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Mary
Im Folgenden bringe ich die Ereignisse der letzten Tage zu Papier. Einerseits, um meinen Verstand wieder in klare Bahnen zu lenken, anderseits – und das wird wohl der wahre Grund sein – weil ich dadurch ein wenig Zeit gewinnen kann. Ein wenig Zeit, bevor ich meine Feigheit ablegen und eine endgültige Entscheidung treffen muss.
Schuld an alledem ist Mary.
Es begann damit, dass ich diese fremdartige Pflanze im Schaufenster eines Blumengeschäfts erblickte. Sie war etwa eineinhalb Meter gross und hatte einen kräftigen Stamm, das Holz eine Nuance unter Schwarz. Handbreite Blätter wucherten aus dem Stamm, einige fast einen Meter lang. Auf der blaugrünen Grundfarbe waren sie über und über von tiefroten Linien gezeichnet, die wie nässende Schnittwunden glänzten und ihnen ein fleischiges Aussehen verliehen. Eigentlich war diese Pflanze ein groteskes, ein hässliches Ding. Trotzdem kaufte ich sie.
Zuhause stellte ich sie vor die Kommode, die in der linken Ecke meines kleinen Zimmers stand. Da sie hier ausserdem genügend Tageslicht durch das Fenster erhalten würde, erschien mir der Platz perfekt.
Ich musste an Mary denken, und ich beschloss, die Pflanze nach ihr zu benennen, wie ich schon meinen Hund nach ihr benannt hatte. Der Hund ist tot, und Mary habe ich zuletzt gesehen, als sie im Gerichtssaal gegen mich ausgesagt hat – doch der Gedanke an sie hat sich in meinem Hirn verbissen und frisst sich jeden Tag ein Stück tiefer.
Mary Stern. Sie war meine grosse Jugendliebe gewesen, und ich liebe sie noch heute. Ich hatte sie so lange fast rasend vor Glück und Stolz ausgeführt, bis ich herausfand, dass ihr eigentlich nur etwas an meinem Roller und dem damit verbundenen Komfort lag und sie sich zur körperlichen Ertüchtigung lieber mit Phil Andor im Schuppen hinter ihrem Haus traf. Und ich Idiot hatte sie noch nicht einmal nackt gesehen. Ja, sie war ein Succubus gewesen, ein verdammter Dämon mit langen blonden Haaren und betörenden Kurven.
Im Badezimmer auf dem Flur füllte ich ein Glas mit Wasser, gab ein wenig Flüssigdünger hinzu und goss meine neue Mary mit diesem Gemisch. Das Licht der Abendsonne fiel nun direkt auf ihre langen, dicken Blätter und liess deren seltsame Musterung blutrot erstrahlen.
Am nächsten Morgen wachte ich schweissgebadet auf. Drückende Hitze herrschte in meinem Zimmer, und ich war von der tropischen Luft völlig benommen. Müde glitt mein Blick über das „Boogie Nights“-Poster an der Wand, weiter zum Fernseher, über die Trainingshose am Ende des Bettes – und erstarrte dann in der linken Ecke des Raumes. Die Luft dort flimmerte und war von Hitzeschwaden durchzogen. Dahinter war Mary nur unscharf zu erkennen.
Ich eilte zum Fenster und riss es auf. Der kühle Schwall Luft war wundervoll. Im selben Moment begann die Pflanze zu fauchen.
Ich erschrak und sprang rückwärts und rammte mir dabei die Ecke eines Fensterflügels in den Rücken. Doch ich beachtete den Schmerz nicht und begaffte mit offenem Mund dieses exotische Schauspiel.
Das Fauchen kam von den roten Linien. Sie waren nun viel breiter und hatten sich zu tiefen Furchen entwickelt. Wie offene Schnittwunden, die nicht bluteten, aber zischend gegen die kühlende Morgenluft protestierten.
Und die Blätter waren gewachsen. Sie bedeckten die Kommode dahinter fast vollständig, nur eine Ecke ragte noch trotzig aus dem dichten Grün. Es war, als würde Mary ihr Revier abstecken.
Ich schob einige der Blätter beiseite. Der gestern schon massive Stamm hatte nun einen Durchmesser von etwas über zwanzig Zentimetern. Sollte Mary in derselben Geschwindigkeit weiter wachsen, würde bald ein grösserer Topf vonnöten sein.
Mittlerweile war das Fauchen leiser geworden und das Flimmern verschwunden, und ich konnte meine Gedanken wieder ordnen. Ich überlegte mir, den Blumenhändler im Kaufhaus zu konsultieren oder gar von meinem Umtauschrecht Gebrauch zu machen. Eine Pflanze, die im Zeitraffer wuchs, konnte ich nicht gebrauchen, und sei sie noch so faszinierend bemustert.
Meine Motivation, diesen monströsen Strauch durch das wie jeden Samstag massiv überfüllte Kaufhaus zu schleppen, hielt sich jedoch in Grenzen, und telefonisch würde mir der Blumenmann kaum helfen können.
Da mir nichts Besseres einfiel, beschloss ich, das Problem auf Montag zu verschieben. Dann würde ich sie ohne Gedränge und Geschubse zurückbringen können.
In der folgenden Nacht fand ich kaum Schlaf. Ruhelos wälzte ich mich auf meiner Decke hin und her, während Schweiss durch meine krampfhaft geschlossenen Augenlider sickerte und ein unangenehmes Brennen verursachte. Ich schlug die Augen auf und wischte mir das nasse Haar von der Stirn.
Die Hitze war schlicht phänomenal.
Ich knipste die Bettlampe an und sah auf die Armbanduhr: kurz vor fünf Uhr morgens. Durch einen Druck auf den Knopf schaltete das Digitaldisplay auf die Temperaturanzeige um. Ich war nicht überrascht, als ich eine Vier und dahinter eine Sechs und wieder dahinter das Symbol für Grad in Celsius ablas.
Ich sah zu Mary hinüber. Sie gedieh prächtig – und in den letzten Nachtstunden war sie wieder gewachsen.
Scheisse. Verdammte Scheisse.
Die Blätter waren einen weiteren halben Meter länger; kreuz und quer lagen sie über-, neben- und untereinander, in konfusen, fast obszönen Verrenkungen. Auch der Stamm war nochmals dicker geworden, und die Pflanze ragte nun bis unter die Zimmerdecke. Offensichtlich war sie nachtaktiv.
Auf der Bettkante sitzend überblickte ich das Ausmass der Invasion, welche die Pflanze über Nacht auf mein Zimmer begonnen hatte: Der Blumentopf war zerborsten und gab den Blick auf kräftige Wurzeln frei, die sich wie missgestaltete Spinnenbeine im Boden verkrallten. Erde lag überall verstreut – sie schien darauf nicht angewiesen. Mein gelber Teppich war nun grünblau mit roten Mustern. An einer Stelle drängte eine Sportsocke aus dem Blättermeer, an einer anderen das Foto von einem Mondgesicht mit nur einem Auge. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass das Mondgesicht eine weibliche Brust und das Zyklopenauge die zugehörige Warze mit Hof war. Eines meiner Erotikmagazine gab seinen Platz nicht kampflos auf.
Ungläubig schüttelte ich den Kopf.
Welcome to the jungle.
Die riesigen Blätter hatten nicht nur den Boden besetzt. Auch die Zimmerwand hinter der Pflanze war mit Marys Auswüchsen nachgerade zugekleistert worden – die Blätter schienen fest an ihr zu kleben. Einige hatten die Kante zur Zimmerdecke bereits überwunden und breiteten sich nun in der Horizontalen über mir ungehindert aus.
Der Tisch war kaum mehr als solcher erkennbar: Besitz ergreifend hatten sich die feisten Blätter auf ihm ausgebreitet, und es sah nicht so aus, als würden sie mir den Platz in Kürze wieder zugestehen. Das Fenster war frei zugänglich geblieben - die Wand darum herum war jedoch von dichtem Grün bewachsen und liess die Glasscheiben wie ein Tor in eine andere Welt erscheinen.
Schweiss lief mir ins Auge, und ich stand barfuss und nur mit einer Unterhose bekleidet auf, um das Fenster zu öffnen.
Ich fragte mich, ob dann das schreckliche Gezische von gestern wieder losgehen würde.
Es war befremdend, die Pflanzenblätter an den nackten Fusssohlen zu spüren. Sie waren warm, und unter dem Druck meiner Füsse schmatzten sie widerlich. Ich hatte das Gefühl, über frisches Fleisch zu gehen.
Plötzlich spürte ich einen stechenden Schmerz im rechten Fuss. Erschrocken zog ich das Bein in die Höhe, verlor das Gleichgewicht und landete unter einem dumpfen Plumpsgeräusch auf meinem Hintern. Mein Fuss fühlte sich an, als wäre ich über glühende Kohlen gelaufen, und ich zog ihn immer noch am Boden hockend an mich.
Kurz vor der Ferse fehlte mir ein kleines Stück Fleisch. Bestürzt betrachtete ich das etwa fingerhutbreite Loch in der Fusssohle, aus dem munter wie ein Bergbach unentwegt Blut strömte und sich über die Pflanzenblätter ergoss.
Ich fluchte laut.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht rappelte ich mich auf und humpelte zum Nachtkästchen, in dessen unterster Schublade ich neben anderen Dingen meine Mini-Apotheke aufbewahre. Nachdem ich mich mit Jod und Pflaster verarztet hatte, zog ich nicht nur Socken sondern auch ein Paar Schuhe an.
Meine Augen glitten suchend über den Wirrwarr aus grünblauen Blättern und roten Mustern.
Worauf bin ich bloss getreten?
Zuerst fand ich nichts, dann sah ich es – und hielt die Luft an.
Ein Maul befand sich am Ende eines dünnen Stiels, der aus den roten Furchen von Marys Blättern wuchs. Es war nicht grösser als das obere Glied eines Daumens und sah aus wie eine schwarze Murmel, der man eine Mundöffnung mit langen, schlanken Zähnen aufgemalt hat.
Nur war dies keine Murmel. Und die Zähne waren auch nicht aufgemalt. Das verdammte Ding hatte mich gebissen!
Irr und blind schnappte es nach etwas – möglicherweise nach mir – und präsentierte seine nadelfeinen Reisszähne. Es mussten Dutzende sein, und von einigen tropfte noch mein Blut. Im rechten Mundwinkel klebte ein Fetzen meiner Fusssohle.
Mein Gott!
Dumpf hämmerte der Puls in meinen Schläfen. Die Beklemmung, die sich vom Bauch ausgehend in Richtung meiner Speiseröhre rankte, verursachte mir einen Kloss im Hals und setzte sich dort fest.
Das kleine Zähneding öffnete und schloss sein Maul ununterbrochen.
Für einen Moment war ich überfordert: Mary, die sich in horrender Geschwindigkeit ausbreitete und mein Zimmer in Beschlag nahm; die roten Furchen, die zischten und kreischten; ein kleines, wahnsinniges Maul, das sich in der Luft verbiss; und die vor Hitze flimmernde und flirrende Luft im Zimmer.
Ich rüttelte hektisch am Fenstergriff und riss die Flügel auf. Die kühle Luft schlug mir ins Gesicht, sie sog sich regelrecht in mein Zimmer.
Mary brüllte vor Zorn. Ihr Fauchen zerfetzte die Stille, prallte von den Wänden ab und trommelte wütend in meinen Gehörgängen. Die Blätter zuckten und wanden sich, verdrehten sich schützend ineinander, vibrierten über mir an der Decke, klatschten zappelnd an die Wand: Sie erhoben sich gegen mich. Mit einem brutalen Schmatzlaut zerplatzte das kleine Maul, sein Oberkiefer wurde an den Fernsehbildschirm geschleudert und hinterliess dort eine schleimige Spur. An seinem Halsstumpf, der in besseren Zeiten bloss das Ende eines Pflanzenstiels gewesen wäre, hing in bizarrem Winkel die untere Zahnreihe, und graue Masse platschte auf die umliegenden Blätter. Es sah aus wie Hirn.
Starr vor Angst hielt ich mir die Ohren zu. Ich hielt die Luft an. Mein Kopf war leer. Ich stand einfach da. Reglos.
Ich weiss nicht, wie viel Zeit verging, bis Mary sich wieder beruhigte – doch es fühlte sich an wie Stunden. Irgendwann liess das Kreischen und Zucken und Platzen nach, wurde weniger, verstummte.
Keuchend stiess ich Luft aus und wagte es, die Hände ganz von den Ohren zu nehmen. Die Blätter rührten sich nicht mehr. So unschuldig und still lagen sie da, klebten an den Wänden, klammerten sich an die Decke, dass ich für einen kurzen Augenblick eine Sinnestäuschung in Betracht zog.
Unmöglich, dass sich eine Pflanze so heftig gegen Frischluft wehrte. Unmöglich, dass sich eine Pflanze gegen überhaupt irgendetwas wehrte! Nicht zu vergessen dieses ekelhafte, kleine Maul.
Doch dann: Pochende Schmerzen kurz vor der Ferse des rechten Fusses. Der wage Glaube an eine Sinnestäuschung zerplatzte einsam im kühlen Luftstrom, der von draussen durchs Fenster hinein zog. Erschöpft liess ich mich aufs Bett fallen, bemüht, die Schleimspur am Fernseher zu ignorieren.
Was nun? Es war Sonntag, der Blumenhändler nicht erreichbar. Polizei? Feuerwehr? Nervenarzt? Einen beschissenen Exorzisten?
Böse starrte ich Mary an.
Verdammtes Scheissgewächs. Fuck.
Ich warf ein Kissen nach den Blättern. Sie zischten nicht.
Ich rief weder die Polizei, noch die Feuerwehr, ebenso wenig einen Psychiater oder katholischen Priester. Stattdessen döste ich durch den Nachmittag und erwachte erst wieder, als die letzten Rottöne der Abendsonne am Himmel verblassten.
Mary: unverändert. Gut.
Mein Magen meldete sich hungrig zu Wort, und ich bestellte Knoblauchbrote, die ich nur zur Hälfte aufass, und einen Kasten Bier, den ich gierig leer machte. Danach fühlte ich mich besser.
Ich stellte den Fernseher an – auch, damit sich die eklige Schleimspur nicht mehr so deutlich vom toten Bildschirm abhob. Terror, Sex und Werbung – auch hier alles wie immer. Ich stellte den Fernseher wieder aus.
Missmutig schob ich ein paar Pflanzenblätter zur Seite, um die untere Schublade des Nachtkästchens öffnen zu können. Ich zog mein Drehbuch heraus und begann zu schreiben.
Halbtotale auf die Waschküche, wo Mary steht. Ihre Kleidung ist schmutzig.
Nahaufnahme von Mary. Sie zieht sich aus, schiebt alles in die Waschtrommel.
Zoom auf die Brüste.
Kameraschwenk auf die Tür. Der Nachbar kommt herein.
Halbtotale. Mary sieht den Nachbarn neckisch an, berührt sich provozierend.
Mary: „Aber Herr Nachbar, Sie können doch nicht einfach so hereinplatzen. Ich bin ganz nackt!“
Der Nachbar
Ich legte den Stift weg.
Verdammt, selbst für einen Porno ist das schlecht.
Ich betrachtete die neun Zeilen Unsinn und ersetzte überall „Mary“ durch „Kim“. Kim, so hiess die Protagonistin meines neuen Drehbuchs, von einer Mary war auf den sechs vorhergegangenen Seiten nie die Rede gewesen.
Ich seufzte und fluchte, beides gleichzeitig, und wünschte, Mary würde sich nicht so in meinem Kopf festsetzen. Geschweige denn in meinem Zimmer. Trotzdem sah ich zu ihr hinüber. Gross und grün und rot und kräftig thronte sie in der Ecke, ihre Schergen und Handlanger über die ganze Fläche des Zimmerbodens verbreitet. Der Raum gehörte ihr.
„Morgen ist Montag. Morgen kommst du weg.“ Ich sah die Pflanze herausfordernd an. Sie reagierte nicht.
Der Blumenmann würde eine Motorsäge mitnehmen müssen, um Mary hier rauszuschaffen, aber das war sein Problem. Ich würde daneben stehen und grinsen und mich freuen, dass ich endlich wieder Platz in meinem kleinen Zimmer habe.
„Morgen ist Montag.“ Mehr zu meiner Beruhigung als an Mary gerichtet.
Ich schlief bei offenem Fenster ein.
Flimmernde Hitze riss mich am Montag aus traumlosem Schlaf. Ich stöhnte und spürte, wie mir der Schweiss in Rinnsalen über die Stirn lief. Trübe registrierte ich, dass das Fenster geschlossen war. Marys Blätter hatten über Nacht die Fensterflügel zugenagelt und verdunkelten den Raum.
Scheisse, dachte ich.
„Scheisse!“ sagte ich laut.
Ich atmete ein, ich atmete aus.
Dann grinste ich: „Heute ist Montag, Dreckstück!“
Ich rufe den Blumenmann, der Blumenmann bringt seine Motorsäge. Die Motorsäge kreischt, kreischt lauter als Mary. Die Blätter fallen von der Decke, von den Wänden, purzeln zu Boden, bleiben dort liegen – kein schnappendes Maul zu sehen. Der Stamm zerbirst unter dem schreienden Metall. Mary plötzlich ganz klein. Erde wird weggeräumt, Licht durchflutet das Zimmer. Es gehört wieder mir.
Genauso wird es ablaufen.
Mein Hirn sagte: Jetzt stehe ich auf, öffne das Fenster, hebe mein Telefon vom Boden auf, rufe den Blumenkerl.
Doch mein Körper blieb liegen. Ich fühlte mich beengt.
Verdutzt knipste ich die Bettlampe an und sah hin.
Oh, Gott, dachte ich.
Ich habe Angst, dachte ich.
Ich sagte nichts mehr.
Unterhalb der Hüfte umspülte mich ein Blättermeer. Rote Furchen schlängelten sich durch einen blaugrünen Ozean und zerschnitten ihn in kühnen Mustern. Meine Beine waren irgendwo darin verloren; ich konnte sie nicht sehen, spüren, bewegen.
Mary. Sie wollte mich. Leidenschaftlich hatte sie mich in ihre Blätter gebettet, begierig hielt sie mich umklammert. Ihre tentakelartigen Auswüchse waren in unzähligen Lagen um mich geschlungen und fesselten mich an meine Matratze.
Mein Herz raste.
In der Ecke triumphierte Mary flimmernd – sie hatte das Zimmer während der letzten Nacht vollends in ihre Gewalt gebracht. Von der Decke herab hingen die Blätter wie Lianen, wanden sich die Wände empor wie Efeu, und der Boden war undurchdringlich wie eine Flut aus Königsfarnen.
Mary, die Spinne, hatte ihr Netz in meinem Zimmer gespannt – immer grösser, immer feingliedriger, immer enger. Und ich zappelte jetzt darin.
Warum? Ich dachte es atemlos.
Neben mir hörte ich ein Reissen: Riiii-iiii-tsch! Dann ein Knirschen. Unverwandt starrte ich direkt in ein kleines Maul, das seine Kiefer mahlen liess. Auf einem langen Stiel, der aus einem der zerfurchten Blätter an der Wand wuchs, wippte es hin und her, als versuche es Anlauf zu nehmen und mit Schwung in meine Richtung zu schnellen. Wie ein Springteufel federte es vor und zurück und grinste mich mit knirschenden Zähnen an. Ich sah in das Gesicht eines blinden Idioten.
Mein Verstand setzte aus. Panisch wand ich mich auf meinem Bett, versuchte, meine Beine freizustrampeln, zerrte planlos an meinen Fesseln, riss mit aller Kraft an ihnen, keuchte, schrie und heulte. Plötzlich: das Geräusch berstender Knochen. Völlig perplex betrachtete ich das meterlange Blatt, das ich gerade abgerissen hatte. Die Furchen darin fauchten heiser, und aus den Enden der zerfetzten Pflanzenstiele ergoss sich braunes Gelee.
Mary blutete.
„Du Hure!“ Zusammen mit dem Blatt schleuderte ich ihr meine Wut entgegen. „Heute ist Montag, Miststück! Heute bist du dran!“
Hysterisch packte ich ein weiteres Blatt auf Höhe meiner Oberschenkel und zerrte daran. Meine Finger krallten sich in das grüne Fleisch und rissen blutende Wunden auf. Braun spritzte der Glibber an die Wand und in mein Gesicht. Immer tiefer vergrub ich meine Hände in dem Brei aus Schleim und Blättern, riss an allem, was sie zu fassen kriegten. Gleichzeitig begann Mary wieder zu zischen. Ohrenbetäubend.
Hör auf, hör auf, hör auf, hör auf! Ein unheiliger Choral donnerte mir entgegen.
Ich hörte nicht auf, ich machte weiter. Noch schneller, noch rasender zerstörte ich meine Fesseln, strampelte mit den Beinen, zerschlug Blatt um Blatt um Blatt – kostete meinen Triumph. Ein Maul platzte irgendwo aus seiner Furche, ich riss es mitsamt dem Stiel einfach ab und schmetterte es zu Boden, wo es weiter gierig um sich schnappte. Graue Masse tropfte aus dem zertrümmerten Schädel, und es begann hungrig, sein eigenes Hirn zu fressen. Ich brüllte und zerrte weiter an Marys Armen, und in mein Brüllen mischte sich wie Gewehrfeuer das Brechen von weiteren Knochen. In meinen Händen hielt ich zwei grosse Blätter, und ich konnte einen Teil meines befreiten Beines erkennen. Ich grinste.
Hör auf, hör auf, hör auf, hör auf! Sie wimmerte.
Sie wimmert, dachte ich und erkannte viel zu spät, wie sich eine Armee von grünen Greifarmen über den Boden, über die Wände, über die Decke in meine Richtung schlängelte. Die Blätter, die mich ans Bett fesselten, spannten sich plötzlich und zogen sich dann in einer einzigen kollektiven Bewegung so straff um meine Beine, dass ich vor Schmerz laut aufschrie.
Als Mary ihren Griff wieder lockerte, stöhnte ich erschöpft. Die Haut an meinen Beinen brannte, und ich konnte spüren, wie das Fleisch darunter pulsierte.
Wieder schlug sie zu, zog die Riemen stramm. Erbarmungslos. Tränen schossen mir in die Augen, und ich biss mir die Unterlippe blutig. Mary bestrafte mich und schickte weitere Wächter, die mich festhielten, sich um mich schlangen und die Reihen ihrer gefallenen Kameraden schlossen. Wie eine Brandung rollten sie auf mich zu und bedeckten zielsicher all die Stellen, die ich vorhin freigelegt hatte. Eisern hielten sie mich umklammert – Mary hatte meinen Aufstand mühelos zerschlagen.
Kraftlos liess ich mich in mein Kissen fallen. Eine grüne Flut wogte an meiner Zimmerdecke, und ich schloss die Augen. Es war zuviel. Ich versteckte mich hinter dem unruhigen Schwarz meiner Augenlider.
Riiii-iiii-tsch! Reissendes Geräusch, ähnlich wie Papier.
Ich schnellte hoch, riss die Augen auf. Roter Schleier vernebelte mir die Sicht, und ich drückte heulend die Hand an meine schmerzende Stirn. Blut lief in breiten Bächen über das Handgelenk und tropfte auf meine Brust. Mein Blick fiel nach rechts, wo sich ein Maul frenetisch öffnete und schloss, öffnete und schloss, öffnete und schloss – es war hungrig und blutverschmiert, und ich schmeckte ihm.
Ich packte es am Stiel, nahm die zähnebleckende Kugel zwischen Daumen und Zeigefinger und drückte zu. Über den Schädel zog sich ein tiefer Riss, Hirnmasse trat aus und quoll mir über die Finger. Das Maul schnappte unbeirrt weiter, und ich warf es weit von mir. Von Ekel geschüttelt versuchte ich so gut wie möglich, die Hirnmasse an der Bettkante abzustreichen.
Immer noch lief mir Blut ins Auge. Das Mistvieh musste mir ein ziemlich grosses Loch in die Stirn gebissen haben. Ich hielt ein Kissen daran, um die Blutung zu stoppen.
Nicht schlafen, kein Auge zumachen, wach bleiben, wachsam bleiben! Fuckfuckfuck!
Noch einmal packte ich die Blätter und riss brüllend an ihnen. Im selben Moment zogen sie sich wieder so stramm um meine Beine, dass mir die Luft wegblieb.
„Verdammt, was willst du?“ Heiser schrie ich Mary an.
Keine Antwort – aber die brauchte ich auch nicht. Mir war klar, was sie wollte: Spielen und Fressen, Katz und Maus.
Wieso sonst fesselt sie mich nur an den Beinen?
„Hilfe!“ Ich heulte es in Richtung der Wohnungstür. „Hilfe!“
Ich wartete, hoffte, wusste, dass es umsonst war.
Noch einmal: „Hilfe! Hört mich jemand?“ Bis sich meine Stimme überschlug. Niemand antwortete, niemand klopfte an der Tür, keiner drückte auf die Klingel. Herzlich willkommen in der gleichgültigen Anonymität der Grossstadt.
Das Telefon! In derselben Sekunde, in welcher der Funke Hoffnung aufglühte, erlosch er auch schon wieder. Es lag am Boden, irgendwo im Dickicht vergraben. Enttäuscht schlug ich auf meine Fesseln.
Sofort wurden sie straff gezogen.
Riiii-iiii-tsch! Eine Furche riss auf, und ein Maul ploppte heraus. Diesmal an der Decke.
„Oh, nein, oh, nein…“ Ich flüsterte nur noch. „Bitte…“
Riiii-iiii-tsch! Zu meiner Rechten. Mir wurde schlecht vor Angst.
„Hilfehilfehilfe!“ Ich schrie, bis ich Kupfergeschmack im Mund hatte und mir bewusst wurde, dass ich alleine hier verrecken werde.
Überall platzten Mäuler aus Furchen. Ich zählte sie nicht – ich wollte nicht wissen, wie viele mahlende Kiefer sehnsüchtig darauf warteten, sich in mein Fleisch zu verbeissen.
Dicht neben meinem linken Ohr krachten zwei Zahnreihen aufeinander. Reflexartig wirbelte ich herum, packte den Stiel des Zähnedings mit beiden Händen und brach ihn entzwei. Dann schlug ich es mit voller Wucht auf die Kante des Nachtkästchens. Der Schädel brach so sauber in der Mitte durch, als hätte ich mit dem Präzisionswerkzeug eines Chirurgen gearbeitet. Müde liess ich ihn auf den Boden fallen.
Ich sah mich um: Kiefer und Zähne überall. Wie eine idiotische Acapella-Truppe öffneten und schlossen sie ihre Münder ohne Unterlass und sangen ein stummes Lied, das vom Tod erzählte. Die meisten hingen von der Decke herab und konnten mir noch nicht gefährlich werden, doch vor mir wippten einige schon bedrohlich in meine Richtung. Wieder schnappte ich mir eines und vernichtete es an der Kante des Nachtkästchens.
Durst trocknete mir die Kehle aus, und ich fühlte, wie die Hitze in meinem Zimmer weiter zunahm. Schwitzend und durstig, blutend und gefesselt sass ich in meinem Bett, und Verzweiflung mischte sich mit grimmigem Zorn.
„Du wirst nicht gewinnen! Du tötest mich nicht! Du tötest mich nicht!“
Aber ich wusste, dass ich hier elendiglich zu Grunde gehen würde, wenn ich nicht bald handelte. Verdursten oder langsam gefressen werden – diese Wahl wollte ich nicht treffen.
Also handelte ich.
Den .357er Magnum Colt Python Revolver hatte mir mein Vater zu meinem achtzehnten Geburtstag geschenkt.
„Wenn du dir damit ins Knie schiesst, gibt’s eine Woche Hausarrest“, hatte er mit gespieltem Ernst angemerkt. Fünf Tage später starb er bei einem Jagdunfall. Das Schicksal ist manchmal – nein, eigentlich immer – eine zynische Drecksau.
Ich öffnete die unterste Schublade des Nachtkästchens so gut es ging und nahm den Revolver hervor. Ich klappte die Trommel aus: sechs Patronen. Das sollte reichen.
Meine Hände zitterten, als ich auf Mary zielte. Mutlos liess ich die Waffe in meinen Schoss sinken.
Du willst doch nicht ernsthaft mit diesem Ding auf eine beschissene Pflanze ballern?
Nein, will ich nicht. Ich versuche, den verdammten Teddybären beim Tontaubenschiessen zu gewinnen.
Ich spannte den Hahn, ich hielt die Luft an, ich nahm Mary ins Visier. Zögernd berührte mein Zeigefinger das kalte Metall des Abzugs – dann löste sich der Schuss.
Der Knall dröhnte in meinen Ohren, und ich hatte das Gefühl, schlagartig taub zu werden. Mary stand in der Ecke meines Zimmers, aus den Furchen ihrer kräftigen Arme brachen weiter bezahnte Murmeln hervor – ich hatte sie nicht getroffen.
„Fuck“, knurrte ich und zog den Hahn wieder zurück. Die Trommel drehte sich, eine weitere Patrone wurde vor den Lauf transportiert – noch fünf Schuss.
Die zweite Kugel bohrte sich tief in den Stamm. Gelee strömte aus der Wunde, und sofort begann Mary zu kreischen. Sie schrie, sie erbrach ihren Schmerz, und die Mäuler öffneten und schlossen sich so schnell, als würden sie vor Angst mit den Zähnen klappern. Vielleicht taten sie das sogar.
„Hab ich dich!“, kreischte ich zurück und spannte den Hahn erneut. Jetzt war ich es, der ihr das Lied vom Tod sang.
Sie zog die Fesseln stramm, strammer als je zuvor – doch ich liess mich nicht beirren: Der Schuss krachte, und Blätterfetzen flogen wie Konfetti durch die Luft. Es war berauschend.
Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, wie zwei Mäuler mich gleichzeitig ansprangen, eines von der Decke, das andere von rechts. Schreiend liess ich den Revolver fallen und versuchte, mich wegzudrehen – doch ich war zu langsam. Die Zähnedinger bohrten sich tief in meine Schulter und rissen Fleischstücke heraus. Aus dem Spiel, das Mary mit mir spielte, war schon lange bitterer Ernst geworden - aber ich war nicht bereit, sie gewinnen zu lassen.
Ich klatschte das Maul neben mir an die Wand, und Gehirnmasse spritzte in alle Richtungen.
„Herzlich willkommen in meinem Zimmer, du Wichser!“, brüllte ich die zerquetschte Kugel an und konnte gerade noch ausweichen, als die andere wieder in meine Richtung schnellte.
Sie baumelte vor mir hin und her und knirschte mit den Zähnen. Ich nahm den Revolver und schob ihr den Lauf direkt ins rastlos ratternde Maul. Sie kaute darauf herum wie ein Zweijähriger an einer Zuckerstange. Mein Zeigefinger zuckte am Abzug, aber ich wollte den Moment auskosten, mich von meiner Überlegenheit tragen lassen. Einsam rief mir ein kleiner Teil meines Verstandes zu, keine Munition zu verschwenden, aber er wurde von einem unbändigen Gefühl der Macht überrollt und erstarb innert Sekunden.
„Fuck. You.“ Ich liess die Worte meine Lippen umspielen – dann drückte ich ab. Das Zähneding explodierte, und ein Nebel aus Hirn und Kiefersplittern und zerfetzten Blättern hüllte mich für einen Augenblick vollständig ein.
„Ja! Verrecke!“ Ich triumphierte.
Riiii-iiii-tsch! Drei gleichzeitig – ganz in meiner Nähe. Mein Triumphgeheul erstarb.
Ich riss die Magnum herum und zielte wieder auf Mary. Ich konnte nicht erkennen, ob aus der Wunde in ihrem Stamm noch Blut floss – sie hatte ihre Blätter schützend davor geschoben.
Noch zwei Patronen.
Ich spannte den Hahn – und mir wurde klar, dass ich etwas übersehen hatte: das Fenster! Ich schwenkte den Revolver ein wenig nach rechts und betätigte den Abzug. Unter hellen Klirren zerbarst das Glas hinter Marys Armen und prasselte zu Boden. Die Blätter, die sich daran festgesaugt hatten, fielen schlaff herunter, und Licht und Luft durchfluteten das Zimmer.
Mary schrie so laut, dass sie meine Hilferufe beinahe übertönte. Doch ob sie oder ich von draussen gehört wurde, war nebensächlich – solange nur einer von uns gehört wurde. Wir kreischten um die Wette – sie zornig, ich hilflos – und der Einsatz war hoch: Ihr Leben gegen meines.
Irgendwann wurde sie leiser, und ich tat es ihr gleich. Meine Kehle brannte und war rau wie Wüstensand. Viele der Zähnedinger waren in der frischen Luft zerplatzt. Aber nicht genug – bei weitem nicht genug. Ich lauschte: Niemand rief „Hallo?“, niemand rief „Brauchen Sie Hilfe?“, und noch immer klopfte keiner an die Tür. Der Alarm eines Autos heulte, irgendwo bellte ein Hund – sonst nichts. Keine Menschenstimmen, keine vorbeifahrenden Autos, nur Stille, Stille, Stille und Gebell und der Alarm. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so einsam gefühlt, und ich begann verzweifelt zu weinen. Ich weinte, bis ich nicht mehr weinen konnte und Lethargie mich in einen diffusen Nebel hüllte.
Riiii-iiii-tsch!
Mein Verstand ertrank qualvoll in einem Meer aus Revolverrauch, Furcht und wahnsinnigen Mäulern.
Ich kapitulierte.
Noch eine Patrone.
Jetzt ist es Nacht, und ich bin ein Gefangener. Noch immer. Ich sitze hier und schreibe beim Licht der Bettlampe in das Heft, das einst mein neues Drehbuch werden sollte. Ich schreibe, damit ich nicht wahnsinnig werde. Ich schreibe, damit ich nicht einschlafe. Links von mir schnappt ein Maul in meine Richtung, und überall klebt Hirnmasse – ich hatte neben dem Schreiben so einiges zu tun.
Gerade eben hat Mary die Fesseln wieder angezogen – ihr vergeht wohl langsam die Lust an unserem Spiel, und sie will es zu Ende bringen. Sie ist die Katze, ich bin die Maus – an der Rollenverteilung wird nicht mehr zu rütteln sein. Ich warte darauf, dass sie weitere Wächter schickt. Weitere Wächter, die mich einspinnen wie einen Kokon.
Doch wie ich bereits sagte: Sie wird nicht gewinnen. Sie wird mich nicht töten.
Noch eine Patrone übrig.
Von draussen dringen armdicke Äste durchs zerstörte Fenster. Der Baum vor dem Haus muss in den letzten Stunden der Nacht wie im Zeitraffer gewachsen sein.