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Marla
Sie bemerkt, dass sie meinen Namen nicht weiß. Wir gehen täglich den gleichen Weg vom Großraumbüro zur Teeküche, das seit drei Wochen. Ich bin neu im Büro. Sie weiß meinen Namen nicht. Das ist für mich nicht weiter schlimm. Menschen merken sich meinen Namen nicht. Nicht, dass er kompliziert ist, nein, aber es ist einfacher „Die da“ zu sagen, da sind zwar Verwechslungen häufiger, aber wenn man über andere lästert, bleibt verborgen, über wen man spricht.
Jedenfalls weiß sie nicht, wie ich heiße.
Marla.
So nenne ich mich im Internet.
Roush und ich haben uns auf einer dieser zahllosen Kontaktanzeigen-Seiten im Netz getroffen, die überall sind, als Pop-Up-Fenster oder Spam-Email. Schrecklich verlockend.
Marla.
So wollte ich immer meine Tochter nennen. Aber meine Realität beschränkt sich inzwischen auf den Weg zur Arbeit, Fünf-Minuten-Fertig-Gerichte, und den verzweifelten Versuch, unserem Admin klar zu machen, dass ich eine Langzeitstudie über die Erfolgsquoten unendlich vieler Kontaktanzeigen-Seiten durchführe und deswegen diese Seiten einen so hohen Traffic haben. Und schlafen, das ist auch noch Teil meiner Realität, meistens alleine oder mit irgendwelchen Loosern, von denen ich mich aufreißen lasse, um mir vorzumachen, dass ich begehrenswert bin. Sex ist dann kein Thema mehr, nachdem ich sie wild knutschend in meine Wohnung gezerrt habe. „Ficken is ni, aber du kannst hier pennen, wenn du willst.“ Die meisten sind irritiert und ziehen Leine. Wenige zucken mit ihren hageren Schultern und fassen mir zwischen die Beine, woraufhin ich ihnen ins Gesicht spucke und sie aus der Wohnung prügle. Ein oder zwei bleiben, nachdem sie gemerkt haben, dass es sinnlos ist, mich überzeugen zu wollen und ich sie brauche. Wie sie mich. Dann liegen wir da wie Bruder und Schwester und schlafen ein.
Meine Realität also, kein Kind, das Marla heißt, dafür aber die erwähnten erfreulichen Lebensumstände.
Marla.
Man muss das „r“ ganz leicht kratzig rollen. Dann bekommt der Name seinen schönsten Klang. Aber nie höre ich ihn jemanden sagen.
In einem dieser tausend Chat-Rooms sagt Fritzi79 zu mir:
„Marla, magst du Fight Club, oder weswegen dein Nick?“
Ich hämmere mein Leben in verfickte pinke Pixel.
„Ja, Fritzi79, ich mag Fight Club. Und du, bist du so fett wie der fette Bob?“
Fritzi79 setzt mich auf seine Ignore-List und ich habe einen Buddy verloren, der mich doch so gut zu kennen schien. Schade.
Marousha-Green-Blow-Fuck-Yourself-A-Merry-Day-Christmas fragt mich um die Weihnachtszeit rum (habe ich erwähnt, dass ich kreative Namen zum Kotzen finde?), ob ich schon mal Sex mit Frauen gehabt hätte. Ich weiß nicht mehr, wie wir darauf gekommen sind. Wahrscheinlich der Name, der bringt immer Schwierigkeiten, man sollte Namen überhaupt abschaffen. Ich sage zu Marousha-Green-Blow-Fuck-Yourself-A-Merry-Day-Christmas, dass ich noch keinen Sex mit Frauen gehabt hätte, ob sie denn schon? Nein, sie sei zu schüchtern dazu. Prima, sage ich zu Marousha-Green-Blow-Fuck-Yourself-A-Merry-Day-Christmas, da könnten wir einen Verein gründen. Wir labern eine Weile weiter und machen uns gegenseitig ganz schön heiß, wie wir so davon schreiben, was wir uns gut vorstellen mit einer anderen Frau, was aber unter uns bleiben müsse. Marousha-Green-Blow-Fuck-Yourself-A-Merry-Day-Christmas schickt mir einen :blushing red: Smilie und ich drück auf den Post Reply Icon und schreibe meine Telefonnummer in diesmal wunderbar hellblaue Pixelhaufen.
Sie ruft zwei Tage später an. Ich nenne sie Roush (eine Abkürzung von Marousha-Green-Blow-Fuck-Yourself-A-Merry-Day-Christmas, die so klingt wie „Rush“).
Sie sagt Marla zu mir.
Es ist komisch, wenn jemand einen Namen zu dir sagt, den du nie jemanden sagen gehört hast. Es ist besser, jemanden Marla sagen zu hören, als Schatzi oder Mausi. Es ist so dunkel und schön und sie hat eine rauchige Stimme und rollt das „r“ leicht kratzig, so wie ich.
Wir unterhalten uns über unsere Lieblings-Fünf-Minuten-Fertig-Gerichte und Lieblings-Kontaktanzeigen-Seiten. Lachen viel. Verstehen uns gut. Machen uns an. Roush erzählt von ihrem einzigen Versuch mit einer Frau und kurz bewundere ich sie für ihre Offenheit. Immerhin sind wir hier am Telefon miteinander, nicht in einem Chat-Room oder Forum, in dem man seine Posts wieder editieren kann.
Ich sage „Roush, wir müssen uns unbedingt mal treffen“, nachdem sie mit ihrer Fast-schon-mal-mit-einer-Frau-Story durch ist und plötzlich anfängt, vor sich hin zu summen, eine Melodie von Judy Garland. „Somewhere Over The Rainbow“. Sie summt langsam, aber ich komme in Fahrt und vergeistige ihr Gesumme ein paar Dutzend bpm schneller.
Love Parade. Berlin. Zuckende Menschen auf der Winter Lounge Aquasurf Party.
Roush sagt „Na klar, wo wohnst du?“ Ich lege auf.
Verkrieche mich in die Anonymität meines Lieblingschats auf wehende-pferdemaehne.nu. Dann ziehe ich mir noch ein paar japanische, koreanische und amerikanische Flash-Animationen rein und tippe mich zur Received-Calls-List meines Must-Have-Handys Sidekick II durch. Ihre Nummer ist sinnlich. Time Of Call. Schon 23 Minuten her. Ob sie mir verzeihen kann? Sidekick II glitzert verführerisch und ich lasse wählen.
„Roush?“
„Was willst du?“
„Roush, ich ... es tut mir leid. Ich würde dich gerne sehen. Irgendwie kriegen wir das hin, ja?“
Sie schweigt, mein Sidekick II sagt auch nichts.
„Roush ....?“
„Okay. Nächsten Donnerstag in Frankfurt.“
„Woher weißt du, dass ich aus Frankfurt bin?“
„Oh, ich dachte nur, Frankfurt, hat so hohe Häuser, einen prima Bahnhof und so.“
Ich muss lächeln. Vielleicht hab‘ ich endlich eine echte Freundin, zu der ich gehen kann, heißen Kakao trinken und über das miese Wetter schimpfen. Ich frage sie nicht, ob sie auch in Frankfurt wohnt, gehe ihr nicht weiter auf die Nerven.
„Wir sehen uns online. Ich freu‘ mich. Mach‘ dir eine schöne Woche.“
Ihre letzten Worte sauge ich hinein in mich, wie ein gieriger Vorwerk-Staubsauger.
Roush und Marla. Eine Eile und ein kratzig gerolltes „r“.
Heute ist Donnerstag und ich bin auf der Arbeit.
Meine Kollegin Carina sieht mich komisch an, ich denke, was will die Schlampe, die soll nicht so verschissen arrogant zu mir schauen, ich habe nichts verbrochen, sondern ein Date am Abend in der Luna Bar. Mit Roush.
„Wie heißt du eigentlich?“
Ich lass sie zappeln, ich habe heute gute Laune. Roush ...
„Keine Ahnung, such dir einen Namen aus.“
Ein bisschen komme ich mir vor wie Julia Roberts in Pretty Woman, aber da sitzt nicht Richard Gere neben mir in einer verdammt heißen Karre, sondern Carina, meine High-Heels-zu-allem-tragende Kollegin. Eigentlich mag ich sie. Sie hat rote Haare, das finde ich süß.
„Johanna, aber du kannst Jojo zu mir sagen. Jojo wie Madame Jojo’s in Soho. Naja, oder wie der Spitzname von einem Typen, den ich mal toll fand, der mich aber nie an sich ran gelassen hat.“
Oh Gott, was erzähle ich hier bitte meiner Kollegin Carina für einen Mist?
„Okay, Johanna, schön, ich bin Carina.“
„Äh, ich weiß. Bis später.“
Carina werde ich nie wieder sehen.
Mein Taxi hält vor der Bar und ich steige aus. Es ist drei Minuten vor um elf.
Roush ...
Ich werde sie riechen, sehen, hören, vielleicht sogar schmecken und fühlen. Ich bin aufgeregt wie ein kleines Mädchen, das zum ersten Mal auf einen Kindergeburtstag geht. Im schönsten Kleidchen und mit all den Geschichten im Kopf, die der große Bruder über wilde Gelage und Spielereien verraten hat.
Eine Minute vor um elf betrete ich tief einatmend die Bar. Es ist angenehm, ich bestelle einen Cocktail und setze mich an den Tresen, nachdem ich Roush im Raum nicht gesehen habe.
Der Manhattan schmeckt phantastisch. Ich genieße.
Zwei Minuten nach um elf.
Ich hasse neben kreativen Namen Unpünktlichkeit auf das Letzte. Jeder Hirni hat ein verficktes Mobiltelefon, verabredet sich wichtig zur gleichen Verabredung dreimal, damit ja alles geklärt ist und nichts schiefgehen kann und dann kommt man zu spät. Das darf doch nicht wahr sein!
Ruhig, es ist der entspannte Anfang eines Dates, Marla, sage ich leise zu mir selbst und sehe um sechs Minuten nach um elf Roush zur Tür herein kommen.
Roush ...
Hush, hush, darling ...
Mein Puls zerbirst mein Handgelenk, ganz zu schweigen von meinem Brustkorb. Ich war lange nicht so angespannt.
„Hi“ hauchen wir gleichzeitig. Küsschen eine Wange, Küsschen andere Wange.
„Einen White Russian, bitte.“
Sie sieht umwerfend aus. Sie hat einen dunkelblauen knielangen Rock an, einen schwarzen Pullover und süße schwarze Schuhe. Ihre Haare sind dunkel und enden kurz über ihren Ohrläppchen, die die schönsten Ohrläppchen sind, die ich je gesehen habe.
Sie lächelt ein Milchmädchenlächeln und kleine Grübchen bilden sich in ihrem Gesicht.
Ich liebe sie.
Nach drei Minuten Roush bin ich bereit, mein Leben zu ändern.
Ich liebe sie.
Roush ...
Hush, hush, darling ...
Mein Sideclick II vibriert, gleich wird diese kindische Melodie aus meinem Monats-Sparpaket für Klingeltöne erklingen, ich suche wie wild, das Ding hört nicht auf und ist einfach weg. Verdammt.
„Hier, es liegt hier, Marla.“
Ein Milchmädchenlächeln später und ich erfahre, dass meine Putzfrau einen Unfall hatte und morgen nicht kommen kann. Ich bin erleichtert, wir können ausschlafen, die fette Trulla wird nicht um 7.30 Uhr vor der Tür stehen. Ich sage, dass das kein Problem sei und wünsche Gute Besserung.
„Alles okay, ich mach das mal aus, findest du es nicht auch furchtbar, wie abhängig man inzwischen von solchen Dingern ist?“
„Ich hab keins.“
Wir sonnen uns mehrere Drinks lang in unserem Beisammensein. Verraten uns, welche schlimmen Schülerstreiche wir gemacht haben und so Zeug. Ziemlich betrunken gehen wir um viele Stunden später. Der Kellner hat uns ein Taxi gerufen. Roush hat einen roten Schal und vergessen, wo sie wohnt. Sagt sie und ob sie nicht bei mir übernachten könne. Im Gästezimmer auf „Anne-Rose“, meiner Gästezimmerschlafcouch. Ich sage, ja, na klar, die fette Trulla komme ja morgen nicht. Da könne sie ausschlafen. Sie sagt, das sei schön und hakt sich bei mir unter, obwohl sie gar keine Stütze nötig hat, denn wir sitzen im Taxi und ich höre mich Grüneburgweg sagen.
„Mensch, schicke Gegend.“
„Der Park ist toll, ich gehe zur Tür raus und falle ins Grüne.“
Bleichstraße Ecke Eschenheimer Tor lächelt sie das bisher schönste Milchmädchenlächeln des Abends. Ich muss an ihren Nickname denken und spreche sie darauf an. Sie kichert. Ja, der sei blöd, aber zu dem Zeitpunkt sei sie so wahnsinnig wütend gewesen, alle Welt war schon im September am Weihnachtsgeschenke-Kaufen und sie hätte es so satt gehabt. Sie kichert nochmal. Diese Grübchen ...
Auf der Eschersheimer Landstraße wird mir das Kribbeln im Bauch unerträglich.
„Roush, was wäre eigentlich, wenn wir, also, du weißt schon, was, denkst du wäre dann?“
Sie lehnt sich zu mir herüber und streicht mir eine Locke aus dem Gesicht. Mit ihrem Zeigefinger fährt sie über meine Lider, meine Wangen, meine Lippen.
Ich muss weinen und lasse mich wimmernd in ihren Schoß sinken, sie streichelt mir das Haar, summt „Somewhere Over The Rainbow“. Als der Taxifahrer das Licht anmacht, wache ich erschrocken auf. Roush zahlt, ich krame schlaftrunken nach meinen Schlüsseln.
In der Wohnung angekommen, zeige ich Roush ihr Zimmer und wir sitzen in der Wohnküche und warten darauf, dass die Milch kocht. Erschöpft und fasziniert sehe ich zu, wie sie sie braunes Pulver in weiße Flüssigkeit rührt.
„Hier, dein Kakao. Ich spring schnell unter die Dusche, ja?“
„Na klar, lass dir Zeit, fühl‘ dich wie zu Hause.“
In meinem Bad sind türkisfarbene und schwarze Fliesen an den Wänden, in meinem Spiegel grinst ein verliebtes Luder. Bin das ich? So schelmisch und froh? Ich kann’s nicht fassen. Im Gästebad höre ich Roush summen. Sie summt immer das gleiche Lied, von den glücklichen Vögeln, die über den Regenbogen fliegen können. Und dass ich sie dort finden werde.
Wir finden uns in einem Kuss am Treppenabsatz. Zart und klein und müde. Lebensleer. Liebesvoll.
„Gute Nacht, träum was Schönes, Marla.“
Sie geht nach unten zu „Anne-Rose“.
Ich weiß nicht, warum wir nicht miteinander geschlafen haben. Aber es war schön so. Sie hat mir gezeigt, dass ich noch lieben kann. Ich werde ihr Milchmädchenlächeln nie vergessen.
„Marla, du kleines, dummes Mädchen, was machst du nur für Sachen? Deine ganzen Spielereien, deine Ideen, deine Liebe, alles scheinst du wegzuwerfen, billigen Götzen zum Fraß. Na komm, mein Kleines, sei stark, gleich ist es vorbei. Sei stark.“, sage ich laut, wie ich es zu meiner Tochter hätte sagen wollen. Zärtlich, voller Liebe, Zuversicht und immer wieder Liebe.
Ich zucke kurz, dann erschrecke ich ernstlich über die Wärme meines Blutes und verliebe mich in den Gedanken, schwach sein zu wollen, aber ich muss da jetzt durch. Meine Gedanken sind meine letzten und ich sinne über das letzte Wort nach, das ich sagen will. Milchmädchenlächeln ist zu lang.
„Marla.“