Meerlauf
Meerlauf
Alles eine Frage der Perspektive. Baumkronenwiesen, angepasst an Jahreszeiten. Kleine graue Schlangen, die sich durch die Landschaften winden. Dächer sprenkeln Berghänge. Seepfützen werden zu kleinen Tümpeln. Geradeaus findet man nichts als gefärbtes Wolkenmeer. Der Blick nach unten ist entscheidend.
Brigitte sitzt. Die Uhr tickt. Ihre Hände führen ein Eigenleben. Ihr Blick bohrt sich durch die Leere, hin und wieder findet er ein Ziel; mal die Uhr, mal die Tapete, die von abgehängten Fotos erzählt, aber nie das, was er sucht. Das Haar hängt ihr fettig ins Gesicht. Grau ist es geworden. Die Augen wandern unruhig und müde hin und her.
Sie hätte Kaffee kochen sollen. Sie hätte den Tisch decken und die Stühle zurechtrücken müssen. Aber Robert, der Einzige, der noch hilft, hat frei.
Das Klingeln lässt auf sich warten. Brigitte steht auf. Geht zum Fenster. Ein Blick hinaus verrät, dass es regnen wird. Sie kehrt um. In die Küche, wo Jonas als Kind am liebsten gespielt hat. Jonas. Ihr Sohn. Mit seinem Namen assoziiert sie eine Mischung aus Verzweiflung, Angst und Liebe, die vergessen hat, wen sie lieben muss. Das Asthma kriecht ihren Hals hinauf. Sie greift nach dem Spray in ihrer Schürzentasche.
Perspektivenwechsel. Urlaub am Strand. Lachen. Kinder, die Sandburgen bauen. Frisbeewürfe, die eine Mittagshitze zerschneiden. Inmitten von endlos erscheinenden Sonnenuntergängen Liebespaare, die Spuren im Sand hinterlassen. Sonnenschirmparadies. Hundegebell ohne Echo. Und das Salz des Meeres, das sich in Haaren festsaugt.
Es klingelt. Brigitte horcht auf. Sie wartet einen Moment. Erhebt sich und schlürft in ihren Pantoffeln zur Tür. Sie öffnet und lässt die Fremde ins Haus.
Die Hände zittern, während Brigitte sagt: Mein Jonas wollte Fallschirmspringer werden. Vielleicht bei der Bundeswehr. Vielleicht aber auch nicht. Er sah sich oft stundenlang Luftaufnahmen an. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie er aussah, wenn er sich über ein Foto beugte; Seine Nasenflügel bewegten sich, ganz so als würde er die Höhenluft schnuppern. Die Haare fielen ihm ins Gesicht. Er wischte sie mit beiden Händen fort ohne aufzuschauen. Vielleicht bilde ich mir das alles auch nur ein, ich weiß es nicht. Vielleicht will ich jetzt einfach sehen, was ich damals nicht sehen konnte. Aber vielleicht kann ich jetzt genauso wenig erkennen wie früher.
Man sollte mir meine Unwissenheit zurückgeben. Oder man hätte mir früher das nötige Wissen geben sollen.
Ich weiß es nicht.
Die Fremde erzählt, ruhig, bedächtig, mit Erinnerungsfetzen in den Augen: Connis erster Sandstrand. Sie stand in ihrem Badeanzug da und gaffte die Menschen an. So viele auf einen Haufen hatte sie noch nie gesehen. Ich musste sie bei der Hand nehmen und mich mit ihr gemeinsam zum Meer vorkämpfen. Conni war noch zu jung, um etwas werden zu wollen. Ich breitete die Stranddecke möglichst nah am Meer aus, sie half mir dabei; mit der typischen kindlichen Ungeduld. Dann jagte ich sie davon und sie hüpfte lachend und zielstrebig zu einer Kinderschar, die im Wasser tobte.
Geh nur so weit hinein, wie du stehen kannst! rief ich ihr nach. Aber meine Worte versickerten in der Meerbrise.
Brigitte erkennt die Unbekannte; sie sieht sie vor sich, sie sitzt ihr ungeschminkt gegenüber, das Haar hängt ihr ebenso fettig in die Stirn. Es ist die gleiche Unruhe, die Brigitte in diesen Augen wahrnehmen kann. Dasselbe Zittern der Lippen wie bei ihr selbst. Die Fremde wird zu einem Spiegelbild. Doch das Gefühl von Vertrautheit und Nähe will sie beide nicht erfassen.
Draußen fängt es an zu regnen. Die Tropfen klopfen trommelnd ans Fenster und rinnen die Scheibe hinab. Das Spiegelbild schweigt. Brigitte sucht nach etwas, das sie und die Fremde trennt. Sie möchte sprechen und bringt nur das Rasseln ihres Atems hervor. Sofort schließt sich ihre Hand um das Asthmaspray.
Das Spiegelbild beobachtet sie. Legt den Kopf schief. Die traurigen Augen, die einmal geleuchtet haben mussten, durchbohren Brigitte.
Meine Tochter hatte das auch, sagt sie. Brigitte fängt an zu weinen.
Autofahrten. Endlose Stunden lang. Durch Städte, in denen das Leben pulsiert, hinaus, hinaus, über Landstraßen, Berghänge hinauf. Picknicken und dabei den Blick über Dörfertrauben gleiten lassen. Kinderlachen in Wirtshäusern. Mit Kreide bemalte Seitenstraßen. Und immer wieder Schilder, die den Weg weisen, die warnen, die schützen, vorbeugen und eine Richtung angeben. Schilderseen, Schilderozeane soweit das Auge reicht.
Brigitte liest vor, ihre Stimme klingt wie Steine, die einen Abhang hinunter kullern:
Hallo Mama,
Ich konnte nicht anders. Ich wollte nicht töten und hab’s doch getan. Das ist wie Klingen im Bauch.
Brigitte bricht ab. Sucht den Blick der Fremden. Findet ihn nicht. Sie kann nicht weiter lesen. Sie legt den Brief auf den Tisch zurück. Wartet.
Die Fremde schweigt. Ihre Mundwinkel zittern.
Brigitte schluckt Trauer und Wut die Kehle hinunter.
Warum sind Sie gekommen? fragt sie schließlich.
Das Spiegelbild schweigt. Es steht auf und geht langsam zur Tür. Brigitte kann nicht folgen. Dann dreht es sich zu ihr um und sagt: Weil Sie mich gesucht haben.