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Maritas Hände
Marita schaute mich mit ihren angsterfüllten braunen Augen an. Ihre Lippen zitterten. „Nimm das Bleuel in deine Hände und arbeite!“ Schwester Gerhild war außer sich. Langsam hob Marita ihre Arme, nahm das im Waschbottich stehende Bleuel, ihre Finger schlossen sich zögernd um das Holz und die Haut auf ihren Fingergelenken wurde weiß. Sie begann, das Bleuel auf und ab zu bewegen. Ich versuchte, es ihr vorzumachen, drückte mit meinem Bleuel die Wäsche unter das heiße Waschwasser und sah sie aufmunternd an. Marita machte nun richtig mit.
„Wer nicht arbeitet, braucht auch nicht zu essen!“, wütete Schwester Gerhild und ging zu den anderen beiden Bottichen und sah nach, wie die Mädchen dort arbeiteten. Ein Mädchen drehte sich zu ihr um, als sie ihr über die Schulter sah, da hatte sie auch schon eine Ohrfeige von der Schwester bekommen. Maritas Hände begannen zu zittern.
Wir mußten die Wäsche zu zweit aus den Bottichen nehmen und auf langen Holzrosten ausschlagen. Ein Mädchen legte die Wäsche lang aus und das andere schlug darauf, um den Schmutz und das Waschwasser hinauszutreiben. Als Marita an der Reihe war, schlug sie so zaghaft zu, daß es fast keine Wirkung hatte. Von hinten näherte sich schweigend Schwester Gerhild. Ich warf Marita einen warnenden Blick zu; sie verstand und begann, fester zu schlagen. Die Schwester ging wortlos hinter uns vorbei.
Es waren meine ersten Tage im Kinderheim von Bad Burgstedt. Alles erschien mir wie ein Traum, ständig wartete ich darauf, aufzuwachen. Es war erst eine Woche her, daß ich mit einer Freundin, deren Eltern schon einen Fernseher hatten, einen Film gesehen hatte und später nach Haus gekommen war. Vor der Haustür hatte ein Polizist auf mich gewartet und mir gesagt, daß meine Eltern mit dem Auto verunglückt seien. Sie seien beide sofort tot gewesen. Wenige Stunden später erschien eine Fürsorgerin, packte mit mir zusammen einige meiner Sachen in eine kleine Tasche und brachte mich in dieses Heim. Ich konnte in dem Augenblick an nichts denken; später fragte ich mich, warum ich nicht zu meiner Tante oder zu meinen Großeltern gebracht worden bin; die hätten mich bestimmt gern bei sich aufgenommen.
Ich wurde von der Fürsorgerin und einem Fahrer in einem kleinen schwarzen Auto über die holprigen Landstaßen Schleswig-Holsteins nach Bad Burgstedt in das Heim gefahren. Hier würde es mir bestimmt gut gehen, hatte die Fürsorgerin gesagt, es wäre ein christliches Heim, in dem die Kinder mit Liebe betreut würden.
Der Speisesaal war groß und hoch, die gescheuerten Holztische standen in Reihen, daneben auf beiden Seiten Bänke. Marita saß neben mir; niemand sprach. Daß man hier nicht reden durfte, brauchte man mir nicht zu sagen: das bedrückte Schweigen und die Angst in den Gesichtern der Mädchen waren deutlich genug. Marita reichte mir unter dem Tisch ihre Hand; ich ergriff sie und wurde mit einem Strahlen in ihrem Gesicht belohnt.
Abends mußten wir uns nackt in einem großen Waschraum waschen. Manchmal führte Schwester Gerhild die Aufsicht. Eines Abends hatte sie den Eindruck, daß ich mich nicht gründlich genug wusch; sie schrie mich an, „Manuela! Ich werde dich Reinlichkeit lehren!“, nahm einen rauhen Scheuerlappen und rieb so gewaltsam zwischen meinen Beinen, daß ich hinterher wund war. Wenn Schwester Roswitha die Aufsicht führte, wurden wir nur geschlagen. Außer den beiden gab es noch Schwester Magdalena, die deutlich jünger als die anderen beiden war; sie schlug uns nie.
Marita schlief in dem Bett neben mir. Ich hatte schon bemerkt, daß sie manchmal nachts stöhnte. Wir gaben uns die Hand, von Bett zu Bett, und sagten uns damit schweigend gute Nacht. Marita schlief schnell ein, während ich lange wach lag. Durch die Freundschaft mit Marita war ein Stück Leben zurückgekommen; es brachte mich dazu, über die vergangenen Tage nachzudenken. Es war so kurze Zeit vergangen und doch schien mir mein zu Hause weit hinter mir. Wie war es meinen Eltern ergangen? Wie war der Unfall passiert? Wann wurden sie beerdigt? - Mit einem Mal stöhnte Marita laut auf, schrie kurz: ein schriller, gellender Schrei. Schwester Roswitha kam in den Saal gestürzt, zischelte etwas von „das darfst du nicht tun, das ist eine schwere Sünde“ und „der Herr möge dir vergeben“ und schlug heftig auf Marita ein. Schwester Gerhild war dazugekommen; gemeinsam banden sie Maritas Arme am Bettgestell fest. „So, nun kannst du nicht mehr sündigen.“ Ich lag steif im Bett und wagte es nicht, mich zu rühren.
Morgens wurde Marita losgebunden. Eines der anderen Mädchen hatte in dieser Nacht ins Bett genäßt. Schwester Gerhild schrie sie an: „Dir werde ich Reinlichkeit beibringen!“, schleifte sie an den Haaren in die nächste Toilette und schloß die Tür hinter sich. Wir hörten die Schreie des Mädchens, dazu das dumpfe Schlagen ihres Kopfes gegen die Wand. Stille. Schwester Gerhild schloß die Tür wieder auf und zog das Mädchen, das offenbar bewußtlos war, hinter sich her, durch den Flur, die Kellertreppe hinunter in den „Bunker“ genannten Raum, der für Strafen als Gefängnis diente. Ihr Weg wurde durch eine dicke Blutspur gezeichnet. Unten angekommen, verriegelte sie laut hörbar die schwere Tür. Wir übrigen bekamen den Befehl, „sauberzumachen“. Wir holten die Wischeimer und Feudel und putzten das Bad, in dem sich am Boden eine riesige Blutlache ausbreitete und von oben bis unten alle Wände mit Blut bespritzt waren, den Flur und die Stufen der Kellertreppe. Bei jedem
Auswringen lief es wie reines Blut aus dem Feudel über unsere Hände, bis das Wasser im Eimer dunkelrot war. An der Tür zum Bunker lauschten wir voller Angst; es rührte sich nichts.
Auf dem Weg zum Speisesaal kamen wir am Schwesternzimmer vorbei und hörten, wie sich die Schwestern lautstark stritten. Schwester Magdalena rief immer wieder:
„Das dürft ihr nicht! Das ist Sünde!“, während Schwester Roswitha dagegen hielt:
„Nur mit Strenge können wir sie auf Gottes Weg bringen!“ und Schwester Gerhild wie immer von „Zucht und Ordnung“ und von „Abhärtung“ sprach.
Die anderen Mädchen nahmen nicht erkennbar Notiz davon; sie schienen es gewohnt zu sein.
Es dauerte drei Tage, bis das Mädchen aus dem Bunker geholt wurde und wieder mit uns essen und schlafen durfte. Sie hatte große rote und blaue Wunden am Kopf und im Gesicht; sie sah uns seitdem nicht mehr an, sondern immer nur nach unten; ihr Blick war leer geworden.
Nachmittags mußten wir oft im Garten arbeiten. Der Gärtner, ein gutmütiger alter Mann, beaufsichtigte uns, aber er war nicht streng, sodaß wir sogar miteinander reden durften. Marita und ich hackten nebeneinander in einem Beet und ich fragte sie, wovon sie träume, wenn sie nachts aufwachte und schrie. Sie schaute mich angstvoll an und wandte den Blick wieder ab. Schließlich sagte sie:
„Von meinen Eltern.“
„Waren sie nicht gut zu dir?“, fragte ich nach.
„Meine Eltern waren sehr lieb“, antwortete sie.
„Was war dann so schlimm?“, wollte ich nun dringend wissen.
„Die Einbrecher“, antwortete sie.
„Einbrecher? Was haben die gemacht?“
„Sie haben meine Eltern getötet.“
Ich bekam einen Schreck. Ungläubig starrte ich sie an.
„Und du … du warst dabei?“, fragte ich.
„Ja. Meine Eltern haben mir gesagt, ich solle mich schnell verstecken. Ich bin unter das Bett gekrochen. Von dort aus habe ich alles gesehen.“
Ich fühlte, wie diese Nachricht langsam von mir Besitz ergriff, den Bauch und die Glieder schmerzhaft erglühen ließ. Gleichzeitig sah mich Marita so offen und hoffnungsvoll an, daß ich sofort begriff, daß sie das bisher noch niemandem anvertraut hatte.
„Das muß sehr schlimm gewesen sein“, sagte ich, ohne die Hoffnung, sie damit trösten zu können.
Wenn die gewaschene Wäsche von den Kunden, den Hotels der Umgebung, abgeholt wurde, mußten wir immer in die hinteren Arbeitsräume gehen, damit wir von dem Fahrer nie gesehen wurden. Schwester Magdalena war manchmal dabei und paßte auf uns auf. Sie hatte ein bedrücktes, rundliches Gesicht und war nie streng. Trotzdem schwiegen alle, auch weil wir spürten, daß sie mit den anderen Schwestern Ärger bekommen würde, wenn sie uns nicht ruhighielt. Schwester Magdalena lief oft am Tage in die kleine Kapelle, die zum Heim gehörte, um zu beten. Sie war die einzige, die das tat.
In einer der kommenden Nächte lag ich wieder wach, während Marita und die anderen schliefen. Marita begann, leise zu stöhnen. Schließlich wurde ihr Stöhnen lauter und ich bekam Angst um sie. Die Tür wurde aufgerissen, und Schwester Gerhild und Schwester Roswitha kamen in den Saal, schlugen Marita, daß sie aufwachte und vor Schmerzen heulte. „Du sündigst schon wieder. Du darfst nicht sündigen!“, schrie Schwester Roswitha wieder und wieder. Schließlich banden sie Maritas Hände wieder an das Bettgestell und verließen den Schlafsaal.
Marita weinte still. Ich streckte eine Hand aus, um sie zu berühren und zu zeigen, daß sie nicht allein ist. Sie streckte ihre Hand zu meiner; mühelos löste sich das Band, mit dem die Hand gefesselt worden war. So hielten wir uns die Hände. Plötzlich wurde wieder die Tür aufgerissen, wir nahmen sofort unsere Hände unter die Decken. Schwester Gerhild kam herein und stellte sich mächtig vor Maritas Bett auf. Sie sagte nichts, aber ihre kochende Wut konnte ich mit geschlossenen Augen spüren. Schließlich bemerkte sie, daß Maritas eine Hand wieder gelöst war.
„Na warte!“, sagte sie und verließ den Saal. Kurz darauf kam sie mit Schwester Roswitha zurück; beide trugen Wäschebleuel.
„Auch dich werden wir auf den rechten Weg bringen!“, rief Schwester Roswitha und beide schlugen mit den Bleueln auf Marita ein. Marita stöhnte nur einmal leise vor Schmerz; dann blieb sie stumm. Die Schwestern hieben auf sie ein, bis sie erschöpft von ihr abließen. Als sie die Tür des Schlafsaales hinter sich geschlossen hatten, entstand eine unerträgliche Stille im Raum, und ein Gefühl von Leere, das vorher nicht da war. Ich wagte es nicht, mich zu rühren. Erst nach langer Zeit flüsterte ich:
„Marita! Marita! So sag doch etwas!“ Ich streckte angstvoll meine Hand aus. Marita rührte sich nicht.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Maritas Bett leer. Schweigend wuschen wir uns und gingen in den Speisesaal zum Frühstück. Niemand sagte etwas oder fragte. Nach dem Frühstück sollten wir alle aufstehen, da Schwester Roswitha etwas bekanntgeben wollte.
„In der vergangenen Nacht hat der Herr unsere Marita zu sich genommen. Ihr nehmt draußen Aufstellung; wir werden geordnet zum Friedhof gehen, um sie beizusetzen. Ich erwarte, daß ihr in Zweierreihen geht und niemand spricht. Wer dagegen verstößt, bekommt drei Tage Bunker.“
An das folgende kann ich mich nur schwach erinnern. Ich weiß nicht mehr, wie wir den Lämmerweg hinunter in den Ort und zum Friedhof gegangen sind und ob es eine Predigt gab oder nicht. Die ganze Welt erschien mir wie hinter einem grauen Schleier, unwirklich und weit weg. Als wir im Kreis um das geöffnete Grab herum standen, sah ich verschwommen die anderen Mädchen. Nur an das Lied kann ich mich noch genau erinnern; wir sangen:
So nimm denn meine Hände
und führe mich
bis an mein selig Ende
und ewiglich!
Ich mag allein nicht gehen
nicht einen Schritt;
wo Du wirst gehn und stehen,
da nimm mich mit!
In dein Erbarmen hülle
mein schwaches Herz
und mach es gänzlich stille
in Freud und Schmerz!
Laß ruhn zu deinen Füßen
dein armes Kind;
es wird die Augen schließen
und glauben blind.
Wenn ich auch gleich nichts fühle
von seiner Macht,
Du führst mich doch zum Ziele
auch durch die Nacht.
So nimm denn meine Hände
und führe mich
bis an mein selig Ende
und ewiglich!
Epilog
Manuela erzählte mir im Herbst 1974 diese Geschichte aus ihrer Kindheit, die damals etwa zehn Jahre zurücklag. Personen- und Ortsnamen sind verändert, das Bundesland nicht. Es handelte sich um ein evangelisches Heim in Schleswig-Holstein.