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Mein genetischer Überblick
Der Grund, warum ich zu einer privaten Krankenkasse gewechselt habe, liegt einfach daran, dass die Therapiekosten, welche durch eine Familienfeier unvermeidlicherweise anfallen, gänzlich übernommen werden.
…
»…und deswegen freue ich mich ganz besonders…«, verkündete Onkel Heiner, »…dass ihr alle hergefunden habt.«
Der länger andauernde Blick auf den Notizzettel verriet völlige Planlosigkeit, gepaart mit alkoholisierter Verunsicherung. »Ihr habt doch alle hergefunden oder?«, erkundigte er sich mit schielendem, leicht glasigem Blick. »Ist ja auch ganz schön kompliziert gewesen, meine Anfaahts… Anfaahtsskisse… skizze. Das Büffee is eröffnet. Prost nochma.«
Ein ganzes Landgasthaus hatte meine Familie okkupiert. Aber das war bestimmt nicht weiter schwierig, denn der Ort war sicher genau so unbekannt, wie diese Unterkunft. Jedenfalls war Michelbach, so der Name dieser ländlichen Langeweile, auf keiner handelsüblichen Karte verzeichnet. Immerhin hatten wir Strom, fließend Wasser, die Toiletten befanden sich im Haus und in manchen Rattenfallen war sogar noch was frei.
»Hi Manu, lange nicht gesehen was?« Karina, die mittlerweile achtzehnjährige Tochter meiner Cousine, grinste mir breit ins Gesicht und ließ dabei ihre Hand auf meiner Schulter ruhen. Was sollte ich jetzt machen? Mit ihr ein Gespräch anfangen, welches kaum über »Was machst du so? Gehst du eigentlich immer noch zur Schule oder hast du schon wieder abgebrochen?«, »Aha, schwanger also. Glückwunsch.« oder »Ich? Nein, ich studiere. Ja, immer noch.« hinausgehen würde? Oder doch lieber an meinem Bier nippen? Panikartike Flucht wäre auch noch eine Option. Aber ich würde wahrscheinlich nach ein paar Kilometern verdursten oder aufgrund der Einöde verblöden.
»Sieht ganz so aus«, entschloss ich mich zu antworten, bevor ich meine Mundhöhle mit Bier ausspülte und dabei kräftig nickte.
»Woll’n wir tanzen?«
»Zu soner Scheißmucke?«, wäre mir beinahe rausgerutscht. »Nee, ich hab schon getrunken. Aber frag doch mal deinen Bruder«, schlug ich vor und deutete hinter sie.
»Okay…«, freute sie sich. »Aber ich hab doch gar keinen…«
Die Dummen werden nie aussterben, stellte ich fest.
Ich schlenderte gemächlich an DJ Heribert vorbei, der geltungsbedürftig eine Muschel seiner Kopfhörer gegen das linke Ohr presste und zum Takt von Es gibt kein Bier auf Hawaii, neue Gassenhauer auf seinem Laptop zusammenklickte. Ein Aufkleber auf seinem Mischpult, mit den Worten Rock ’n’ Roll, ließ kurzzeitig Hoffnung auf gute Musik in mir aufkeimen. Jedoch zwinkerte mir der Mucke-Mann zu, ließ außerdem einen Daumen hochschnellen und jegliche Zuversicht wurde durch ein zusätzliches RTL-Shop-Grinsen vernichtet. War er vielleicht der Teufel?
Am Buffet standen meine dicke Tante Traudel und ihr angenommener Sohn Dietmar. Sie sinnierten über das Kartoffelgratin, das wohl vorzüglich zu schmecken schien. Da mein Bier alle war, musste ich mich notgedrungen zu ihnen gesellen, weil das Fass direkt neben dem Gratin seinen Platz gefunden hatte.
»Na, haste Durst«, fragte Dietmar und schaufelte, als weitere Beilage zum Schnitzel, Sahnechampignons auf seinen Teller. »Kost ma datt Kartoffelzeugs hier. Willste vielleicht ma von meine Jabel?«
Ich stülpte mein Bierglas unter den Zapfhahn und ließ einlaufen, wobei ich eifrig mit dem Kopf schüttelte. »Ich hatte vorhin schon Salzstangen. Lass mal gut sein.«
»Aber nachher is vielleicht alle«, konterte mein Eigentlichnichtsorichtigcousin.
»Nicht so schlimm«, log ich, »ich kenn den Koch, der macht mir bestimmt noch was.«
»Kannst ihm sagen, dass er für mich auch noch was kochen tun kann«, zwinkerte mir Dietmar zu.
»Wem?«
»Dem Koch.«
»Äh, ja klar. Kein Problem.« Als meine Hand nass wurde, schnippte ich den Zapfhahn zurück und setzte das Glas sogleich an meine Lippen. Kann ja nicht so schwierig sein, betrunken zu werden, dachte ich mir.
Als ich mich vom Buffet abwandte, rempelte ich Tante Traudels Käseensemble von ihrem Teller und schüttete mir von dem Gerstensaft auf die Hose.
»Scheiße«, fluchte ich lautstark.
»Nicht so schlimm«, meinte meine Tante und kickte die Käsehappen unter den Tisch. »Und? Wie gefällt dir die Geburtstagsfeier?«
»Wer hat denn Geburtstag?«
Meine Tante brach in heftiges Gelächter aus. Scheinbar war ich witziger als ich dachte.
»Wer Geburtstag hat?«
»Ja, wer?«
»Na ich.«
Noch bevor ich »Herzlichen Glückwunsch und so« hervorstammeln konnte, wandte sich meine Tante einem mir vollkommen unbekannten und ob der Hässlichkeit, hoffentlich nicht mit mir verwandten Mann zu.
Nachdem ich das übrig gebliebene Bier runtergespült hatte, füllte ich nach. Hossa.
Es war mittlerweile nach zehn und die Laune der Partygäste wurde immer ausgelassener. Dem musikalischen Repertoire des DJ’s nach zu urteilen, lag es aber eher am Jägermeister, Küstennebel, Champagner, Wodka, Rum und so weiter.
Jetzt gingen die blöden Partnerspiele los. Ich lachte herzhaft in mich hinein, denn ich war ja partnerlos unterwegs. Mir konnte somit nichts passieren.
Ich schlenderte weiter in Richtung Bar, die auf der Terrasse installiert worden war und von der rauchenden Fraktion, sowie einer Milliarde Stechmücken belagert wurde.
Dummerweise führte der einzige Weg über die mittlerweile gut frequentierte Tanzfläche.
Ich hielt mein Bierglas in die Höhe um die Möglichkeit von Schweißabwurf in mein Trinkgefäß zu verhindern. Als ich mich zwischen den schwitzenden Leibern hindurchquetschte, traf ich auf meine Eltern, die zu einem für mich absolut geschmacklosen Wolfgang-Petry-Knaller tanzten. Ich musste über mich selbst lachen, denn Petry ist immer geschmacklos – unabhängig vom jeweiligen Geschmack.
Indem meine Mutter von meinem Vater herumgewirbelt wurde, fragte sie mich: »Und amüsierst du dich?«
»Ist das ne Fangfrage?«
»Na, das freut mich aber.«
An der Bar stand mein Bruder mit seinem und somit auch meinem Cousin und philosophierten angeregt über die Vorteile eines Backenbartes. Meine Aufmerksamkeit richtete sich jedoch gänzlich dem Barkeeper, beziehungsweise dem kläglichen Versuch eines solchen.
»Mach mir mal’n Bier«, schaufelte ich locker flockig zu ihm herüber.
»Ein kleines oder ein großes?«
»Isn das für ne Frage du Popel? Beides natürlich!«
Ich fragte mich, wo der seine Ausbildung gemacht hat.
»Ach da isser ja«, schleuderte mir eine grelle Stimme entgegen. »Mensch bist du aber groß jeworden. Und jut siehste aus. Bist ja’n richtiger Mann jeworden.«
»Oh, hi Tante Helga.«
»Jenau, Tante Helja. Ditt bin ick für dich wa?«
»Wo isn Onkel Erwin?«
»Mensch wie isset?«
»Gut, gut. Aber wo ist dein Mann?«
»Tot. Der is tot. Letzte Woche hattern Löffel abjejeben. Jaja. Einfach uffe Straße umjekippt. Aber jenuch vonne Toten jequatscht. Wie jeht dir datt so? Bisse immer noch mit deine Freundin am rummachen?«
»Äh, nee du.«
»Wattn? Isse etwa ooch tot jejangen?«
Ich wurde komplett vom einnehmenden Wesen meiner Tante Helga – nun äh, eingenommen. Kapitulieren oder Kamikaze?
»Oh, ’tschuldige, mein Handy.«
»Ick hab nüscht klingeln jehört.«
»Vibrationsalarm.«
»Alarm? Wieso, is Feuer?«
Befreit von Helga, stolperte ich über die Terrasse und fleetzte mich in einen Liegestuhl. Kurz darauf gesellten sich meine Oma und ihre beste Freundin zu mir. Beide hatten ihre Champagnerflöten bis zum Rand mit Baileys gefüllt.
»Ach da sitzt ja der Manu.«
»Ja, da sitzt der Manu«, erwiderte ich angewidert.
»Manu, das ist meine Freundin…«
»Renate, ich weiß.«
»…Renate. Wir haben uns vor zwölf Jahren im…«
»Seniorenstift Zur Dreifaltigkeit kennengelernt.«
»… Seniorenstift Zur Dreifaltigkeit kennengelernt, nachdem wir beide an der…«
»Hüfte operiert worden seid, schon klar Omma.«
»…an der Hüfte operiert worden sind. Und nu sind wir hier. Schon kurios wie?«
»Wie sau.«
»Hallo Manuel.«
»Hi Renate.«
Sie ließen sich krachend auf einer Bank nieder und stießen mit ihrem Baileys an. Nachdem sie die Gläser bis zur Hälfte leergenippt hatten, ging langsam die Krankheitsschose los.
»Der Manuel ist grad beim Abitur, weißt du Renate…«
»Ach Omma, ich studiere bereits.«
»Oh, wirklich? Seit wann denn das?«
»Seit fünf Jahren.«
»Mensch, wie die Zeit vergeht. Und groß bist du geworden.«
»Ja, groß isser geworden«, bestätigte Renate, »Aber mal was anderes; hast du von Irmgard gehört?«
»Nee, was ist denn mit der?«
»Die hat sich nen Oberhalsschenkelfrakturbruch zugezogen.«
»Ach, die Arme.«
»Ja. Beim Trepperunterfallen ist ihr das passiert. Der Bruch war sogar offen. Viel Blut sag ich dir.«
»Geschieht ihr recht. Ich konnte sie noch nie leiden.«
»Jetzt wo du es sagst…«
Nach den Hämorrhoiden von Renates Mann und der Wasserlunge meines Opas, verließ ich die ach so gemütliche Runde und spazierte, nun endlich torkelnd, Richtung Bierfass. Quer über die Tanzfläche, durch die Tischreihen, geradewegs auf das Buffet zu. In freudiger Erwartung füllte ich ein neues Glas mit der prickelnden Herrlichkeit und exte den Inhalt sogleich.
»Hey, dich kenn ich ja noch gar nicht.« Ein umwerfend hübsches Ding lächelte mich beinahe vorwurfsvoll an, als ob ich etwas für meine Unbekanntheit ihr gegenüber könnte.
»Halli… Hi. Wer bissn du?«
»Ich bin die Madeleine. Ich bin die Tochter vom Betreiber dieses Gasthauses.«
»Ach.«
»Wollen wir irgendwas machen?«
»Wassn?«
»Oh, ich wüsste da schon was.«
»Nur sur Sichaheit… Bin ich mit dir irgendwie vawandt?«
»Mein Gott, nein!«
Der nächste Tag war eher ernüchternd, da ich feststellen musste, dass mein letzter Gang zum Bierfass eine alkoholbedingte Illusion war. In Wirklichkeit bin ich nicht mit der schicken Herbergstochter fummeln gegangen, sondern habe, laut diverser Digitalphotokameraaufnahmen, auf ebenso diversen Tischen getanzt und mich wohl zustandsgerecht hemmungslos verhalten.
Aber es war schön, mal alle wiedergesehen zu haben.