Max sucht ein neues Leben
Max sucht ein neues Leben
Seit er denken konnte, lebte Max in diesem großen, grauen Haus. Er war einer von fünfzig Waisen, die dort von überaus ernsten Frauen erzogen und versorgt wurden.
Sobald er alt genug war, erzählte man ihm, eine alte Frau habe ihn auf der Kirchentreppe im nahen Ort gefunden und bei der Polizei abgegeben. Seine Eltern hatte man nie ausfindig machen können.
Mittlerweile war Max fünf Jahre alt, ein richtiger Wildfang. Er sauste durch Haus und Garten, versteckte sich ständig und heckte Streiche aus. Mehr als einmal bekam einer der Kinderfrauen beinahe einen Herzanfall, wenn er wieder Mäuse in der Vorratskammer versteckt hatte oder irgendwo so geschickt einen Eimer Wasser aufstellte, dass für einen Ahnungslosen ein kaltes Bad sicher war.
Max war nie sauber, die Hosen meist zerrissen. Ihre Taschen bargen die merkwürdigsten Schätze, eine Hand voll Würmer, Streichholzschachteln mit Mistkäfern, rostige Nägel oder einfach nur glitschige Taschentücher. Max war einfach unmöglich.
Die älteren Kinder versuchten oft den Jüngeren Angst einzujagen. Sie erzählten ihnen von menschenfressenden Trollen im nahen Wald, von heimtückischen Irrlichtern, die denjenigen, der sie verfolgte, in einen ausweglosen Sumpf lockten.
Außerdem munkelte man, ein Hexer hätte sich auf dem Berg angesiedelt. Er entführe ungehorsame Kinder und koche sie in einem großen Kessel bis sie schön gar wären.
Aber diese Schauermärchen beeindruckten Max nicht. Geringschätzig zuckte er mit den Schultern, ein gelangweiltes „Pah, alles gelogen“ hüpfte dann über seine stets verschmierten Lippen.
Von seinen wahren Gefühlen ließ er sich nichts anmerken. Nachts träumte er von grässlichen Kreaturen und scheußlichen Hexen, von riesigen Suppentöpfen und messerwetzenden Trollen. Er wachte oft auf in der Nacht, Schweiß gebadet, am ganzen Körper zitternd.
Eines Abends, man hatte ihn nach einem heftigen Streit wieder in die ‚Besserungskammer‘ gesperrt, hielt er es nicht mehr aus. Er musste raus aus diesem Irrenhaus, sonst würde er noch verrückt. Draußen war es sicher wunderbar, Freiheit, keine Prügel, einfach ein neues, besseres Leben. Dass er nicht in die Hände von Hexen oder Trolle fiel, darauf würde er schon achten.
In der Nacht, nachdem es ruhig geworden war, stieg Max aus dem Bett. Er trug noch seine ausgebeulte Hose und das Holzfällerhemd mit den auffälligen Flicken an den Ärmeln. Seinen Filzhut, ohne den er nirgendwo hin ging, stülpte er sich keck auf die blonden Locken. Mit einem verbogenen Nagel aus seiner Hosentasche gelang es ihm nach unendlichem Gefummel, die Zimmertür zu öffnen. Es war ziemlich dunkel auf dem Korridor, denn es brannten nur ein paar Notlichter. Leise schlich er hinunter in die Küche und stopfte sich die Taschen voll mit Obst. Dann öffnete er das Fenster und sprang in den Garten.
Die frische, milde Luft tat ihm gut. Max atmete tief durch. Er war frei, jedenfalls fast. Schnell lief er über die Wiese, sprang über den Gartenzaun und wandte sich dem Wald zu. Der Mond stand tief und spendete reichlich weiches Licht. Flink rannte Max über die Wiesen und Felder, doch der schützende Wald lag weiter weg, als er gedacht hatte. Der Morgen brach schon an, als er ihn endlich erreichte. Neugierig schaute er sich um. Vor ihm standen dichte, dunkle Tannen, die weit den steilen Berg hinauf reichten. Über diesen Berg wollte er klettern. Doch bevor er sich ins Unbekannte aufmachte, musste er frühstücken. Er griff in die Hosentasche und zog einen Apfel heraus. Hungrig biss er hinein. Mm, wie das schmeckte! Für‘s erste gesättigt, begann er mit dem Aufstieg.
Leichtfüßig lief er in den Wald. Jetzt am Tag brauchte er sich vor Ungeheuern nicht zu fürchten, die kamen erst nachts! Vielleicht war er dann schon auf der anderen Seite des Berges in Sicherheit.
Max kämpfte sich durch dichtes Unterholz, über umgestürzte Bäume und watete durch kalte, klare Bäche, an denen er hin und wieder seinen Durst stillte. Höher und höher wanderte er hinauf. Gegen Abend erreichte er eine kleine Lichtung. Nass geschwitzt, mit schmerzenden Füßen stand er da und verspürte nagenden Hunger. In der Hosentasche fand er noch eine matschige Banane. Das musste als Abendbrot reichen. Müde setzte er sich ins weiche Moos, aß und machte es sich bequem. Obwohl er nach Monstern Ausschau halten wollte, dauerte es nicht lange und er war eingeschlafen.
Mitten in der Nacht erwachte Max. Silbernes Licht erleuchtete die Wiese. Ein wenig beklommen war ihm nun schon zumute, so ganz allein im Wald. Zwischen den Bäumen tanzten kleine Lichter. Irrlichter! Bloß nicht näher gehen! Vielleicht gab es hier ein Hochmoor, in dem sie ihn versenken wollten! Entschlossen drehte Max sich um.
Was war das nun wieder? Da drüben! Ein Schatten auf dem Boden, oder? Waren da nicht Arme? Lange Krallen? Ein Troll, schoss es ihm durch den Kopf. Nicht bewegen!
Da schob sich eine Wolke vor den Mond und das Ungeheuer verschwand. Verwundert sah Max sich um. Nur weg hier, bevor er wieder kommt!
Er rappelte sich auf und lief weiter. Der Wald wurde dichter, der Weg noch steiler. Überall knisterte und raschelte es, Zweige schwangen auf und ab. Panik drohte Max‘ Herz einzufangen, Gänsehaut rieselte seinen Rücken hinab.
Plötzlich stolperte er über eine Wurzel und fiel der Länge nach hin. Er schrie auf. Mühsam kam er wieder auf die Beine. Seine Knie brannten. Er fühlte Feuchtigkeit, Blut! Herrje, dachte er, das auch noch! Egal, nur nicht stehen bleiben. Weiter, bloß weiter!
Als die Nacht am schwärzesten war, konnte Max beim besten Willen nicht mehr weiter. Erschöpft ließ er sich auf einem Felsbrocken nieder. Die Augen fielen ihm zu.
„Ja, wen haben wir den da?“
Max schreckte hoch und schrie auf. Jetzt haben sie dich, schoss es ihm durch den Kopf. Vor ihm stand ein Fremder, der Schatten eines großen Schlapphutes bedeckte dasGesicht.
Der Mann trug einen langen Mantel und über seine Schulter lugt der Lauf eines Gewehres. Das ist der Hexer, dachte Max. Jetzt war sein Schicksal besiegelt.
„Bitte, Herr, bitte lasst mich leben! Ich gehe auch wieder ins Waisenhaus zurück und verliere kein Wort über Euch!
„So, so! Du bist also abgehauen, Kleiner! Ich denke, so, wie du aussiehst, brauchst du Hilfe. Und keine Angst, ich tue dir nichts.“
„Aber Ihr seid doch der Hexer! Ihr wollt mich kochen und aufessen.“
Der Mann lachte.
„Wer hat dir denn so einen Schwachsinn erzählt? Hier in meinem Wald gibt es weder Hexen, noch sonstige Ungeheuer. Ich bin der Förster des Reviers und sehe nach dem Rechten.“
„Wirklich? Sagt Ihr das nicht nur so, um mich einzufangen?“
„Aber Junge! Ich bin der Georg. Vertrau mir. Komm mit in mein Haus. Dort leben meine Frau und meine Tochter. Los! Steh auf, sonst holst du dir noch eine dicke Erkältung. Es ist heute morgen recht kühl. Wie heißt du eigentlich?“
„Ich bin Max.“
Der Förster reichte dem kleinen Burschen die Hand. Zögernd, bereit sich jeden Moment los zu reißen, legte Max seine Finger in die große, warme Handfläche.
Die beiden gingen schweigend durch den erwachenden Wald. Vögel zwitscherten, Nebelschwaden waberten zaghaft in die Höhe. Nach einer halben Stunde erreichten sie eine Lichtung, auf der ein hübsches weißes Häuschen stand. Rings herum blühten bunte Dahlien. Vor den Fenstern hingen Kästen mit roten Geranien. Im ersten Stock verlief ein Balkon rund um das Haus. Eine Frau öffnete gerade die Läden und winkte zu ihnen herüber. Dann stand sie in der Eingangstür und wartete auf die Heimkehrer.
Der Förster küsste die Frau auf den Mund.
„Hallo mein Schatz, das ist Max!“
„Guten Morgen Max. Ich bin die Hilde. Du siehst ziemlich mitgenommen aus. Deine Knie sollten verbunden werden, oder? Na, dann kommt mal herein, ihr beiden.“
Sie führte Max in eine helle, geräumige Küche und setzte ihn auf die Ofenbank. Schweigend versorgte sie die geschundenen Knie und stellte einen großen Becker heiße Milch vor ihn auf den Tisch. Dann setzten sich Hilde und Georg rechts und links neben ihn auf die Bank.
„Nun erzähl mal, kleiner Mann. Was macht ein Junge wie du mutterseelenallein im Wald, noch dazu so früh am Morgen?“
Max holte tief Luft und begann zu erzählen. Er redete sich all seine Sorgen und Ängste von der Seele: über das Leben im Waisenhaus, die Flucht und die grausige Nacht im Wald.
„Weißt du, Georg, ich wollte nur weg von diesem schrecklichen Ort. Und da mich doch niemand abholt, musste ich allein gehen. Irgendwo finde ich sicher Leute, die mich mögen und wo ich bleiben kann. Vielleicht kann ich auch bei einem Bauern arbeiten.“
Der Förster sah seine Frau an, sie lächelte.
„Was hältst du davon, Max, wenn du einige Zeit bei uns bleibst? Jetzt, wo du weißt, dass du nicht in die Hände von bösen Hexen geraten bist. Ich könnte dir den Wald und den Berg zeigen. Wenn du magst, spielt meine Tochter sicher gern mit dir. Sie hat eine Menge Spielgefährten, Hühner, Hasen, einen Hund und ein Rehkitz.“
„Waaas? So etwas habt ihr alles? Ich glaube, ich würde schon gern. Aber was ist mit dem Waisenhaus? Die suchen sicher nach mir!“
„Das lass nur unsere Sorge sein. Wenn du wirklich willst, werde ich alles Notwendige tun, damit du für immer bei uns bleiben kannst."
“Tolle Idee! Ich glaube, ich habe sowieso keine andere Wahl. Ich muss hier bleiben. Zumindest bis ich so groß bin, dass ich kein Waisenhaus mehr brauche.“
Max grinste und legte dem Förster und Hilde die Ärmchen um den Hals..
„Ich glaube, ich mag euch! Und du Georg, zeigst du mir jetzt das Kitz?“
„Aber sicher mein Freund.“
Schwungvoll nahm er den kleinen Jungen auf den Nacken und verließ die Stube. Max lachte übers ganze Gesicht.