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Mein Grab

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29.05.2006
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Mein Grab

Ich sehe es vor mir. Ein Zehntausendstel von zwanzigtausend Quadratmetern gehören jetzt mir. Mein erster und letzter Grundbesitz. Hier werde ich zur Ruhe kommen. Zwei Quadratmeter Gelassenheit, geschmackvoll bepflanzt, den Platzregeln entsprechend eingefasst. Man kann davor stehen und es betrachten, den Stein wertschätzen und - wenn man mag - ein wenig Unkraut zupfen.

Jeder ist willkommen, es darf gerne verweilt werden. Keine Angst, ich bin jetzt anders, hab mich verändert, bin umgänglicher geworden. Hab am Ende doch noch gelernt, Nähe zuzulassen. Also kommt ruhig her, ich weiche nicht mehr zurück. Ihr könnt an mir schnuppern, alles anfassen und genau betrachten. Aber bitte dabei nicht auf die Blumen treten!

Was einst komplexe Persönlichkeit, ist zu ein paar Buchstaben und Zahlen auf Stein geworden. Ein Name und zwei Daten, mehr braucht man jetzt nicht mehr zu wissen. Der Rest darf frei assoziiert werden. Alles ist erlaubt, der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Macht aus mir, was ihr wollt, lasst mich in neue Rollen schlüpfen. Ich mache alles mit.

Die Hoffnung hat mich getrieben, mal hier hin, mal dort hin. Bin nie lange geblieben, musste immer wieder weg. Zuletzt bin ich hier gelandet. Vereinzelt findet man wohl noch Spuren. Eine Handvoll Menschen erinnert sich vielleicht, ist im Besitz alter Fotos, kann Episoden erzählen. Doch kaum einer wird wohl die Reise hierher antreten. Zu kurz war die Zeit, der verlassene Boden zu verbrannt. Doch jetzt ist alles anders. Ich bin sesshaft geworden. Als Grundbesitzer sieht man viele Dinge auf einmal anders. Liegt wohl auch am veränderten Blickwinkel.

In der Ruhe ist man allem viel näher. Komisch, ich wusste das eigentlich schon immer, hab es aber nie beherzigt. Vielleicht weil Nähe nicht das war, was ich suchte. Was es stattdessen war, hab ich nie erfahren, denn ich bin zeitlebens nicht fündig geworden. Hab mich in der Suche verloren, hab keine Nähe gefunden aber jede Menge Abstand. Und damit betrachte ich jetzt meine kleine Welt. Sehe den Morgentau auf den Stiefmütterchen, höre den Regentropfen zu und verfolge die Sonne auf ihrem Lauf von Ost nach West.

Zwei Quadratmeter sind mir am Ende geblieben. Sie werden professionell gepflegt, dafür habe ich noch gesorgt. Nichts soll darauf hindeuten, dass hier die Hoffnung begraben liegt.

 

Hallo Henry_L,

erstmal herzlich willkommen auf kg.de :)

Deine Geschichte hat mich sehr berührt (wohl nicht zuletzt weil ich vor kurzem einen Todesfall in der Familie erleiden musste). Sprachlich habe ich nichts auszusetzen. Im Gegenteil: Ich finde Du verfügst über eine angenehm klare, konzise Sprache, die für diese Art von Text genau passt.

Hab am Ende doch noch gelernt, Nähe zuzulassen.

Ich weiss nicht, irgendwie habe ich Mühe mit diesem Satz, denn es handelt sich ja (falls ich es richtig verstanden habe) um Gedanken eines Toten aus seinem Grab heraus, was mich zum Schluss führt, dass man (auch wenn man dies selber vielleicht gar nicht wollte) nach dem Tod zwangsläufig auf einem Friedhof mit angrenzenden Gräbern begraben wird und in diesem Sinne Nähe zulassen muss, ob man will oder nicht (jetzt mal abgesehen davon, dass man sich vorher ein riesiges Einzelgrab reservieren würde...).

Selbstverständlich könnte man fragen, ob diese Art von Text den Aforderungen einer KG entspricht und nicht doch besser in einem Tagebuch aufgehoben wäre. Ich möchte dies für einmal offen lassen.

Nichtsdestotrotz: Mir gefällt Dein (morbider) Text sehr gut, was vielleicht auch mit meinem nickname zusammenhängt :D

ps: sehr schöner letzter Satz

MfG
palerider

 

Hallo bleicher Reiter,

danke für die Wertschätzung. Ich weiß auch nicht, ob dieser Text hier so reinpasst. Hab auch schon mit der Rubrik "Seltsam" geliebäugelt, denn der Blick eines Toten auf sein Grab ist doch schon eine etwas seltsame Erzählerposition. Aber sei es drum, ist halt das schöne an der Literatur, dass so etwas möglich ist.

Mit "Nähe zulassen" meine ich nicht die räumliche Nähe zu den Nebengräbern, sondern die Unfähigkeit eines Toten sich Projektionen, Einschätzungen und Bewertungen zu entziehen. Was die Nachwelt aus einem macht, dem ist man als Leiche leider hilflos ausgeliefert. Man kann nicht mehr widersprechen, nichts mehr geradebiegen und erklären. Man muss es zulassen.

LG Henry

 

Wow,
das nenne ich einen gründlich gelungenen Erstling!
Hast hier auf Kg.de deinen ersten treuen Fan ausgebuddelt (versau das nich ;) )
Finde die Idee deiner Geschichte brilliant, ebenso deren sprachliche Umsetzung. kein Satz zuviel, keiner zuwenig. Jede Zeile war für mich ein Lesegenuss. Alle Achtung!
Einfühlsam und doch mit hintergründigem (morbiden) Humor...

Wenn ich was zu bekritteln hätte, dann diesen vorletzten Satz

Sie werden professionell gepflegt, dafür habe ich noch gesorgt.
Irgendwie will der nicht so recht ins übrige Gefüge passen. Vor allem das Wort professionell klingt schief.
Kann das allerdings nicht besser als mit meinem Gefühl begründen, darum warte mal andere Stimmen ab.

sehr gerne gelesen
weltenläufer

 

Oh ja, noch mehr frische Blumen auf meinem 'Grab'! ;-) Vielen Dank dafür.

Nun ja, warum professionell...? Ich besuche häufig das Grab meiner Schwiegermutter. Daneben befinden sich Gräber, die total verwahrlost sind, und ich bedauere dann die Person, die da liegt. Ob sie sich wohl schämt, so einen schlechten Eindruck zu machen? Was muss das für ein trauriges Leben gewesen sein, wenn keiner mehr da ist, um ein wenig Unkraut zu zupfen und ab und an nach dem Rechten zu schauen?

Daneben gibt es Gräber, die von der Friedhofsgärtnerei professionell gepflegt werden. Sie sehen immer ok aus, da gibt es nichts zu mäkeln. Keiner denkt bei so einem Grab irgendetwas, obwohl derjenige vielleicht noch einsamer gestorben sein mag als sein verwahrloster Grabnachbar. Sozusagen der letzte Selbstschutz, damit keiner sieht, dass man am Ende einsam gescheitert ist.

LG Henry

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Henry,

ja, mir hat die Geschichte auch gut gefallen.Gerade unter der Rubrik Alltag finde ich sie passend, denn der Tod gehört dazu!
Sprachlich sehr schön. Meine Favoritensätze:

- wenn man mag - ein wenig Unkraut zupfen
Hab mich in der Suche verloren, hab keine Nähe gefunden aber jede Menge Abstand.
Nichts soll darauf hindeuten, dass hier die Hoffnung begraben liegt.

 

Hallo Henry_L,

der etwas andere Blickwinkel auf die unvermeidlich letzte nachvollziehbare Station unseres Seins. Worte und Stil sind passend gewählt, der Raum dazwischen wird sehr geschickt für Nachdenkliches genutzt. Wohl wissend, dass es darauf auch für einen selbst hinauslaufen wird, bereitet diese unmittelbare, fast sachliche Konfrontation leises Unbehagen. Weil dieser nüchterne Blickwinkel keine Möglichkeiten für verklärende Interpretationen zulässt, einen einfach nur zur Erkenntnis zwingt. Und jeder kann sich selbst noch einmal fragen, was denn das eigene Fazit ergeben würde, und ob es von den beschriebenen Gedanken grundlegend abwiche. So simpel und treffend, dass man es eigentlich lieber gar nicht wahrhaben will.

Finde ich sehr gut, diesen Text. Seine Berechtigung zur Geschichte gewinnt er dadurch, dass er jede Menge Gedanken freisetzt, sich kritisch mit der eigenen Geschichte zu beschäftigen.

Die "professionelle" Pflege finde ich in diesem Zusammenhang treffend und richtig formuliert, weil es bald nur noch um die Sache geht, um das Optische, und immer weniger um den "Inhalt". Das kalte, nüchterne Wort drückt genau diesen Sachverhalt aus. Kein Pathos. Keine Beschönigung. Keine Verklärung.

Grüße von Rick

 

Hallo Henry_L,

deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Vor allem deine Gedanken über Nähe fand ich sehr interessant. Einmal über die Nähe, die man sucht und auch über die, die man nicht zulässt.
Deine Geschichte hinterlässt eine tiefe Nachdenklichkeit in mir.
jurewa

 

Vielen Dank auch an Jurewa und und Rick für die warmen Worte. Was will man mehr? Wenn eine Geschichte beim Leser etwas in Gang bringt, hat man viel erreicht.

Thanx Henry

 

Ich weiß nicht ...

Ich kann mich meinen Vorrednern nicht wirklich anschließen, bei mir hat der Text nichts hinterlassen. Das Bild über das Grab, das du zeichnest, finde ich recht blass, die Erörterung über Nähe und Lebenssinnsuche bleiben weitesgehend abstrakt. Und dass von einem Menschenleben nur wenige Erinnerungen und ein paar einzelne Fotos übrigbleiben können, ist zwar traurig, das weiß ich aber auch so. Alles in allem eher eine unpersönliche Grabrede.

Aber Geschmäcker sind halt unterschiedlich. :)

 

hallo henry

dann leg ich dir auch noch mal ein paar Blumen aufs Grab.

Mann wird sagen können, es ist keine Geschichte, da keine HAndlung vorhanden ist. Aber wie du es schon gesagt hast: Das ist ja das schöne an der Schrift, dass man aus allen möglichen Perspektiven schreiben kann.
Daher ist das hier sehr gelungen. Ich hab auch schon mal aus der Sicht einer Leiche geschrieben, und mir hat das sehr viel Spaß bereitet. ich denke mal, dir auch.
Berührt oder gerührt hat es mich allerdings weniger. ich sehe diese KG eher humoristisch angesiedelt.
Seltsam ist es sicherlich, aber auch Alltag, denn er liegt ja schließlich jeden Tag dort.

Herzlich willkommen

 

Hallo Aris,

Ich bin zwar erst seit gestern hier, aber die Grundsatzfrage, "was ist eine Kurzgeschichte und was nicht?", scheint hier ja in diversen Threads immer wieder die Gemüter zu erregen. Eignet sich als Argument natürlich wunderbar, um einen Text pauschal abzuwerten.

Ich halte es mit der Textkritik so wie Ramujan. Ist das Handwerkliche ok, dann geht es nur noch darum, ob ein Text mich anspricht oder eben nicht. Wenn nicht, wenn die Zeilen nichts mit mir, meinen Gedanken, meiner Welt zu tun haben oder mein Interesse für bisher Unbekanntes, Neues wecken können, dann ist es kein Text für mich. Das ist nicht schlimm, das stört keinen großen Geist.

LG Henry

 

Also ich habe deine Geschichte gelobt, und geschrieben, dass es egal ist, ob man es KG nennen kann oder nicht. ich glaube, du hast mich da falsch verstanden. Schau doch noch mal nach.

 

Ich hab das schon verstanden, Aris. Mein Satement bezog sich lediglich auf die Forums-Formalien, die du in deinem Posting erwähnt hast.

 

na gut. Ich wundere mich nur immer wieder, was hier alles als Kurzgeschichte durchgeht. weil ich sowas immer nicht posten darf. bei mir kommen da gleich immer alle an und meckern. aber ist ja auch nicht schlimm. ich freue mich auch immer über texte, die die richtlinien überschreiten. und ich habe mich über deinen text auch gefreut.

 

Hallo Henry,

ich las deine drei Romantik/Erotik-Geschichten und dann diese hier. Was mich an den anderen störte, war die Art, die Geschichten zu erzählen. Wie schon ein anderer Kritiker schrieb, hast du mir dort zu sehr beschrieben und die Personen zu wenig agieren lassen. Jedoch deine angenehme, gute Schreibe ließ mich weiterstöbern. Diese mir dort weniger zugängliche Art fand ich in diesem Text jedoch genau richtig.

Einzig:

Die Hoffnung hat mich getrieben, mal hier hin, mal dort hin. Bin nie lange geblieben, musste immer wieder weg.

hat mich sehr an:

Heute hier, morgen dort, bin kaum da, muß ich fort,
hab‘ mich niemals deswegen beklagt.
Hab‘ es selbst so gewählt, nie die Jahre gezählt,
nie nach gestern und morgen gefragt.

Manchmal träume ich schwer,
und dann denk‘ ich, es wär‘
Zeit zu bleiben und nun ganz was andres zu tun.
So vergeht Jahr um Jahr und es ist mir längst klar,
daß nichts bleibt, daß nichts bleibt wie es war.


- Hannes Wader -

erinnert ;).

Lieber Gruß
bernadette

 

ach ja, der alte hannes. ich habe letztens bei ihm im konzert gesessen, ich, der junge spund, und die älteren fanden es öde. und ich glaube, hannes selber hatte auch keine lust mehr. er hat mehr seine leier gestimmt als gespielt.
und so Sachen wie sein lied kokain oder das von dir angesprochene Wahnsinnsstück spielt er schon lange nicht mehr. schade drum.

aber es sollten viel mehr geschichten an dieses lied erinnern.

 

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