Mia
Mia
So mancher Mitschüler schien Mia Liebich nicht einmal zu bemerken, wenn sie morgens in die Schule kam.
Sie war eines von den Mädchen, über das man nicht redete.
Sie sah aus wie jedermann, gab ihre Arbeiten fristgerecht ab, sprach nicht viel und beanspruchte in keinster Weise Aufmerksamkeit. Mia war einfach da.
Die Jungs aus ihrem Jahrgang würden sie wahrscheinlich als graue Maus bezeichnen, wenn sie Mia überhaupt zur Kenntnis nehmen würden.
Sie war eine strebsame Person, sie verfolgte strickt ihre Ziele, ohne viel Theater darum zu machen.
Mia wusste, dass sie eines der Mädchen war, die nach dem Abitur als erstes vergessen werden würden.
Dieser Gedanke tat ihr weh. Aber was sollte sie tun? Sie war eben nicht eine Person, der gleich im passenden Moment ein toller Witz einfiel, über den alle lachen würden, oder eine von den hübschen Mädchen, mit denen gleich jeder befreundet sein wollte, nur um dazuzugehören. Nein, Mia war eben Mia.
Sie liebte es in ihren Büchern zu versinken, in eine andere Welt einzutauchen, und die Außenwelt hinter sich zu lassen.
Schon in den Grundschulzeugnissen bezeichneten sie die Lehrer als ein Kind voller Phantasie, dass leider dazu neigte sich in seiner eigenen Welt zu verschließen.
Mia konnte Stunden unter der großen Birke im Garten liegen und sich Geschichten ausdenken. Irgendwann begann sie sogar ihre Gedanken aufzuschreiben. Nicht nur Geschichten, sondern auch Gedichte. Mia war eine begabte junge Frau, deren Talent leider den meisten größtenteils verborgen blieb.
Wie jeden Tag saß Mia in der Pausenhalle in ihrer Ecke neben dem Häuschen des Hausmeisters. Dort war sie ungestört und kam nicht in die Situation angesprochen zu werden.
Sie beobachtete lieber und studierte das Verhalten der Menschen.
Doch plötzlich bemerkte sie, dass zwei Mädchen, die mit anderen in einer Runde standen, zu ihr hinüber sahen und zu tuscheln begannen.
Mia versuchte sich auf die Geschichte zu konzentrieren, an der sie gerade schrieb, doch sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Sie mochte es nicht im Fokus anderer Menschen zu sein. Es löste eine ungeheure Unsicherheit und Verlegenheit in ihr aus.
Nun beobachtete sie mit Schrecken, dass Fenja Wichmann, die Jahrgangssprecherin und Malene Langraf ,ihre beste Freundin, mit forschen Schritten auf sie zukamen. Mia spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte und sie ihren blauen Kugelschreiber fest umklammerte.
„Hallo, Mia“, begrüßte sie die attraktive Jahrgangsprecherin, während sie ihre langen braunen Haare zurückwarf. Mia blickte mit verstohlenem Blick zu den beiden Mädchen auf und nickte ihnen kaum merklich zu.
„Mia, wir hätten da eine Bitte an dich. Du weißt ja sicher, dass Berichte, die du im Literatur-Kurs geschrieben hast in der Schülerzeitung gedruckt wurden. Naja, die waren echt gut. Nun, wir wollten dich fragen, ob du nicht die Abschlussrede bei der Zeugnisvergabe halten möchtest. Keiner würde bessere Worte finden als du.“
Mia wurde übel. Wie konnte sie sich aus dieser Situation nur befreien?
„Mia, nun komm schon, trau dich“ heuchelte Malene, die Fenja einen Blick zu warf, der so viel bedeuten konnte wie, „Sieht du, ich wusste es doch, sie ist zu feige!“...
Fenja beugte sich zu Mia runter und drängte: “Du kannst das doch. Außerdem will kein anderer. Wie stehen wir denn da...ganz ohne Rede.?“
„Ach komm Fenja, es hat keinen Sinn“, brummte Malene, während sie ihre manikürten Fingernägel betrachtete. „Mia, traut sich nicht. Lass sie. Wir finden schon noch jemanden!“.
„OK, ich machs!“, platzte es unvermittelt aus dem schüchternen Mädchen, so dass sie sich fast selber erschrak.
„Wie, echt?“ Fenja starrte sie erstaunt an, als hätte sie sich überhört.
Nein, es war kein Zweifel, das durchsichtige Mädchen hatte sich tatsächlich bereit erklärt die Abschlussrede zu halten. Selbst sie hätte sich das nicht getraut, obwohl sie so voller Selbstbewusstsein war, dass man sich wunderte, dass sie den Rektor nicht aufforderte die Schule in Zukunft Fenja-Wichmann-Schule zu nennen.
„Wow, dass ist toll, dass du das machst!“ Fenja schenkte Mia ihr süßestes Lächeln und sagte, „Na dann werde ich den anderen aus dem Abschlusskomitee sagen, dass du dich dazu bereit erklärt hast. Danke, Mia.“ Bevor Mia noch protestieren konnte, rauschten die beiden beliebten Grazien auch schon wieder davon.
Sie hätte weinen können, doch sie zwang sich zur Beherrschung.
Sie wusste, dass sie das konnte. Nichts konnte sie besser, als Texte schreiben...sie tat ja kaum etwas anderes. Aber vor so unglaublich vielen Leuten sprechen. Nein, dass hatte sie noch nie getan. Mia spürte, wie ihr Gesicht glühte und ihre Hände schwitzig waren. Worauf hatte sie sich da nur eingelassen? Es würden ihr nicht nur die Schüler zuhören, auch die gesamte Lehrerschaft mit Rektor und alle Eltern, Geschwister und Verwandte.
Mia legte ihren Kopf in ihr Handflächen und begann sich zu beruhigen.
„Bisher habe ich alles geschaft... Das schaffe ich auch!“
Die Pausenklingel ertönte. Mia stand auf und ging in die Klasse.
Noch am selben Tag begann Mia an ihrer Rede zu schreiben.
Es viel ihr schwer. Sie wusste nicht, wie sie beginnen sollte.
Sie hatte noch nie eine Rede geschrieben.
Mias Mutter spürte die Verzweiflung und fragte: „Was bedrückt dich, meine Schöne!“ „Ach Mama, du weißt, dass ich keine Schöne bin...Nur weil Mia –die Schöne- bedeutet, bin ich noch lange nicht schön!“ „Ach, Mia“ ihre Mutter nahm ihre Tochter in den Arm. „Du weißt gar nicht wie schön du bist... Was bedrückt dich also?“
„Ich weiß nicht, was ich in der Abschlussrede sagen soll. Die Worte kommen mir so künstlich vor.“ Ihre Mutter strich ihr eine lange blonde Locke aus dem Gesicht und sagte,“ Schreib einfach, was dir dein Herz sagt und sei du selber. Dann kann es nur gut sein!“
Und das tat sie...
Mia betragt mit ihren Eltern die hergerichtete Pausenhalle.
Sie hatte sich hübsch zurecht gemacht und sogar etwas Schminke aufgetragen.
„Heute ist dein großer Tag, meine Schöne. Wir sind so stolz auf dich“ Das hatte ihre Mutter gesagt, bevor sie das Haus verließen, um zu Mias Zeugnisvergabe zu fahren.
Mia hatte in der Nacht davor keine Auge zu getan. Und ihre Gedanken waren von der Angst beherrscht vor so vielen Menschen sprechen zu müssen.
Der Raum war gefüllt voller lachender und fröhlicher Menschen. Mia jedoch fühlte sich verloren und traurig. Der Lärm und die Masse in dem prächtig geschmückten Raum schien sie zu erdrücken.
„Mama, ich gehe nochmal auf Klo. Ich komme gleich!“
„Gut Mia, aber lass dir nicht zu viel Zeit. Du bist doch gleich am Anfang dran!“
Ohne ein weiteres Wort verschwand Mia in der Mädchentoilette, schloss die Tür hinter sich und sank zu Boden. Tränen rannten ihr über das Gesicht und sie zitterte am ganzen Leib.
„Ich kann da nicht rausgehen!“ sagte sie sich. „Ich kann das einfach nicht!“.
Mia war verzweifelt. Sie wollte ihre Eltern nicht enttäuschen...aber auch nicht sich selber.
Sie war immer eine Kämpferin. Hatte Alles ohne Hilfe geschafft.
Und nun...nun würde sie doch versagen.
Sie würde sich versprechen, stottern, rot werden und wahrscheinlich mitten in der Rede abbrechen und weglaufen.
Dann stand Mia auf und blickte in den ramponierten Spiegel, der an der weiß verkachelten Mädchenklowand hing. Die sorgfältig aufgetragene Wimperntusche war in dünnen Rinnsalen über ihre Wangen verteilt. Aus irgendeinem Grund musste sie über ihren Anblick schmunzeln.
Fenja oder Marlene wären an ihrer Stelle jetzt sicher am Boden zerstört gewesen.
Dieser Gedanke machte ihr Spaß.
Wieder sah sie in den Spiegel. Sie sah so künstlich aus, wie ihre Worte, mit der sie anfänglich die Rede beginnen wollte. Ihre Mutter hatte gesagt, dass sie mit dem Herzen sprechen soll und sie selber sein soll.
Mia griff nach einem Papiertuch durchtränkte es mit Wasser und befreite ihr hübsches Gesicht von der Farbe. Ihre Mutter hatte Recht, sie war schön....
Sie tastete nach dem säuberlich gefalteten Zettel in ihrer Hosentasche und verließ mit sicheren Schritten ihr Versteck.