Metamorphose
Mit krachender Wucht schlägt ein riesiges Trumm schwarzen Stahls durch das Dach. Der Holztisch im Esszimmer birst, ein Stuhl, mit buntem Stoff bespannt, kippt um. Schon erreicht ein weiterer kraftvoller Stoß den Flur im Erdgeschoss. Im Wohnzimmer kippen Schränke, verschieben sich Wände und die rohe Gewalt, die sich unabwendbar ihren Weg bahnt ist stärker als jene geringe Robustheit, die bislang genügte, zu verhüten, dass Kopf und linker Arm der kleinen Eliza sich von ihrem Körper abtrennen. Im Musikzimmer spielen weitere Schläge des monströsen Hammers auf dem Flügel ein erbärmliches Requiem voll grässlicher Laute, die diese Orgie unübertroffener Zertrümmerung zu begleiten. Einst erfreute er mich mit verzückenden Klängen, doch nun muss auch dieses kunstvoll gefertigte Instrument das Heer aus Staub und Splittern vermehren, das dieses Puppenhaus nun reichhaltig nährt. Nicht ein Regal und nicht eine Wand entgehen mir. Auch nicht einer seiner Bewohner, denn heute ist der Tag, an dem ich keine Gnade kenne. Ein fester Tritt macht das Obergeschoss zum Parterre. Diese kleine Welt, die ich mit Hingabe über Jahre hinweg erschaffen hatte, erlebt heute ihren jüngsten Tag. Es war eine Welt ohne Sünde, doch sie muss nun vergehen. Und ich bin ihr zorniger Gott!
Es schmerzt, zu vernichten, worin ich so viel Liebe gelegt hatte. Doch das nützt jener sterbenden Welt nichts mehr, es steigert lediglich meine Wut. Was untergeht ist ein Teil von mir, ein Teil, der ich nicht sein darf, nie sein durfte; ein Teil, der ich nun auch nicht mehr sein will. Puppenhäuser sind für Kinder, außerdem für Mädchen. Ich bin jetzt ein junger Mann.
Die nun freie Stelle auf dem Schreibtisch nimmt schnell mein neuer Rechner in Anspruch. Statt mit Puppen zu spielen, lese ich viel über Mathematik, über Programmierung sowie Literatur und über Kunst. Nicht alles davon lese ich gerne, aber es hilft mir, zumindest manches davon, eine Arbeit zu finden: Dreidimensionale Berechnung von Röhren- und Leitungssystemen, nicht immer bereitet mir das Langeweile, doch spannend oder gar anregend ist es so gut wie nie. Immerhin erlaubt mir der Lohn, eine Wohnung zu kaufen und einzurichten. Im Esszimmer steht ein großer Holztisch, zwar konnte ich Stühle, die mir wirklich gut gefielen, nirgends entdecken, dafür gefallen diese meiner Frau. Für einen Flügel fehlen Platz und Geld. Spielen könnte ich ihn übrigens auch nicht. Ich bin trotzdem überaus zufrieden mit der Wohnung.
Es war ein gelungener Abend, unsere Freunde sind vor wenigen Minuten aufgebrochen. Da ich morgen in der Firma einige meiner Berechnungen vorstellen werde, gehe ich zu Bett. Meine Frau fragt mich, warum ich nicht glücklich sei. Sie kennt mich zu gut, als dass sie es hätte übersehen können. Ich fühle die Ahnung einer Antwort: Ein Teil von mir ist vor langer Zeit gestorben.
Vorsichtshalber möchte ich mir noch einmal die Konstruktionspläne ansehen, ich stehe wieder auf und starte den Rechner. Mit den Röhren ist alles in Ordnung, dennoch verändere ich vorsichtig ihre Form. Eine Röhre wächst zur Seite, bekommt Füße. Nun geht es an die Farbe, sie wird glänzend schwarz. Messingfarbene Pedale dazu, hinten abrunden, vorne eine Klaviatur einfügen. Die Programmierung der Tasten dauert eine Weile, bereits in einer Stunde wird der Wecker klingeln. Ich habe einen Flügel geboren.
Und ich spiele darauf! Meine Kunstfertigkeit ist es nicht, die die Künstlichkeit meines Werkes verhüllt. Nüchtern betrachtet, wirkt es sogar etwas ungelenk und grob. Die von Sehnsucht getriebene, bemerkenswerte Kraft meines Geistes ist es, die jenen Umstand überdeckt. Im Lauf der Zeit habe ich eine umfangreiche Sammlung an Musik erworben, es sind großartige Werke darunter. Aber noch niemals zuvor hatte Musik mir ein solch durchdringendes Erleben, eine derartige triumphale Glückseligkeit beschert, wie sie es ihr in diesem Moment gelingt. Ich bin wieder ich.