit "Es waren meine ersten Tage..." beginnt, wo die Person von Manuela in ihrer Not gar nicht gezeichnet wird. Sie wird so dargestellt, als mache sie alles ohne Regung mit, lediglich der Hinweis auf das Gefühl, in einem Traum gefangen zu sein, läßt etwas von ihrem Zustand ahnen. Mit Marita ergeht es mir ähnlich. Die Geschichte funktioniert natürlich trotzdem gut, weil allein die Thematik tief trifft."

Ja, wie schon öfter thematisiert: für die schnelle Erfassung ist das plastischer Herausarbeiten von Charakter und Gefühl nötig, für die authentische Wiedergabe einer Traumatisierung sind genau der Schleier und die innere Entrücktheit nötig, die auch Manuela 10 Jahre später bei ihrer Erzählung noch ausgestrahlt hat.
Die Gefühle sind so schmerzhaft, daß das Bewußtsein den Schmerz abschaltet. Jeder Versuch, jetzt in die Schilderung der Schmerzen einzusteigen, wäre eine Abschwächung.

Häferl:
"Eigentlich hab ich nur ein Problem damit, und das ist die Zeit, in der sie spielt. Ich las sie nämlich zuerst direkt in die NS-Zeit und setzte dabei geistig schon zu einigen Kritikpunkten an, bis ich am Beginn des Epilogs las: »Manuela erzählte mir im Herbst 1973 diese Geschichte aus ihrer Kindheit, die damals etwa zehn Jahre zurücklag.« Also Anfang der Sechziger. Damit fallen natürlich die auf die NS-Zeit bezogenen Kritikpunkte weg.
Aber ich denke, Du solltest das schon früher in der Geschichte deutlich machen, denn hinterher hat es irgendwie eine abschwächende Wirkung, dann ist es »nicht ganz so schlimm« – hoffe, Du verstehst, was ich meine."

Nein, verstehe ich nicht. Es gibt in der Geschichte keinen Hinweis auf die Kriegszeit; wie sollte der Leser darauf kommen? Schon gar nicht denke ich, daß die Geschichte durch die Handlung in der Nachkriegszeit weniger schlimm wäre, ganz im Gegenteil!
Einen Zeitbezug herzustellen finde ich auch deshalb nicht förderlich, weil genau dieses "ja, damals ... aber das ist ja vorbei" damit ausgelöst wird. In den katholischen Heimen war es fast ein Jahrtausend so, in den evangelischen ich weiß nicht seit wann, aber auch dort spielt es keine Rolle, ob es nun um 1930, 1940 oder 1970 geht: die Unterdrückung des Lebens durch die erstarrte Struktur unlebendiger Gottesdiener, Sadismus als Rache des ungelebten Lebens, wie Erich Fromm das nannte, wann wird das aufhören?


"Du läßt ja auch Deine Protagonistin ein wenig daran zweifeln, wenn sie sich etwa fragt, warum sie nicht zu ihrer Oma oder Tante gekommen ist, da würde ich mir also noch irgendwelche Hinweise wünschen."

Es ist ein besonderes, noch nicht aufgearbeitetes Thema der Heimfürsorge, auch der in staatlichen Heimen, daß die Opfer nicht nach außen kommunizieren durften. Verwandte, die sich hätten kümmern konnten, wußten vielfach nicht von dem Verbleib; für sie blieben die Angehörigen "verschwunden". Wußten sie von dem Heimaufenthalt, so kamen ihre Briefe nicht an und die von den Zöglingen wurden vornethalten oder zensiert. Die Tradition der Arbeitserziehungs- und Konzentrationslager wurde fortgeführt; darauf spielt der Satz mit der Tante, zu dr sie hätte kommen können, an.

Wer sich da einfühlen möchte, lese mal im Internet, z.B. bei Wikipedia, über die "Colonia Dignidad" in Chile. Gar nicht so weit weg.

"Zitat:
Die in den fünfziger und sechziger Jahren oft zu hörende Drohung „…sonst kommst du ins Heim“ macht deutlich, daß die Zustände in den Heimen nicht unbekannt, sondern vielmehr Teil des kollektiven Wissens gewesen sind.
Ja, den Satz kann ich nur unterschreiben und bestätigen, und würde ihn bitte gerne mindestens bis in die Siebziger ausgedehnt sehen. ;-) Sogar Anfang der Achtziger gab es noch mancherorts die einen oder anderen Praktiken, die seit der NS-Zeit nie abgestellt wurden."

Alles richtig, aber der weitaus überwiegende Teil der Heime wurde nach den Aktionen der späteren RAF-Gründer in sehr kurzer Zeit geschlossen oder verändert. Scheinbar hatte man große Angst, durch einen längeren Prozess der Umwandlung die Wahrheit nicht mehr unterdrücken zu können.

"Nach dem Lied wäre ich allerdings noch gerne kurz bei der Erzählerin geblieben. Wie sie zum Beispiel am Abend die Hand ins Leere streckt, oder wie ein neues Mädchen in Maritas Bett liegt und erzählt, warum es hier ist. Sie könnte aber auch ab da öfter von Marita träumen und stöhnend aufwachen."

Für mich hört das Leben der Prot. an diesem Punkt auf; alles, was danach kommt, berührt sie nicht mehr. Solche Schilderungen würden die Geschichte abschwächen.


"Das Erlebnis, die Eltern so plötzlich zu verlieren, und dann auch noch in so ein Heim verfrachtet zu werden, ohne jeglichen Trost oder Verständnis, ist ja ein extrem traumatisierendes. Dabei wird ein natürlicher Schutzmechanismus ausgelöst, der das bewußte Empfinden auf ein erträgliches Maß herunterschraubt oder auch ganz ausblendet – verdrängt. Daher paßt der Eindruck, sie mache alles ohne jede Regung mit, auch sehr gut dazu."

Hier schreibst Du es selbst. So sehe ich das auch.

Euch allen nochmal herzlichen Dank.

Gruß Set

 

Hallo Setnemides,

ich finde die Geschichte etwas betulich erzählt, warum das so ist, zeige ich dir an einem Beispiel:

Langsam hob Marita ihre Arme, nahm das im Waschbottich stehende Bleuel, wobei ihre Finger sich zögernd um das Holz schlossen und die Haut auf ihren Fingergelenken weiß wurde; es ging ein Zittern durch ihre Hände und Arme.
Versuche mal, erzählend mehr im Aktiven zu bleiben. Hier beginnst du mit einer aktiven Handlung, die du sofort in passives Geschehen änderst, in dem die Perspektive gewechselt wird. Vorschlag: Langsam hob Maria die Arme, nahm das im Waschbottich stehende Bleuel, schloss zögend ihre Finger um das Holz, bis die Haut auf den Gelenken weiß wurde und ihre Arme und Hände zitterten.

Darüberhinaus sehe ich in dieser Geschichte einen weiteren erzählerischen Kardinalfehler.
Ich lese den Text, frage mich aufgrund der Geschehnisse, in welcher Zeit und an welchem Ort er wohl angesiedelt ist, lese einen Ortsnamen, den ich sicherlich nachgoogeln könnte, aber stelle erst in Epilog fest, worum es dir überhaupt geht, welches historische Thema da aufarbeiten möchtest. In der Geschichte selbst finden die Grausamkeiten statt, die isoliert für sich stehen.
All diese Informationen hätte ich mir zum größten Teil innerhalb der Geschichte gewünscht, eingearbeitet in den Spannungsaufbau und die Geschehnisse. Auch, wenn eine Frau dir ihre Geschichte erzählt hat, hätte es die dichterische Freiheit erlaubt, Details entsprechend zu ändern. So hätte zum Beispiel eine der Freundinnen eben wegen der im Epilog erwähnten "Auffälligkeit" im Heim sein können.
Nachgeschobene Informationen zum (besseren) Verständnis einer Geschichte sind jedenfalls kein Idealzustand.

Lieben Gruß
sim

 
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Hallo Sim,

danke; die passive Form ist mir wenig bewußt, aber ich sehe sie selbst als Ausdruck der Stimmung. Die Opfer sind hier wenig durch Aktivität oder "Ich" gekennzeichnet; Yours hat ja oben ein Ich vermißt. Was Du betulich findest; soll eigentlich die lähmende Atmosphäre vermitteln. Wenn das nicht gelungen ist, versuche mal, auf dieser Grundlage den Stil zu kritisieren.

Was ich nicht verstehe, ist Deine Äußerung, die Grausamkeiten stünden isoliert für sich. Sie sind doch Teil eines Systems, das abgeschlossen und wie ein Gefängnis ist, in dem alle Formen und Strukturen konsistent mit den Grausamkeiten sind, und in dem die Macht der Kirche, Leben zu unterdrücken, alles prägt und nur ein bißchen durch die Nazi-Ideologie modifiziert wird. Den Gärtner und die protestierende Schwester habe ich eingebaut, um zu zeigen, daß auch solche Systeme innere Widersprüche haben. Also: es ist nicht das liebe Heim mit den fürsorglich bemühten Schwestern, in dem auch mal, als Ausrutscher, eine Grausamkeit geschieht; hier ist über Jahre jede Minute grausam. Wiese meinst Du, die Grausamkeiten seien isoliert?

Ich finde es sehr schwierig, Jahreszahlen und ähnliche Begleitinformationen in den Bericht aus Kinderperspektive einzubauen. Wie soll das passen? Ich finde sie auch gleichgültig; das Thema wird nicht verändert durch die Zeit, in der es spielt. Es war mir aber wichtig, die Ich-Erzählerrolle eines Kindes zu wählen. Ein Kind leistet nicht historische Aufarbeitung, sondern höchstens die Aufarbeitung seiner Traumatisierung. Bitte kritisiere mal auf dieser Grundlage, was in der Geschichte noch vermittelt werden könnte.

Zur Zeit:
Man sieht, es ist nicht Mittelalter, denn es gibt ein Auto, wenn Hitler noch an der Macht gewesen wäre, hätte ich vielleicht eine Fahne erwähnt oder das "Heil Hitler!" zum Frühstück oder einen Fahnenappell. Die Sprache der NS-Zeit ist noch lebendig; ich habe sie einer der drei Schwestern in den Mund gelegt. Würde ich weitere Informationen geben, diente das ja nicht nur der Orientierung, sondern der Entlastung der Leser: Ja, damals! Das ist ja vorbei!- Eben nicht.

Ist Dir aufgefallen, daß ich die Geschichte nicht unter Historie gepostet habe? Es geht nicht um die Aufarbeitung eines historischen Themas; auch Häferl hat ja darauf bestanden, wie lebendig das ist. Eine Initiative, die sich um Aufarbeitung bemüht, erlebt heute noch (wirklich in diesen Wochen) Vertuschungsmanöver von der Behörde, die vom Feinsten sind.

Der Epilog dient nicht dem Verständnis der Geschichte, sondern ist eine zusätzliche Information für den Leser, der über die Literatur hinaus an den Hintergründen Interesse entwickelt hat. Er ist darüberhinaus mein Einstieg: die aktuellen Nachrichten haben meine Erínnerungen geweckt.

Im übrigen glaube ich, daß die rationale Reaktion (wann? In welchem historischen Kontext?) eine Abwehrreaktion ist. Ich würde lieber den Epilog ganz streichen und die Erzählung so für sich stehen lassen, als dem Leser den Fluchtweg zu öffnen, der mit den sachlichen, einordenden Informationen für den Intellekt gegeben wäre.

In Erwartung Deiner Antwort,

Gruß Set

 
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Hallo Set,

die Tragik deiner Erzählung soll mich nicht daran hindern, auf Mängel in der von dir geschilderten Geschichte hinzuweisen.

Auch wenn das ein authentisches Erlebnis einer Frau ist, die es dir erzählt hat, wäre es noch besser zu verpacken. sim hat das teilweise schon hervorgehoben. Mich stört durch die ganze Geschichte hinweg der monotone Aufbau der einzelnen Absätze. Es ist teilweise eine statische Hintereinanderreihung von Erlebnissen, die erzählerisch viel spannungsgeladener hätten verwoben werden können. Auch dadurch, dass kaum Emotionen geschildert werden, wirkt der Text mehr wie ein Lebensbericht als eine Kurzgeschichte auf mich.

Erinnert hat mich alles an einen Film über ein Mädchenheim in England, in dem das auch bis in die 60-er Jahre so zuging. Dort wurden sie mit Gottes Segen auch noch regelmäßig vom Pfarrer vergewaltigt.

Vielleicht bist du als Autor zu nahe daran, um dich von der sicher eindringlichen Erzählung der Protagonistin zu lösen, damit deine Phantasie etwas für den Leser Ansprechenderes daraus machen könnte. Ich vermute, dass du sicher mit einem alltäglichen Thema schlechtere Kritiken für diesen Schreibstil bekommen würdest. So ist jeder erst einmal bedrückt und sprachlos und will sich keine Blöße geben, denn dein Thema ist ja ein Wichtiges.

Trotz der Intensität, mit der du in der Thematik verwoben bist, fände ich es sinnvoll, wenn du die Gedanken des neutralen Lesers nicht gleich verwerfen würdest.

Liebe Grüße
bernadette

 

Setnemides schrieb:
Ich finde es sehr schwierig, Jahreszahlen und ähnliche Begleitinformationen in den Bericht aus Kinderperspektive einzubauen. Wie soll das passen?
Nein, Jahreszahlen wäre auch gar nicht gut. Besser geht das über für die Zeit typische Gegenstände, auch wenn das in der Geschichte schwierig ist. Was mir dazu einfällt, ist: Da sie ja die Wäsche für einige Hotels waschen (wenn ich mich jetzt richtig erinnere), könnte z.B. eine der Schwestern zur anderen sagen: "Hast du schon gehört, im Hotel Post kaufen sie sich jetzt eine Waschmaschine, die alles selbst macht." - Die ersten vollautomatischen Waschmaschinen kamen in den Fünfzigern auf, richtig durchgesetzt haben sie sich aber glaub ich erst in den Sechzigern, damit hättest Du also ungefähr die Zeit getroffen - falls Du das doch noch klarer machen möchtest. ;)

Liebe Grüße,
Susi :)

 
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Hallo bernadette,

"die erzählerisch viel spannungsgeladener hätte" - dazu habe ich oft Stellung bezogen: mein Erzählstil soll nicht Spannung vermitteln, sondern die Reduzierung des traumatisierten Kindes. Spannung klingt nach Leben; hier findet kein Leben statt, ein Leben der Prot. schon gar nicht. Erzähle mir das zur "Tulipa-Hausse" oder zum "Aufbruch in die Neue Welt", da habe ich ausnahmsweise mal etwas geschrieben, das spannend sein soll.

Häferl schreibt: "Das Erlebnis, die Eltern so plötzlich zu verlieren, und dann auch noch in so ein Heim verfrachtet zu werden, ohne jeglichen Trost oder Verständnis, ist ja ein extrem traumatisierendes. Dabei wird ein natürlicher Schutzmechanismus ausgelöst, der das bewußte Empfinden auf ein erträgliches Maß herunterschraubt oder auch ganz ausblendet – verdrängt. Daher paßt der Eindruck, sie mache alles ohne jede Regung mit, auch sehr gut dazu."- Genau darum geht es. Natürlich möchte ich nicht nur Leser erreichen, die solche Einblicke schon haben, aber jeden kann man hiermit offensichtlich nicht erreichen.

"Erinnert hat mich alles an einen Film über ein Mädchenheim in England, in dem das auch bis in die 60-er Jahre so zuging. Dort wurden sie mit Gottes Segen auch noch regelmäßig vom Pfarrer vergewaltigt.en verwoben werden können."
Wenn die Geschichte Dich daran erinnert, habe ich ja viel erreicht. Warum ist die Erzählweise alter Filme und alter Geschichten denn heute tabu? Und warum war sie damals so, wie sie war? Das alles ist Ausdruck.

"Trotz der Intensität, mit der du in der Thematik verwoben bist, fände ich es sinnvoll, wenn du die Gedanken des neutralen Lesers nicht gleich verwerfen würdest."
Ich möchte keinen Betroffenheitsbonus nach dem Motto: kann nicht schreiben, nehme ernstes Thema und rutsche durch (ich gehe davon aus, daß Yours seine Stellungnahme ehrlich gemeint hat - er äußert sich da ja anders, obwohl er mit meinem Stil sonst reichlich Probleme hat.) Ich möchte Kritik, die von der Botschaft ausgeht und nicht die Botschaft infrage stellt.

Meine Frage ist also: wie kann ich die bedrückende Atmosphäre, die jungen Menschen, die schon fast aufgehört haben zu leben, besser darstellen?
Und wie kann ich das Lebensgefühl der stark traumatisierten Ich-Erzählerin besser transportieren?

Meine Frage ist nicht: Wie schreibe ich eine spannende Geschichte, die den Leser durch die Erzählweise einfängt, und transportiere mit diesem Vehikel den Inhalt?

In diesem Sinne habe ich ja auch Sim um Kritik gebeten. Auf die Spitze getrieben, führt Deine Kritik mich zu der Geschichte von "Lisa" - wo ohne innere Nähe zum Geschehen der Plot für eine "Fiction" benutzt wird. Ich glaube nicht, daß Du mich da hin haben willst. Genau dahin weist aber Dein Fingerzeig: " von der sicher eindringlichen Erzählung der Protagonistin zu lösen, damit deine Phantasie etwas für den Leser Ansprechenderes daraus machen..."- So nicht. Mir geht es mehr um die Protagonistin als um den unterhaltungssuchenden Leser. Manche finden genau das gut. "Ansprechend" kann an der Geschichte nun wirklich nichts sein. Ich will trotzdem nicht bestreiten, daß es zwischen dem "Sozialkitsch", wie es in einer Kritk von "Lisa" heißt, und der Dokumentation einschließlich pathologischem Erzählstil nicht Mittelwege gäbe.

Bitte schreibe mir eine Antwort auf die beiden Fragen, die ich oben gestellt habe. Die Geschichte gibt ja selbst einen Hinweis, wie die Erzählweise einzuordnen ist: "Alles erschien mir wie im Traum, ständig wartete ich darauf, aufzuwachen."
Solange Du meinst, die Erzählung müsse spannend oder gar lebendig werden, hast Du die Erzählerin nicht an Dich herangelassen, bzw. ich habe sie Dir nicht nahegebracht.

Liebe Susi,

danke herzlich für Deine Hinweise. Es kommt ja von Dir, daß dieses Thema eigentlich zeitlos ist. Ich meine, daß ich eine Einordnung in der Nachkriegszeit schon vorgenommen habe, aber man soll es ja dem Leser nicht unnötig schwer machen. Ich kann noch Hinweise einbauen, die aus kindlicher Perspektive passend sind und eine bessere Orientierung erlauben.

Aber denke auch mal an das, was ich Sim über das Bedürfnis nach dieser Einordnung geschrieben habe, letzter Absatz der Antwort an Sim.

Ich finde es immer schön, wenn jemand mir mit seiner Kritik hilft, die Geschichte zu schreiben, die ich schreiben möchte anstatt mir zu raten, eine andere Geschichte zu schreiben.

Euch allen Dank und Gruß

Set

 

Hallo Setnemides,

als Leser bin ich ja auf das angewiesen, was der Text mir gibt.

die passive Form ist mir wenig bewußt, aber ich sehe sie selbst als Ausdruck der Stimmung. Die Opfer sind hier wenig durch Aktivität oder "Ich" gekennzeichnet
Hier gilt es zu differenzieren. Die Opfer hier sind als Opfer selbstverständlich zu Passivität gezwungen. Trotzdem ist in meinem Beispiel von einer aktiven Handlung die Rede. Sie werden immer dann aktiv, wenn sie die Hoffnung haben, den Misshandlungen irgendwie entgehen zu können. Wenn sie den Blick der Schwestern im Nacken spüren, werden sie aktiv, sogar in der Solidarität untereinander werden sie aktiv (wenn sie sich zum Beispiel die Hände reichen). Wenn du in der passiven Schilderung des Geschehens die zur Passivität verdammte Haltung der Opfer kennzeichnen möchtest, ist es notwendig, dieses Stilmittel auch nur da anzuwenden, wo diese Passivität kennzeichnend ist, zum Beispiel, wenn die Mädchen die Prügel erdulden.
Was ich nicht verstehe, ist Deine Äußerung, die Grausamkeiten stünden isoliert für sich. Sie sind doch Teil eines Systems, das abgeschlossen und wie ein Gefängnis ist, in dem alle Formen und Strukturen konsistent mit den Grausamkeiten sind
so weit in Ordnung, aber ...
und in dem die Macht der Kirche, Leben zu unterdrücken, alles prägt und nur ein bißchen durch die Nazi-Ideologie modifiziert wird
wo steht das innerhalb der Geschichte? Nur, weil das Heim, in dem die Geschichte spielt, von Schwestern geleitet wird, hat die Kirche als Institution noch nicht zwangsläufig damit zu tun. Es kann sich immer noch um einen Einzelfall unter den Heimen handeln. Der gesellschaftliche Kontext steht, da bleibe ich stur, nur im Epilog (den ich im übrigen, da sind wir uns einig, auch streichen würde), also nicht da, wo er hingehört. Deshalb bezeichne ich die Grausamkeiten als isoliert. Der nationalsozialistische Hintergrund, die ausbleibende Wiedergutmachung, die Initiative von Baader/Meinhof/Ennslin, all das findet in der Geschichte nicht statt. Ich lese "nur" eine Geschichte über Kinder, die in einem Heim systematisch ausgebeutet und misshandelt werden. Sie sind, das ist schlimm genug, die Grausamkeiten in einem Heim, nicht generell in einem System aus Heimen. Deinem Epilog zufolge sollten sie aber Zweiteres sein. Und das ist dir innerhalb der Geschichte nicht gelungen.
Ich finde es sehr schwierig, Jahreszahlen und ähnliche Begleitinformationen in den Bericht aus Kinderperspektive einzubauen.
Darum ging es mir nicht. Eher um Details, wie Häferl sie gerade aufgeführt hat.
Ich finde sie auch gleichgültig; das Thema wird nicht verändert durch die Zeit, in der es spielt.
Eindeutig doch. Denn der Kontext, in dem es geschieht verändert sich. Kindesmisshandlungen sind in jedem Kontext schlimm, aber wenn es um die Glaubwürdigkeit einer Geschichte geht, ist es schon von Belang, ob ein Kind in den Neunzigern in ein Heim gesteckt wird, ohne zuvor nach anderen Verwandten zu suchen (darauf läge in der Gegenwart zumindest die Priorität) oder in den Siebzigern.
Es war mir aber wichtig, die Ich-Erzählerrolle eines Kindes zu wählen.
Warum, wie sollte das dem Thema dienen?
Ein Kind leistet nicht historische Aufarbeitung, sondern höchstens die Aufarbeitung seiner Traumatisierung.
Richtig: Ein Kind leistet nicht historische Aufarbeitung, nur bedingt richtig: es leistet (höchstens) die Aufarbeitung seiner Traumatisierung. In den meisten Fällen können sie diese Aufarbeitung erst als Erwachsene leisten, zuvor werden die Erlebnisse verdrängt, umgearbeitet. Da die Seele so beschaffen ist, kreativ trotz der Traumatisierungen Weiterleben zu ermöglichen, werden derer lebensrettende Maßnahmen nämlich oft erst vom Erwachsenen als Neurosen oder Psychosen erlebt und wahrgenommen. Wenn das war ursprünglich schützte, im aktuellen Leben behindert. Aus diesem Grund kann es nicht für eine Geschichte über Kindheitstraumata nur hilfreich sein, sie aus der Kinderperspektive zu erzählen, wenn das Leid nicht direkt erzählt wird, sondern zum Beispiel als Euphemismus. (Vergleiche dazu evtl. meine Geschichte "Dankesbrief")
Würde ich weitere Informationen geben, diente das ja nicht nur der Orientierung, sondern der Entlastung der Leser: Ja, damals! Das ist ja vorbei!- Eben nicht.
Das geht am Thema vorbei. Was genau ist nicht vorbei? Möchtest du sagen, in den Heimen der Gegenwart sieht es überwiegend immer noch so aus wie in dem von dir beschriebenen? Dann wäre die Zeit wirklich gleichgültig. Möchtest du sagen, die Macht der Kirchen ist bis heute ungebrochen? Dann muss der Fokus auf dieser Macht liegen, so wie im Epilog beschrieben, im Kampf der Opfer um Entschädigung, in der Vertuschung der Vergangenheit, die sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Natürlich ist die Leidenszeit für die Opfer nie vorbei. Ich würde nicht mal behaupten wollen, dass es heute nirgends Heime gibt, in denen es so zugeht wie von dir beschrieben, sogar in Deutschland hielte ich das für möglich. Aber das war es nach deinem Epilog und deinen späteren Ausführungen ja nicht, worauf du hinauswolltest.
Ist Dir aufgefallen, daß ich die Geschichte nicht unter Historie gepostet habe? Es geht nicht um die Aufarbeitung eines historischen Themas; auch Häferl hat ja darauf bestanden, wie lebendig das ist. Eine Initiative, die sich um Aufarbeitung bemüht, erlebt heute noch (wirklich in diesen Wochen) Vertuschungsmanöver von der Behörde, die vom Feinsten sind.
Ja, aber diese Vertuschungsversuche der Vergangenheit in der Gegenwart finden eben nicht in der Geschichte statt.
Im übrigen glaube ich, daß die rationale Reaktion (wann? In welchem historischen Kontext?) eine Abwehrreaktion ist.
Glaube mir, ich wehre hier nichts ab, wenn du auch nur eine meiner Geschichten kennen würdest, wüsstest du das.
Was Du betulich findest; soll eigentlich die lähmende Atmosphäre vermitteln.
Wir sind uns sicherlich darüber einig, dass es einen Unterschied zwischen Betulichkeit und lähmender Atmosphäre gibt. Betulichkeit hat etwas mit Schaukelstuhl zu tun, mit Gemütlichkeit, Wohlgefühl, also dem genauen Gegenteil von lähmender Atmosphäre. Erreicht wird diese zum Beispiel durch Satzwendungen wie der in meiner ersten Kritik schon aufgeführten, auch wenn ich da bestimmte Wörter noch nicht markeirt habe, auf die ich jetzt besonders eingehe: wobei, daraufhin, weiter, Klatsch, erneut, dann, Hierbei, jeweils, sogleich ...
All diese Wörter "plaudern", sie schaffen betuliche, gemütliche, nicht bedrohliche Atmosphäre, so als erzähltest du die Geschichte von der Couch aus. Das hat was von der Werbung, in der die beiden Jungen Kirschen spucken und sich später im Lehnstuhl noch darum kappeln. Genau das Gegenteil von
Das ist ja vorbei!- Eben nicht.

Zweites die Bedrohlichkeit konterkarierendes Element sind wertende, aber nichtssagende oder redundante Adjektive.
das heiße, dampfende Waschwasser
für die Hände ist es egal, ob es dampft, heiß reicht. Etwas anderes wäre es, wenn der Dampf aus dem Kontrast des Wassers zur kühlen Raumtemperatur rühren würde, denn wären die Finger kalt, wäre die Hitze des Wassers doppelt grausam.
Bedrohlich näherte sich ihr von hinten Schwester Gerhild
Wie sieht bedrohlich aus? Ohne es zu schildern bleibt es eine Behauptung, die mir vorgesetzt wird, die ich aber nicht erlebe.
Ich warf Marita einen auffordernden Blick zu
dito. Wie sieht ein auffordernder Blick aus?
später fragte ich mich, warum ich nicht zu meiner Tante oder zu meinen Großeltern gebracht worden bin; die hätten mich bestimmt gern bei sich aufgenommen
hier wirfst du eine Frage auf, die nie beantwortet wird. Dabei hättest du gerade da die Möglichkeit gehabt, den Systemkontext einzuarbeiten, der dahinter steckt. Denn auch mir als Leser erscheint es sehr unplausibel, dass das Mädchen nicht zu einer Tante oder zu Großeltern gebracht wurde. Ich kenne sehr viele Menschen, die während des Faschismus und während der Nachkriegszeit von Verwandten aufgezogen wurden, weil die Eltern ums Leben gekommen sind (Ich überlegte beim Lesen an der Stelle übrigens, ob es sich um das Schicksal eines Kindes handelt, dessen Eltern bei dem Versuch, die DDR zu verlassen, erschossen oder verhaftet wurden. Das hätte erklärt, warum die Verwandten nicht aufgesucht wurden. Die hätten ja als "unzuverlässig" gelten können. "Christliches Heim" vernichtete diesen Gedanken allerdings wieder.).
Weitere nichtssagende Adjektivkombinationen: bedrücktes Schweigen, glückliches Strahlen

So, das war es erstmal. Hat von 19:10 bis 21:34 gedauert.

MfG
sim

 
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hallo Sim,

danke, das hilft weiter. Es wird etwas dauern, auch bei mir. Allgemein: ich kann die Erzählung eines Kindes, als solche möchte ich sie wegen der Unmittelbarkeit, die davon ausgeht, erhalten, nicht befrachten mit Systeminformationen. Ob die Geschichte in einem Heim einmal passiert ist oder in tausend Heimen je hundertmal, soll die Geschichte nicht beantworten,; das würde sie überfrachten. Ich würde dafür mehrere Erzählebenen benötigen, die weder der Kurzgeschichte noch der Prot. entsprechen würden. Hier geht es um die Erlebnisse eines Mädchens.- Ein paar Fragen darf der Leser auch mit nach Hause nehmen. Der Epilog ist in diesem Sinne nicht als fortgesetzte Literatur, sondern als der Übergang zur Politik zu verstehen. Daß Du ihn im Forum lieber nicht sehen möchtest, zeigt ein sehr apolitisches Literaturverständnis.
Keinesfalls ist der Epilog eine nochmalige Aufzählung dessen, was die Geschichte hätte vermitteln wollen, wie Du scheinbar unterstellst.

Ich denke, das Alter der Prot. sollte spürbar sein, sie ist nicht mehr 7, aber auch noch nicht 12 Jahre alt. Sie kann einordnen, was sie erlebt,; dafür ist die Persönlichkeit ausreichend entwickelt. Was Du in "Dankesbrief" darstellst, paßt auf die Verabeitungsstrategien von Kleinkindern, die in ihrem Elternhaus mißhandelt werden, also nie in ihrem Leben die Möglichkeit hatten, ein starkes Ich aufzubauen. Die Heimkinder, jedenfalls die zwei der Geschichte, kommen jedoch aus intakten Familien und sind stark entwickelt. Sie fangen nicht spontan an, sich mit den Tätern zu identifizieren. Daß Du ein Thema wie die euphemistische Verklärung der Täter durch das mißhandelte Kind in eine schmerzhaft-groteske Weihnachtsgeschichte kleidest und sie dann auch noch unter "Satire" einstellst, übertrifft "Lisa" bei weitem. Vielleicht sollten sich diejenigen, die heute "Lisa" so verreißen, den "Dankesbrief nochmal ansehen. Ich bin gespannt, ob mir jemand zu den Ausführungen über die innere Einstellung zum Thema und die nötige Ethik des Autors mal antwortet (in meiner letzten Kritik zu "Lisa").


Zu Deinen Stilhinweisen: so finde ich sie konstruktiv, ich kann sie verstehen und umsetzen. Nur zwei Fragen bleiben mir, weil Du sie ja auch mir stellst und ich sie nicht beantworten kann:

wie beschreibt man den Ausdruck eines herannahenden Menschen, der bedrohlich wirkt, ohne ihn bedrohlich zu nennen? Und warum nicht so?

Wie beschreibt man z.B. einen auffordernden Blick auf andere Weise? Und warum soll ich den Blick nicht so benennen?

Danke,

Gruß Set

 

Hallo Setnemides,

wir können dieses Spiel aus Gegenfragen natürlich weiterspielen, dann bleibt deine Geschichte immer schön oben.

Allgemein: ich kann die Erzählung eines Kindes, als solche möchte ich sie wegen der Unmittelbarkeit, die davon ausgeht, erhalten, nicht befrachten mit Systeminformationen.
Hättest du, wenn es dir um die Unmittelbarkeit geht, die Geschichte nicht konsequenterweise in der Gegenwartsform schreiben müssen?
Daß Du ihn im Forum lieber nicht sehen möchtest, zeigt ein sehr apolitisches Literaturverständnis.
Keinesfalls ist der Epilog eine nochmalige Aufzählung dessen, was die Geschichte hätte vermitteln wollen, wie Du scheinbar unterstellst.
Noch einmal: Ich möchte den politischen Kontext innerhalb der Geschichte lesen, nicht als Epilog zu einer Kurzgeschichte. Wenn du ihn so nämlich weglässt, bleibt von der Politik nichts übrig, weil davon nichts in der Geschichte steht. Wenn das auch nicht deine Absicht war, dann ist die Frage, warum steht der politische Kontext im Nachwort? Soll dein Inhalt anhand der Geschichte oder anhand des poltischen Kontext diskutiert werden? Wenn du beides wünscht, gehört der Kontext in die Geschichte, nicht dahinter. Aber darüber werden wir uns wohl nicht einigen, Mir aber daraufhin ein apolitisches Literaturverständnis zu unterstellen, empfinde ich als unverschämt.
Auf den späteren Vorwurf, mir mangelte es an Autorenethik, gehe ich schon deshalb nicht ein, weil das nicht unter diese Geschichte gehört.
wie beschreibt man den Ausdruck eines herannahenden Menschen, der bedrohlich wirkt, ohne ihn bedrohlich zu nennen? Und warum nicht so?
Irgendwas macht den Ausdruck doch bedrohlich. Das kann ein überlegt langsamer Schritt sein, bei dem das Schlagwerkzeug vielleicht schon in der Hand liegt, es kann der scharfe Blick sein, durch den man sich kontrolliert fühlt, die Kopfbewegung, es können zusammengepresste Lippen sein, es kann die Schweigsamkeit sein, in der die Schwester von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz geht. Durch solche Beschreibungen spürt ein Leser die Bedrohung, nicht nur die Protagonistin. Wenn du den herannahenden Menschen nur als bedrohlich bezeichnest, wird der Leser in seiner Empfindung bevormundet. Deshalb nicht so.
Wie beschreibt man z.B. einen auffordernden Blick auf andere Weise? Und warum soll ich den Blick nicht so benennen?
Dito: Woraus geht die Aufforderung im Blick hervor? Vielleicht aus einem kurzen Kopfnicken in Richtung der herannahenden Schwester, vielleicht aus einer stummen Lippenbewegung, vielleicht aus einem kurzen Zucken der Lider. Aber wenn dich jemand auffordernd anschaut, woraus empfindest du die Aufforderung?

MfG
sim

 

Hallo Sim,

"wir können dieses Spiel aus Gegenfragen natürlich weiterspielen, dann bleibt deine Geschichte immer schön oben."

So ein Forum bezahlt die Autoren mit verschiedenen Währungen je nach Leistung, nicht selten stellt es auch Rechnungen aus. Die Spitzenwährung ist wohl die Rückmeldung, die den Autor weiterbringt. Das "oben stehen" oder die Zahl der vom Server registrierten Klicks sind wohl schon fast Falschgeld. Darum geht es mir bestimmt nicht.

Zum Epilog: ich wollte eine Diskussion der Kurzgeschichte als Kurzgeschichte. Der Epilog gibt für Interessierte Zusatzinformationen, deren Diskussion dann eine politische wäre, keine literarische. Die Diskussionen sind zu trennen. Es ist im Forum sehr üblich, die Reflexion von Inhalt, Hintergründen, eigener Erfahrung und literarischer Umsetzung sehr durchmischt zu führen.

Zur Unmittelbarkeit: im Präsens würde es eine völlig andere Geschichte. Ich denke, es gibt auch Unmittelbarkeit im Imperfekt. Der Unterschied ist, daß die seelischen Prozesse, die vom Ende der Handlung ausgehen, im Imperfekt schon die Beschreibung des Anfanges prägen.

Deine Ausführungen zu "bedrohlich" und auffordernd": das ist Hartgeld.

Gruß Set

 

Guten Abend, Setnemides!

Du machst durch Querverweise in anderen Threads auf diese Geschichte aufmerksam und forderst auch hier den Leser verstärkt zur Mitarbeit auf, weder bist Du mit der Geschichte fertig noch ist sie es mit Dir. Offensichtlich bist Du Dir dessen bewußt, daß die Geschichte Schwächen hat, denn sie bringt nicht, was Du bringen wolltest; es ist ein Klassiker, daß Geschichten zwischen Autorenhirn, Schreibhand und Leserhirn Federn lassen.

Meine Frage ist also: wie kann ich die bedrückende Atmosphäre, die jungen Menschen, die schon fast aufgehört haben zu leben, besser darstellen?
Und wie kann ich das Lebensgefühl der stark traumatisierten Ich-Erzählerin besser transportieren?
Meine Frage ist nicht: Wie schreibe ich eine spannende Geschichte, die den Leser durch die Erzählweise einfängt, und transportiere mit diesem Vehikel den Inhalt?
Die Nichtfrage wäre wesentlich konstruktiver, denn sie beantwortet die Fragen. Wie anders willst Du dem Leser einen Inhalt intensiv und gemäß Deiner Intention vermitteln als durch eine Geschichte, die ihn einfängt? Nur ein eingefangener Leser muß alles miterleben und kann sich nicht entziehen, und nur die Erzählweise fängt den Leser. Das Thema macht ihn neugierig, geht ihn an, betrifft ihn, regt ihn zum Denken an. Aber Du willst ja nicht, daß der Leser Deine Geschichte querliest und sich danach sagt: Hm, über das Thema sollte ich mal nachdenken. Er soll deine Geschichte lesen und fühlen, er soll mitleiden und teilnehmen, weder als Voyeur noch als geforderter Weltverbesserer oder Betroffenheitsfetischist, schon gar nicht aus politischem oder historischem Interesse, sondern aufgrund seiner Menschennatur, mit den Spiegelneuronen.
Geht man schauerlich in jedes schaurige Detail, macht man den unbedarften Leser platt (er sieht fassungslos auf all die schlimmen Bilder) und verärgert den routinierten (er fühlt sich verarscht). Das wolltest Du beides nicht und hast es auch nicht getan.
Wenn Du auf die Empathie des routinierten und hingebungsvollen Lesers setzt (davon gehe ich mal aus), brauchst Du wenig Details, aber eine lebendige, disziplinierte und genaue Erzählweise. Ich will einen Vergleich herbeizerren, der eventuell kitschig ist:
Ein Bauer, der weiß, daß sein Saatgut prima und der Boden fruchtbar ist, legt nur so viele Samen in die Erde, wie er Pflanzen haben will, und gibt jedem genug Platz, um von allein eine große Pflanze zu werden. Nachher ist der ganze Acker grün, obwohl unter dem Grün nur alle 30 cm ein Samenkorn lag.

Deine Geschichte ist durch den Erzählton zu eng geworden. Vor allem sim, ganz klar fruchtbarster Boden und überdies Deine Zielgruppe, hat Dir Romane darüber geschrieben, da gibt es nichts mehr über Hintergründe und Intentionen zu diskutieren, schon gar keine Kritik am Kritiker zu üben. Du mußt die Geschichte eben nochmal und nochmal lesen und entfilzen und feilen und straffen und schleifen. Man erklärt, was man nicht ändern will (oder nicht ändern zu können glaubt), wo man ändern will, sucht man Wege und macht sich ran.

Hier praktischer Senf zu all dem Geschwafel:

Marita schaute mich mit ihren angsterfüllten braunen Augen an. Ihre Lippen zitterten. „Nimm das Bleuel in deine Hände und arbeite!“ Schwester Gerhild war außer sich. Langsam hob Marita ihre Arme, nahm das im Waschbottich stehende Bleuel, wobei ihre Finger sich zögernd um das Holz schlossen und die Haut auf ihren Fingergelenken weiß wurde; es ging ein Zittern durch ihre Hände und Arme. Sie begann, das Bleuel auf und ab zu bewegen.
Ich versuchte, es ihr vorzumachen, und drückte mit meinem Bleuel die Wäsche unter das heiße, dampfende Waschwasser und sah sie aufmunternd an.
Der Absatz ist in vielerlei Hinsicht ein Bremser. Zu viele Details, auch Brüchigkeiten wie der Widerspruch zwischen dem zögernden Griff und dem Bild der weißen Haut, das normalerweise bemüht wird, um einen besonders festen und entschlossenen Griff zu beschreiben; es zittern erst die Lippen und dann noch die Arme und Hände, das ist zuviel und gibt Häschenbrei.
Hier mein Änderungsvorschlag:

„Nimm das Bleuel in deine Hände und arbeite!“ Schwester Gerhild war außer sich.
Marita schaute mich mit angsterfüllten Augen an. Ihre Lippen zitterten. Langsam hob sie ihre Arme und nahm das im Waschbottich stehende Bleuel, zögernd schlossen sich die Finger um das Holz.
Ich versuchte es ihr vorzumachen und drückte mit meinem Bleuel die Wäsche unter das heiße Waschwasser."

Da ist alles gesagt.

Klatsch! hatte sie eine Ohrfeige von der Schwester bekommen. Maritas Hände begannen zu zittern.
erneut kann weg, falls Du das Händezittern vorher rausnimmst.

Als Marita an der Reihe war, schlug sie so zaghaft zu, daß es fast keine Wirkung hatte. Bedrohlich näherte sich ihr von hinten Schwester Gerhild. Ich warf Marita einen auffordernden Blick zu; sie verstand und begann sogleich, fester zu schlagen. Die Schwester ging vorbei, ohne etwas zu sagen oder uns zu schlagen.
Vorschlag:

"Als Marita an der Reihe war, schlug sie so zaghaft zu, daß es fast keine Wirkung hatte. Ich warf ihr einen warnenden Blick zu; sie verstand und begann sogleich fester zu schlagen. Schwester Gerhild ging (wortlos) hinter uns vorüber."

Grauen wächst am Liebsten ganz leise im kargen Raum.

Alles erschien mir wie im Traum
Das ist komisch und klingt, als erschiene da etwas, wie etwas im Traum auch erscheinen würde, z.B. durchsichtig, schlagartig, mit Schwefeldampf oder Füßen an den Ohren.
Besser wäre z.B. "Alles erschien mir wie ein Traum", "Es war wie im/ein Traum", "Ich war wie im Traum" o.ä.

daß ein Polizist an unserer Wohnungstür geklingelt hatte und mir gesagt hatte
hatte könnte weg.
So wurde ich dann von der Fürsorgerin und einem Fahrer in einem kleinen schwarzen Auto über die holprigen Landstaßen des nördlichsten Bundeslandes nach Bad Burgstedt gebracht und dort durch die Allee den Lämmerweg aus dem Ort zum Heim gefahren.

Das Bundesland könnte man ohne weiteres beim Namen nennen, oder soll der Leser eine Pause einlegen und nachschlagen? Name oder streichen.
Auch unschön: Über nach dort durch aus zum! Wenn das alles da reinsoll, dann muß es besser fließen.

"In einem kleinen schwarzen Auto wurde ich über (evtl. Name des Bundeslands im Genitiv) holprige Landstaßen nach Bad Burgstedt gefahren und von dort durch eine Allee, den Lämmerweg, zum Heim gebracht."

Das ist sicher nicht die allerbeste Lösung und funktioniert auch nur, falls der Lämmerweg die Allee ist und sie das letzte Stück laufen. So hab ich mir das vorgestellt. Ansonsten auch hier die Kardinalsfrage: Muß das alles da rein?

Daß man hier nicht reden durfte, brauchte man mir nicht zu sagen, seit ich hier die erste Mahlzeit aß: das bedrückte Schweigen und die Angst in den Gesichtern der Mädchen waren deutlich genug. Marita hatte eine Hand unter dem Tisch und hielt sie vorsichtig in meine Richtung. Ich ergriff sie und wurde mit einem glücklichen Strahlen in ihrem Gesicht belohnt. Wir waren Freundinnen geworden.

Vorschlag: Ersetzen durch ganz wenig.

"Daß man hier nicht reden durfte, brauchte man mir nicht mehr zu sagen: Das Schweigen und die Angst in den Gesichtern waren deutlich genug. Unter der Tischplatte ergriff ich Maritas Hand (und hielt sie fest)."

Eines Abends hatte sie den Eindruck, daß ich mich nicht gründlich genug wusch; sie schrie mich an, „Manuela! Ich werde dich Reinlichkeit lehren!“, nahm einen rauhen Scheuerlappen und rieb so gewaltsam zwischen meinen Beinen, daß hinterher meine Scheide wund war. Wenn Schwester Roswitha die Aufsicht führte, wurden wir nur geschlagen. Außer den beiden gab es noch Schwester Magdalena, die deutlich jünger als die anderen beiden war. Sie schlug uns eigentlich nie.

Schwierig: Die wunde Scheide. Damit die Scheide wund wird, muß man schon etwas hineinstecken. Andererseits kannst Du nichts anderes schreiben, denn wie saudoof klängen Vulva, Schambereich oder was dergl. Gruseligkeiten mehr sind, und ein saloppes Wort geht ja erst recht nicht, also: Weglassen! Jeder weiß, was gemeint ist.

Hier Vorschlag für den ganzen Absatz:

Eines Abends hatte sie den Eindruck, daß ich mich nicht gründlich genug wusch; sie schrie mich an: „Manuela! Ich werde dich Reinlichkeit lehren!“ und rieb mit einem rauhen Scheuerlappen so gewaltsam zwischen meinen Beinen, daß ich hinterher wund war. Auch wenn Schwester Roswitha die Aufsicht führte, wurden wir geschlagen. Außer den beiden gab es noch Schwester Magdalena, die deutlich jünger war. Sie schlug uns nur selten."

nur selten ist eine Alternative zu eigentlich nie. Eigentlich nie ist Unsinn. Vielleicht war es auch garnie, dann eben: "... schlug uns nie."

Gerade fällt mir ein:
Bevor ich weitermache, müßte ich wissen:
Verstehst Du, was ich meine? Bist Du damit einverstanden? Und:
Kannst Du mit meinen praktischen Vorschlägen etwas anfangen?

Es gibt ja die Möglichkeit, daß Du sagst: Das klingt scheiße, das macht meine Geschichte kaputt, das stimmt alles gar nicht.

Jedenfalls hast Du jetzt noch einen Meinungsroman, da müssen sim und Häferl nicht alles allein schreiben, die Geschichte ist es schon wert, daran zu arbeiten.

Lieben Gruß,
Makita

P.S. Und wenn Du mit allem anderen fertig bist, dann überlegst Du Dir, ob und wo Du Hintergründe einbaust und wieviele.

 

Liebe makita,

nur zu Deiner letzten Frage: "Bevor ich weitermache, müßte ich wissen:
Verstehst Du, was ich meine? Bist Du damit einverstanden? Und:
Kannst Du mit meinen praktischen Vorschlägen etwas anfangen?
Es gibt ja die Möglichkeit, daß Du sagst: Das klingt scheiße, das macht meine Geschichte kaputt, das stimmt alles gar nicht."

Ja, es ist schon eine kleine Überraschung. Mit Deinen Ausführungen habe ich, wie Du Dir denken kannst, Probleme; ich möchte eben auch das Lebensgefühl der Erzählerin vermitteln. Aber alle deine Vorschläge sind plausibel und straffen die Erzählung, ohne den Gefühlsausdruck nachteilig zu verändern. Danke Dir!

Gruß Set

 

Eh, Du ... Seelchen!

habe ich, wie Du Dir denken kannst, Probleme; ich möchte eben auch das Lebensgefühl der Erzählerin vermitteln. Aber alle deine Vorschläge sind plausibel und straffen die Erzählung, ohne den Gefühlsausdruck nachteilig zu verändern.
Wenn man den Satz kürzt wie einen Bruch (7. Klasse), bleibt nix übrig außer den Problemen, denn:

Wenn Du siehst, daß der Gefühlsausdruck durch die Kürzungen nicht verändert wird (bzw. gar vorteilig, da nicht nachteilig), wieso denkst Du dann, das Lebensgefühl der Erzählerin könne so nicht vermittelt werden?

Ich würde an Deiner Stelle vertrauensvoll und wie wild draufloskürzen und mich überraschen lassen. Und wenn Du Dich nicht traust, dann laß die Geschichte ein wenig ruhen und diskutier' Dich nicht betriebsblind.

Lieben Gruß!
Makita.

 

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