Meer
Ich schlendere am Strand entlang. Meine Füsse versinken in dem weichen, warmen Sand, der fein durch meine Zehen rieselt. Mein Atem geht gleichzeitig mit der Meeresbrandung. Manchmal schwappt eine kleine, schaumgekrönte Welle bis zu mir hinauf und fällt dann wieder zurück ins Meer, um dort von einer neuen Welle überrollt zu werden. Das Wasser hat eine graugrüne Färbung und weiter draussen kann ich sehen, wie höhere Wellen mit einer schwarzen Schaumkrone drauf brechen. Vom Westen her ziehen dunkle Wolken am Himmel auf. Bald wird es zu regnen beginnen. Aber das ist mir egal.
Dort vorne sehe ich den Felsen. Er steht schräg nach oben und ragt etwa eineinhalb Meter über das Wasser hinaus.
Dort habe ich sie zum ersten Mal gesehen. Sie war von einer bezaubernden Schönheit – obwohl das Wort hier vielleicht ein wenig,...na ja,...seltsam ist, wenn man bedenkt, dass ich noch nicht einmal ganz sicher war, dass „Es“ überhaupt eine Sie war! Dennoch finde ich kein besseres Wort, sie zu beschreiben! Etwas magisches, eine mächtige Anziehungskraft ging von ihr aus. Damals hatte ich meine Augen nicht von ihr löse können, bis sie wieder in den Wellen verschwunden war. Sie hatte langes bernsteinfarbenes Haar, seltsam, nicht, wie ich mir eine Meeresbewohnerin vorgestellt hätte! Ihre Haut war Perlmutterweiss gewesen und ihre Augen wie aus Smaragden gemacht. Ihren Rücken zierten zwei Glieder, weder Flosse noch Flügel oder beides zugleich. Sie hatten die Form der Flügel eines Schmetterlings und sie bestanden ganz aus Fischschuppen, die in den Farben des Meeres schillerten. Ihr schmaler, menschenähnlicher Körper war in etwas gehüllt, das einem Gewand aus Muscheln glich. Es verhüllte fast ganz das, was wohl das seltsamste an ihr war: Ihre Beine hatten kein Knie oder etwas in der Art, sie schienen vielmehr vollkommen knochenlos zu sein. Nie werde ich ihren Anblick vergessen, als sie einer Elfe gleich über die Wellen schritt. Vielleicht war sie ja eine Elfe? Aber das ist gleichgültig...Sie hatte mich gerufen, ... damals ... mich eingeladen. „Komm mit hinab in die Tiefe! Tauche hinab in das kühle Paradies der ewigen Wasser! Sieh dir unseren Meeresgrund an! Besuch uns!“ Ich wollte gehen, ich wollte es ja, aber ich wusste auch, dass ich Luft zum Atmen brauchte!
Ob ich sie wohl wieder sehe? Es ist so lange her... nun sitze ich auf dem Felsen und schaue hinaus zu der Stelle, wo ich sie so oft gesehen hatte. Sie war immer an der gleichen Stelle aufgetaucht, bei dem Felsen, der über das Wasser hinausragte, bei dem Felsen, auf dem ich gerade sitze.
Als ich sie zum zweiten Mal sah, schwamm ich gerade im Meer vor dem Felsen. Ich tauchte so tief in das kühle, salzige Wasser, wie meine Lungen es erlaubten. Ich stellte mir vor, ich sei eine Meerjungfrau mit einem schillernden Fischschwanz. Wie jung ich damals war...! Ich sah das tiefe Grün des Ozeans, die Lichtreflexe, welche die Sonne beiläufig auf das Wasser warf, als wäre sie gerade damit beschäftigt, Hühnern Körner zu streuen, und ich spürte das leichte Brennen des Salzes auf meinen Lippen und in meinen Augen. Ich tauchte auf um Luft zu holen – Und da war sie! Wieder schritt sie über die Wellen direkt auf mich zu. Sie streckte ihre elfenbeinfarbene Hand nach mir aus und tauchte durch die Oberfläche hinab. Sie zog mich mit sich. Ich konnte mich ihrem Griff nicht widersetzen. Und selbst wenn ich es gekonnt hätte, ich hätte es wohl nicht getan. Ich wollte es so, wie es war. Ich wollte mich ziehen lassen, weit unter die Oberfläche. Egal, ob mir die Luft ausgehen würde! Ich war glücklich. Als meine Lungen unter dem Druck des Wassers und aus Sauerstoffmangel zu brennen und zu stechen begannen strich sie mir sanft mit ihren perlmutterglänzenden Fingern über Mund und Nase – und das Stechen und Brennen stellte augenblicklich ein! Ich schwamm, nein, vielmehr flog ich, durch das Wasser – ohne zu atmen und an ihrer Hand. Ein Augenblick und eine Ewigkeit zugleich.
Immer tiefer zog sie mich hinab. Weg von der Oberfläche, zu ihren Städten, zu ihrem Volk. Seltsam war bloss: Obwohl wir schon hunderte Meter unter Wasser sein mussten wurde das Licht, welches das Wasser durchdrang, nicht schwächer. Nein, je näher wir dem Grund kamen, desto stärker schien das Wasser von Licht, das von allen Seiten einzufallen schien, durchsetzt. Lichtreflexe huschten überall um uns herum und liessen es noch lichter und noch lebendiger erscheinen.
Dann, als ich die Stadt zum ersten Mal von weitem sah, konnte ich nicht fassen, wie schön sie war, nicht einmal, dass es etwas so wundervolles überhaupt geben konnte! Ihre Mauern und Türme leuchteten und schimmerten blau und grün wie das Meer und schienen es tausendfach zu reflektieren. Sie schien ganz aus Spiegeln und Glas in den Farben des Ozeans erbaut. Tatsächlich schien es mir, als ob sie nach innen unendlich weitergehe, selbst eine grössere Tiefe besass als der riesige Ozean um mich herum.
Vom ersten Augenblick an wusste ich, dass sie den Mittelpunkt des Ozeans darstellte, ebenso, dass sich alles Leben in den grossen Wassern auf diese Stadt zurückführen liess.
Der Anblick dieses beinahe unfassbaren Wunders setzte sich in dem Moment, in dem ich es sah, in meinem Herzen fest und hat mich bis heute nicht mehr losgelassen.
Damals hatte sie mich, gleich nachdem ich die Stadt erblickt und ihre wunderbare Schönheit erfasst hatte, an den Strand zurückgeführt. Erst später, als ich die Stadt weitere Male besucht hatte, begriff ich, wie klug das von ihr gewesen war!
Es hat zu nieseln begonnen. Die schweren grauen Wolken entleeren sich und die Wassertropfen klatschen erst langsam, dann immer schneller, auf die aufgewühlten Wasser der See. Undeutlich kann ich sehen, wie der Wind das Wasser weit draussen zu meterhohen Wellen aufpeitscht. Alles um mich herum scheint mit einem schweren grau-grün-blau bestrichen zu sein. Doch weit am Horizont, wo Himmel und Meer in ewigem Kampf aufeinanderprallen kann ich tiefrot die Sonne sehen, als ob sie aus einer grossen Wunde blutend im Ozean versinken würde...
Noch immer fehlt jede Spur von ihr.
Oh ja, ich erinnere mich, wie sie mich mit in die Stadt genommen hatte. Jedes Mal, wenn sie mich abholte, um mich in die Tiefen zu entführen, brachte sie mich näher an die Stadt heran. Hätte sie mich gleich zu Anfang bis zu den Toren geführt, ich weiss nicht, wie ich mit all diesen Eindrücken klargekommen wäre. Ob ich mich überhaupt von solcher Schönheit hätte lösen können, kaum, dass ich sie erfasst hatte? So gewöhnte ich mich nach und nach daran; soweit natürlich, wie ein Mensch sich an das Unfassbare gewöhnen kann.
Die Schönheit der Stadt machte nicht ihr ganzes Bild, ihre Mächtigkeit allein aus, das war nur ein kleiner Teil, nein, ihr wahres Wunder lag im Kleinen. Und doch, wie die Puzzleteile kein Bild ergeben, wenn man sie nicht zusammensetzt, wären all die kleinen Dinge in der unendlichen Weite des Meeres verloren gegangen, hätte die Stadt sie nicht zu einem Ganzen zusammengefügt. Die Mauern waren mit Glasscherben in allen Farben des Meeres und kleinen in Perlmutter glänzenden Muscheln besetzt, keine gleich und jede mit ihrem eigenen Zauber. Schillernde Fische umschwammen die Korallentürme, welche die Mauern überragten. Immer gab es etwas Neues zu sehen. Mit der Zeit begann ich auch Klänge aus den grossen Wassern wahrzunehmen. Wundersame Töne, die an die Mauern trafen und von den Kanten der Scherben tausendfach verwandelt und in die Unendlichkeit zurückgeworfen wurden. So viele Töne, die sich immer anders ineinander flochten und sich dabei zu traurigen, fröhlichen, wütenden oder auch sehnsüchtigen Melodien zusammenschlossen. „Glasmusik“ hatte ich sie genannt. Sie war eins und trotzdem besass sie so viele Gesichter wie das Leben selbst. Wie der Anblick der Stadt blieb auch sie in meinem Herzen haften.
Auch durch die gewundenen Gassen der Stadt schwebten diese Urklänge und füllten sie ganz und gar mit Leben. Es war nicht unangenehm, eher schön und ging durch Mark und Bein. Der ganze Körper Klang und Musik wurde er zu einem Tanz, einem Gebet an die Stadt, die ihn zu demselben werden liess.
Meine Besuche veränderten mich. Die Stadt hatte mich gelehrt, wie viel Schönheit im Kleinen liegen kann. So begann ich mehr und mehr die kleinen Dinge zu entdecken. Ich blickte durch Glaskugeln in die Sonne sah das Meer, Wüsten, Wälder und Flammen, je nachdem, welche Farbe die Kugel hatte. Ich suchte wieder nach vierblättrigen Kleeblättern, wie früher, als ich ganz klein gewesen war. Ich sog all die vielen Düfte um mich herum ein und nahm sie dabei zum ersten Mal richtig wahr. Seit ich ein kleines Kind gewesen war, hatte ich solche Dinge nie wieder getan. Nach und nach wurde mir klar, wie viel intensiver Kinder leben als Erwachsene. Ausnahmen gab es, natürlich, dennoch war ich von dieser Erkenntnis geschockt. Ich schälte mich immer mehr aus meinem Alltags-Trott-Leben heraus und entdeckte Wunder über Wunder. Alles machte mehr Freude, vor allem, wenn ich draussen in der Natur war. Ich lebte Licht, Farben, Düfte, Weichheit, Pflanzen, Tiere und alle Elemente. Auch die Menschen in meiner Umgebung sah ich anders als früher. Ich sah ihre Stärken und konnte ihre Stimmungen erahnen, einfach nur, weil ich sie ansah. Richtig ansah und ihnen zuhörte. Ich badete sooft wie möglich bei meinem Felsen, um sie nicht zu verpassen und mit ihr in die Tiefe reisen zu können. Ich hatte gelebt.
Der Regen prasselt auf mich nieder. Die Sonne ist in einem Meer aus Blut ertrunken. Ich friere – aber es ist mir egal! Ich will sie wieder sehen! Sie bitten, mich noch ein letztes Mal mitzunehmen in die Stadt. Noch einmal diese atemberaubende Schönheit erleben... Ich werde hier bleiben! Nicht wie damals...
Meine Eltern hatten mir plötzlich und ohne Vorwarnung eröffnet, dass wir umziehen würden. Mutter brauchte anderes Klima. Bergluft. Die Lungenkrankheit, die sie dazu zwang hatten sie mir verschwiegen. Weg vom Meer, hiess das, weg von meinem geliebte Felsen. Ich war unfähig, das zu erfassen. Als die Bedeutung all dieser Geschehnisse endlich zu mir durchgedrungen war, wohnten wir schon lange in einem Dorf in den Bergen. Ich hatte lange gebraucht, bis ich den Umzug und Ma`s Krankheit wirklich realisiert hatte. Aber als ich verstanden hatte, was passiert war, und dass sie mich einfach übergangen hatten bei ihren Entscheiden, da kam die Wut. Ich tobte, schrie und lehnte mich gegen alles auf, was von meinen Eltern kam. Dann war die Wut weg und ich war nicht mehr als das, was übrig bleibt, wenn man in einen Luftballon ein Loch macht. Eine Hülle, auf das grundsätzlichste geschrumpft.
Nun reagierte ich mechanisch, wie ein Roboter. Ich ging in der Stadt zur Schule. Irgendwann wurde mir klar, dass es auch hier viel Schönes gab, aber es hatte sehr lange gedauert. Die Sehnsucht nach dem Meer und die Bilder der Stadt waren in meinem Herzen nie erloschen und sie brannten, je länger ich davon getrennt war, desto stärker. Wir fuhren nie zurück ans Meer, meine Eltern meinten, ich würde eine weitere Trennung nicht verkraften.
Mit der Zeit wurde ich älter, ich machte Matura und studierte später Jura. Die Bilder in meinem Kopf verblassten allmählich, wenn auch nicht die in meinem Herzen. Später wurde ich eine sehr gute Anwältin, die für Geld beinahe jedem einen Sieg brachte. Ich hatte ein Ziel gefunden und arbeitete verbissen nur noch darauf hin: Die Beste werden. Das Geld machte mich langsam blind für das Schöne um mich herum, schlussendlich hielt ich es sogar für das einzig Wahre. Nachdem ich in Ruhestand getreten war, lebte ich einige Jahre von meinem Geld. Ich machte nichts Besonderes und so hatte ich nun viel Zeit zum Nachdenken. Ich dachte über mein Leben nach, doch etwas liess ich die ganze Zeit über nicht zu: ich hatte eine Mauer zwischen dem Leben in der Stadt und dem, da ich zuvor kannte, aufgebaut. Ich wollte sie nicht einreissen, wollte mich nicht erinnern. Nie war ich wieder am Meer gewesen. Ich hatte vergessen, oder auch verdrängt, was Leben damals für mich war. Und da kam die Krankheit. Sie frass und nagte an meinem Körper, sodass ich bald nichts mehr tun konnte, ohne dass Schmerzen mich quälten.
Tagelang sass ich alleine zu Hause, ohne, dass ich etwas hätte tun können. Ich begann mich zu erinnern...an die Musik im Meer... seine Ruhe... das bunte Glas und die Schönheit aller Dinge.
Allmählich erwachte mit meinen Erinnerungen auch wieder die alte Sehnsucht. Diesmal wollte ich sie nicht unterdrücken. Ich hatte gemerkt, wie sehr ich das alles vermisst hatte. Deshalb bin ich gekommen. Ja, so bin ich ans Meer gefahren. Hier bin ich, alt, von Krankheit und Habsucht zerfressen. Ich habe gespürt, dass ich es nicht mehr lange machen würde.
Es ist das letzte Mal, dass ich die vielen Sterne, so, wie man sie nur hier sehen kann, betrachte. Und vielleicht, wenn ich Glück habe, dann kommt sie und ich kann die Stadt mit all ihren Wundern noch ein einziges Mal sehen. Vielleicht...
Ich atme tief ein und ziehe den Duft des Meeres, die ruhe der Nacht und das Licht der Sterne tief in mich ein. Wie schön das alles ist! Die Meeresoberfläche glitzert. Der Wind weht leicht um meinen Kopf und durchwühlt meine Haare.
Dort bewegt sich etwa im Wasser! Ob sie...? – Ach nein, war wohl nur ein Fisch! Wenn sie nur kommen würde!
Mein Blick schweift über den Strand. Dort drüben liegt eine Muschel, sie schimmert geheimnisvoll im Licht des Mondes. Ob ich sie holen soll? Ja. Ich bin schon ganz steif geworden vom langen Dasitzen, es wird gut tun, mir die Beine ein bisschen zu vertreten! Der feine Sand ist noch nass vom Gewitter. Die Körner kleben an meinen Füssen und formen feuchte Sandschuhe darum. Ich hebe die Muschel auf. Sie liegt so leicht in meiner Hand, dass ich kaum mehr spüre als den Hauch einer Daunenfeder. Ich wasche sie in den seichten Wellen, die den Strand umspülen. Es ist ein Schneckengehäuse ganz mit Perlmutter überzogen. Es glitzert und schimmert, als ich es ins Mondlicht halte.
Am Rande meines Blickfeldes aber sehe ich etwas ganz anderes glitzern: Sie ist da! Ich lächle und wate ins Wasser, Ihr entgegen. Meine Kleider werden nass und schwer und hängen an mir herunter – egal! Sie schwebt über das Wasser auf mich zu. Alles an ihr schillert und glitzert und wie von weit her kann ich die Musik des Meeres hören. Viele Stimmen steigen aus den nachtblauen Tiefen zu mir herauf und betören meine Sinne. Sie nimmt meine Hand. Wir tauchen unter. Das kalte Wasser liebkost meine Haut. Wir sinken tiefer, die Luft geht mir aus. Ihre Hand streich über mein Gesicht. Die Berührung nimmt mir die Schmerzen. Ich hatte sie wortlos gebeten, mir nur den Schmerz zu nehmen, atmen konnte ich nicht. Sie hatte verstanden. Wir sinken schneller, sie weiss, dass meine Ohnmacht nicht lange auf sich warten lassen würde. Und da ist sie, die Stadt mit all ihren Lichtern und der Glasmusik. In mir wird es ruhig, wunderbar ruhig. Alles um mich beginnt zu glühen und versinkt in einem tiefen Grün. Meine Sinne schwinden. Alles ist so ruhig...
Am nächsten Morgen findet ein Fischer den Leichnam einer alten Frau auf dem Wasser treibend. Sie war auf eine seltsame Weise schön und sie strahlte eine Ruhe aus, die den Fischer rührte. Er wollte sie nicht stören. So kehrte er an Land zurück und kam später mit einer weissen Lilie wieder, die er der Toten in die Hände legte. Dann überliess er sie dem Meer, in dem Frieden gefunden hatte.