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Midwinter Blues
Du hattest recht, mein Herz, ich schulde dir schon seit geraumer Zeit eine Erklärung. Ich habe viel nachgedacht. Du sollst sie bekommen. Es wird mir nicht leichtfallen, weiß Gott nicht, und deshalb bitte ich dich inständig, mich nicht zu unterbrechen. Setze dich einfach auf die Couch und höre mir zu.
Bist du soweit? Gut.
Nun, wie soll ich anfangen? Meine Aggressionen haben nichts mit dir zu tun. Meine stundenlangen Fahrten mit dem Auto durch die Nacht – es gibt keine andere Frau. Meine Weigerung, mit dir meine Eltern zu besuchen und dich ihnen vorzustellen – du bist nicht der Grund, ich habe Mom und Dad seit Jahren selbst nicht mehr gesehen. Das weißt du! Sie fühlen sich halt zuhause am wohlsten, die Fahrt hierher nach Liverpool wäre ihnen zu beschwerlich. Ich weiß um die Worte, die du jetzt wieder anbringen möchtest, und aus deiner Sicht hast du auch vollkommen recht. Aber das, was sich dir als mögliche Alternative darstellt, ist für mich ausgeschlossen. Ich kann nicht mehr in diese Stadt zurückkehren, und sei es nur für einen Augenblick.
Du würdest Midwinter sicher mögen. Es ist keine große Stadt, sie hat vielleicht fünfzigtausend Einwohner. Keine Autostunde westlich von Salisbury. Stonehenge einen Katzensprung entfernt. Ringsum Wälder. Es würde dir gefallen, da bin ich mir sicher.
Aber ich habe Angst vor Midwinter.
Es war im Sommer 1990, ich war damals gerade vierzehn Jahre alt geworden. Du kannst dir wahrscheinlich denken, womit ich meine Nachmittage und Abende verbrachte. Mit Fußball. Es war die Zeit der Weltmeisterschaft in Italien, und wenn wir nicht gerade vor dem Fernseher hockten, spielten wir auf unserem Bolzplatz die Spielbegegnungen nach.
Meist war ich Gary Lineker, wenn ich Lospech hatte auch schon mal Stuart Pearce, aber das war auch noch okay. Nur einer wollte ich niemals sein: Paul Gascoigne, der war mir einfach zu verrückt und brutal. Stephen aber vergötterte ihn, er hatte sein Zimmer über und über mit Postern und Starschnitten von Gascoigne tapeziert. Ausgerechnet Stephen, diese halbe Wurst.
Er war es auch, der sich Ende Juni das rechte Knie so böse aufriß, daß er eine Woche ins Krankenhaus mußte und lange nicht mehr bolzen durfte. Das hättest du sehen sollen. Stephen „Gascoigne“ kam über halblinks, ich spielte ihm den Ball zu, der Kerl marschierte schnurstracks Richtung Tor, bis ihm plötzlich Alan von hinten die Beine wegtrat. Stephen machte den Abflug. Mein Gott, der Schotterplatz hatte einen Belag, da hätte er auch gleich in ein mit Reißzwecken aufgeschüttetes Loch springen können. Sein Knie war nur noch rotbrauner Matsch, als hätte ihm jemand das Fleisch von der Kniescheibe geschält und es mit einem Brei aus Marmelade und Dreck wieder nachmodelliert.
Von diesem Tag an hatten wir ein Problem. Wir waren nur noch neun Jungs, und deshalb konnten wir keine zwei Mannschaften mehr bilden, ohne daß einer von uns draußen bleiben mußte. Natürlich gab es deswegen häufiger Streit, und das war dann wohl letztlich auch der Grund, warum wir Sandra in unsere Reihen aufnahmen.
Die Sache kam am Donnerstag, dem fünften Juli, ins Rollen. Das Datum kenne ich deshalb noch so genau, weil wir am Tag zuvor im Halbfinale gegen die Deutschen verloren hatten. 4:5 nach Elfmeterschießen. Schöne Scheiße. Diese verdammten Krauts. Du hättest meinen Dad hören sollen, oh Mann, der war so enttäuscht und wütend, daß ich richtig Angst vor ihm hatte.
An besagtem Donnerstag sind also Alan, Mike und ich durch die Stadt Richtung Bolzplatz geschlichen, in einer Stimmung, als gingen wir zu einem Begräbnis. Auf unserem Weg mußten wir auch durch die Baker Street, die südlichste der Straßen in Midwinter. Eine ziemlich lange Allee, deren Bäume angenehme Schatten in die flimmernde Hitze des Tages warfen.
Vor der hohen Mauer seines Grundstücks stand Paul Harding oder auch Dirty Paul, wie wir ihn immer nannten. Der Mistkerl war der größte Kinderschreck der Stadt, und das stellte er mal wieder tatkräftig unter Beweis.
Diesmal waren es Sandra Fleming und ihre kleine Schwester, die er vor seinem Grundstück erwischt hatte und an den Armen festhielt. Die beiden Mädchen schrien vor Wut und Angst, von der gegenüberliegenden Straßenseite schrie eine Frau auf Harding ein, Dirty Paul seinerseits brüllte die Mädchen an. Es war ein Gezeter wie in der Hölle.
Sandra kannte ich aus der Schule, sie ging in die Klasse unter mir und war mir bislang nur deshalb auf dem Schulhof aufgefallen, weil sie sich einige Male mit Jungs geschlagen hatte. Meist zogen ihre Gegner den Kürzeren, und du weißt sicher noch, was das für einen Jungen bedeutet. Danach warst du erledigt, fertig, mausetot – mindestens aber wochenlang das Gespött der Schule.
Sandra hatte dadurch natürlich einen gewissen Ruf, der die meisten Jungs davon abhielt, sich überhaupt mit ihr zu befassen. Wer will schon ein Mädchen kennen, das dir mal eben den Kiefer richtet, wenn du ihm krumm kommst.
Sie sah auch nicht sehr weiblich aus, hatte ihre blonden Haare stets sehr kurz geschnitten und trug ausschließlich Jeans und Shirts. Fast wie ein Junge.
Ob sie mich jemals zuvor bewußt wahrgenommen hatte, weiß ich nicht, doch in dem Moment, als wir an Hardings Mauer vorbeischlenderten, warf sie mir einen so verzweifelt bittenden Blick zu, als wäre nur ich in der Lage, sie aus dieser Situation zu retten.
Ich weiß bis heute nicht genau, was mich getrieben hat, aber während Alan und Mike einen großen Bogen um Harding und seine Opfer machten und mit gesenktem Kopf weitergingen, blieb ich stehen und schrie den alten Sack an:
„Laß die Mädchen los!“
Der Typ war darüber so erbost, daß er Sandra und ihre Schwester losließ und auf mich zusprang. Wir haben dann alle die Beine in die Hand genommen und sind vor lauter Angst lachend bis ans Ende der Baker Street gerannt, während Dirty Paul uns wüste Drohungen hinterherschrie. Der Mensch war wirklich ein Arschloch, wie er im Buche steht. Mittlerweile ist er tot. Mom hat mir kurz vor Weihnachten am Telefon mal erzählt, daß er und seine Frau von ihrem eigenen Hund zerfleischt wurden. Das muß letzten Sommer gewesen sein. Denk von mir, was du willst, aber ich hab´s ihm gegönnt.
Alan und Mike waren damals sicher der Meinung, daß wir uns wieder von Sandra trennen würden, aber irgendwas brachte mich dazu, sie zu fragen:
„Kommst du mit zum Bolzplatz?“
Sie blickte kurz auf ihre Schwester hinunter und nickte dann.
„Klar, wenn ich da nicht störe.“
Damit war die Sache geklärt und wir gingen weiter. Den ganzen weiteren Weg über sagte Sandra kein Wort und streichelte nur hin und wieder ihrer Schwester die Wange. Die Kleine hieß Emily, wie ich später erfuhr. Sie war damals sieben Jahre alt und hatte die gleichen blonden Haare wie Sandra, nur daß ihre wesentlich länger und mit einer Haarklammer zu einem Linksscheitel gezogen waren. Ein klischeehaft adrettes Kind, wenn da nicht ihr trauriges Gesicht gewesen wäre. Ich habe Emily nur ein einziges Mal lachen sehen. Sehr befremdlich, das kann ich dir sagen.
Als wir auf dem Bolzplatz ankamen, waren die anderen schon da und kickten lustlos auf eines der beiden Tore, die aus jeweils drei rostigen Rohren zusammengeschweißt waren. Sie machten große Augen, daß wir Sandra und Emily im Gepäck hatten, sagten aber nichts dazu. Gemeinsam hockten wir uns in das vertrocknete Gras neben dem Schotterfeld und trauerten dem verlorenen Halbfinale nach, bis wir uns schließlich doch noch zu einem Spielchen aufrafften. England gegen Deutschland. Die Schmach vom Vortag wettmachen. Keiner wollte freiwillig ein Kraut sein, also losten wir wieder mal die Spielaufstellungen aus. Das größte Pech hatte Mike, der sollte auf die Ersatzbank. Wollte er natürlich nicht, und so stritten wir uns eine Weile, bis er dann mehr aus Wut denn aus Ernsthaftigkeit vorschlug, Sandra doch mitspielen zu lassen, weil wir dann wieder zehn Spieler seien.
Sie war auch sofort Feuer und Flamme für diese Idee, und so kam es dann, daß wir widerwillig zustimmten. Sandra wurde in unsere Mannschaft gewählt und mußte natürlich ins Tor. Das schien uns die größtmögliche Schadensbegrenzung zu sein.
Aber es war weit mehr als das. Sandra war nicht nur gut, sie war einfach klasse. Hielt fast alles, was ihr die Krauts auf die Bude zimmerten, parierte im oberen Eck, warf sich in den Schotter – man kam fast nicht an ihr vorbei. Damit hatte natürlich keiner von uns gerechnet, und als das Spiel dann aus war – wir haben die Krauts mit 6:2 geschlagen –, war sie eine von uns.
In den folgenden zwei Wochen kam sie regelmäßig zum Platz und spielte mit uns. Manchmal kam sie alleine, manchmal brachte sie Emily mit. Die Kleine saß dann am Spielfeldrand und sah uns zu. Sie hat nie gequengelt, saß immer nur still da. Wir gewöhnten uns an Emily. Und ich fing an, Sandra zu mögen. Sehr zu mögen.
Eines Tages nahm ich all meinen Mut zusammen und lud sie zu einem Eis ein. Ich weiß noch, wie ich dabei gestottert habe und dachte, sie hielte mich jetzt sicher für einen kompletten Idioten. Tat sie aber nicht. Sie hat tatsächlich Ja gesagt. Unglaublich. Mein erstes Date. Ich war so stolz, daß ich abends lange nicht einschlafen konnte.
Am nächsten Nachmittag trafen wir uns in der Stadt vor der Eisdiele. Sie kam alleine, ohne Emily. Mir schlug das Herz bis zum Hals, als wir den Laden betraten und uns ganz hinten in der Ecke an einen kleinen Tisch setzten. Ich hatte den Rest meines Taschengeldes eingesteckt und hoffte inständig, daß es reichen würde.
„Was für Eis willst du denn?“ fragte ich sie.
„Vanille und Erdbeer. Becher, kein Hörnchen. Ich mag nämlich keine Hörnchen. Und ein bißchen Sahne dazu.“
Sie lächelte unsicher und spielte mit ihren Fingern. In diesem Moment habe ich das erste Mal wahrgenommen, wie hübsch sie wirklich war. Sie war es nicht auf den ersten Blick, aber wenn man sie nur lange genug ansah, dann war sie schöner als die begehrtesten Mädchen der Schule. Es war wie eine aufregende Entdeckungsreise, alles an ihr faszinierte mich auf merkwürdige Weise.
Als ich die Bestellung bei der Bedienung aufgab, fühlte ich mich richtig erwachsen. Die Frau grinste mich an, ich wurde rot. So richtig erwachsen war ich dann wohl doch noch nicht. Sandra schien meine gesunde Gesichtsfarbe gar nicht zu bemerken.
„Danke für deine Einladung“, sagte sie. „Das ist echt lieb von dir.“
„Ach, halb so wild“, spielte ich die Sache herunter. „Da ist doch nichts besonderes dabei.“
Ich muß mich angehört haben wie der größte Frauenheld der Stadt.
„Ist es nicht?“ fragte sie und sah mich an.
Ich schüttelte hektisch den Kopf. „Nein, wirklich nicht.“
Wir schwiegen eine Weile, bis die Bedienung endlich unser Eis brachte. Ich hatte einen Klumpen im Magen und eigentlich gar keinen Hunger mehr, aber ich aß dann doch. Wir unterhielten uns über einen Mathelehrer, der unsere beiden Klassen unterrichtete. Wir sprachen über Patrick, den übelsten Schläger der gesamten Schule. Wir lachten über den Vorfall kurz vor Ferienbeginn, als ein paar Witzbolde eine Packung Damenbinden in der Toilette angezündet hatten und um ein Haar die halbe Schule abgebrannt wäre.
Es waren diese gewichtigen Belanglosigkeiten, wie man sie sich als Jugendlicher häufig erzählt. Aber dann lenkte sie das Gespräch in eine andere Richtung. Wie oft habe ich mir später gewünscht, sie hätte es nicht getan.
„Glaubst du eigentlich an Gott?“ fragte sie mich, während sie mit dem Löffel in dem angeschmolzenen Eis in ihrer Schüssel rührte.
„Gott?“
Ich bin froh, daß ich damals nicht photographiert worden bin, denn ich habe ganz sicher kein geistreiches Gesicht gemacht.
„Ja, Gott.“
„Wie kommst du denn jetzt darauf?“
„Nun sag schon ... glaubst du an Gott?“
Ich sah ihr eine Weile in die Augen, versuchte herauszufinden, ob sie mich auf den Arm nehmen wollte. Aber sie meinte die Frage absolut ernst.
„Nein, ich glaube nicht an Gott. Du etwa?“
Sandra ließ den Löffel los und lehnte sich zurück.
„Ich weiß nicht. Ich habe Gott noch nie gesehen. Dad sagt, daß es ihn gibt.“
„Glaubst du deinem Dad?“
Sie kaute an ihrem rechten Daumennagel und schwieg.
„Du glaubst ihm nicht, oder?“ bohrte ich nach.
„Ich kann es dir nicht sagen. Ich meine, ich habe ihn doch nie gesehen. Niemand hat Gott gesehen. Wie kann da jemand sicher sein, daß es ihn gibt?“
„Ist das denn so wichtig für dich?“
Sie wandte den Kopf ab und starrte auf die künstliche Palme in der Nähe unseres Tisches.
„Ja.“
„Warum?“
„Weil ich möchte, daß es ihr gut geht.“
„Ihr?“
Sandra beugte sich vor und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Sekundenlang saßen wir schweigend da. Ihr Verhalten war mir fast schon unangenehm; ich sah mich in der Eisdiele um, aber keiner der wenigen Gäste nahm Notiz von uns.
„Weinst du?“ fragte ich sie schließlich, weniger aus Besorgnis denn aus Angst, damit nicht umgehen zu können.
Sie sah mich wieder an. Ihre Augen waren gerötet, aber trocken.
„Ich kann es nicht mehr“, sagte sie leise und schüttelte den Kopf. „Hast du das auch schon mal gehabt? Du bist traurig, aber du kannst nicht mehr weinen. Als hättest du all deine Tränen schon vergossen.“
Sie blickte wieder auf die Palme. Mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen können, und so hielt ich den Mund, bis sie weitersprach.
„Vor einem halben Jahr kam ich vom Klavierunterricht nach Hause. Zwei Polizisten saßen im Wohnzimmer und sprachen mit Dad. Er hatte ein Taschentuch in der Hand. Ich habe ihn vorher niemals weinen sehen. Emily und Mom waren nicht da, deshalb bin ich in mein Zimmer hinaufgerannt, habe mich auf mein Bett gesetzt und Musik gehört. Ich habe auf der Decke die Akkorde nachgegriffen und die Melodien mitgesummt, als könnte ich dadurch die schlechten Nachrichten abwenden. Irgendwann ging die Tür auf und Dad kam herein. Er setzte sich zu mir, nahm mich in den Arm und sagte immer wieder ‚Hilf mir, San‘, immer nur dieses schreckliche ‚Hilf mir, San‘. Ein paar von seinen Tränen sind auf meinen Hals getropft. Ich habe mich davor geekelt, aber ich konnte sie nicht fortwischen. Er hatte mich so fest an sich gedrückt, daß ich mich nicht rühren konnte. – Sieh mal, der Hund.“
Sie deutete mit dem Finger auf die Glastür, hinter der ein kleiner Retriever mit hechelnder Zunge stand und durch die Scheibe zu uns hereinsah.
„Ich wollte auch immer einen Hund“, meinte sie, „aber Dad hat es verboten. Manchmal ist er sehr streng.“
Der Hund wurde an der Leine weitergezogen und verschwand im sommerlichen Trubel der Stadt. Ich wollte eigentlich etwas sagen, froh darüber, das Thema wenigstens kurzzeitig wechseln zu können, aber Sandra erzählte schon weiter.
„Mom wollte nur eine Glühbirne im Bad wechseln. Dad hat so etwas ja nie gemacht. Sie hat sich auf einen Stuhl gestellt, weil die Decken bei uns so hoch sind. Dabei ist sie abgerutscht und mit dem Hinterkopf auf den Wannenrand gefallen. Emily hat es nicht einmal bemerkt. Sie war in ihrem Zimmer und hat gespielt. Dad fand Mom, als er von der Arbeit nach Hause kam.“
Die ruhige und sachliche Art, in der Sandra es erzählte, war schlimmer als jedes hysterische Schreien. Ich war wie vor den Kopf geschlagen.
„Morgens hatte ich mich noch mit Mom gestritten. Jetzt war sie nicht mehr da. Ich konnte mich nicht einmal mehr bei ihr entschuldigen.“
Sandra stocherte in ihrem Eis herum. Ich schwieg. Was hätte ich auch sagen sollen?
„Weißt du, was ich glaube?“ fragte sie mich nach einer Weile.
„Was denn?“
„Wenn es Gott wirklich gibt, dann ist er verdammt unfair. Mom hat ihm doch nichts getan. Es gibt so viele schlechte Menschen, die länger leben. Das kann Gott doch nicht wirklich wollen, oder?“
Ich zuckte hilflos mit den Schultern. Für mich war Gott so weit weg wie mein eigener Tod, und damit war er mir in jenem Augenblick näher als jemals danach.
„Manchmal denke ich, Dad macht sich nur etwas vor. Ich hab ihn oft gefragt, wieso Gott soviel Böses auf der Welt zuläßt. Dad sagt dann immer, daß sich Gott nicht einmischt, daß er den Menschen den eigenen Willen läßt, zu tun, was sie tun wollen. Aber genauso oft meint er, daß Gott den Dingen ihren Sinn verleiht, daß nichts dem Zufall überlassen ist. Dann plötzlich werden die Geschicke der Menschen durch Gott gelenkt. So formuliert er es immer. Das widerspricht sich doch!“
War mir Sandra bis dahin noch sehr ruhig erschienen, so geriet sie nun zunehmend in Rage.
„Dad sagt Emily und mir oft, Gott habe Mom zu sich genommen. Warum? Warum hat Gott nicht einfach seine Finger von Mom gelassen? Wie soll ich noch zu diesem Gott beten? Aber Dad ... ja, der kann das! Er bedankt sich sogar noch bei ihm für das Essen!“
Die letzten zwei Sätze hatte sie in einem erschreckend verächtlichen Tonfall ausgesprochen.
„Nicht so laut, Sandra“, flüsterte ich ihr zu und nickte zu der Bedienung hinüber, die uns einen ruhegemahnenden Blick zuwarf.
„Entschuldige“, sagte sie ebenso leise. „Weißt du, was das schlimmste ist? Emily. Sie ist ganz anders geworden. Kaum, daß sie mal ein Wort spricht, schon gar nicht über Mom. Es ist, als hätte es sie für Emily nie gegeben. Die Therapie hilft da auch nicht. In den ersten Wochen nach Moms Tod hat sie sich häufig stundenlang im Keller versteckt. Hockte einfach nur in der Dunkelheit, bis wir sie fanden, nachdem wir schon überall nach ihr gesucht hatten. Seitdem schließt Dad den Keller immer ab und versteckt den Schlüssel. Dafür hat Emily angefangen, Fingernägel zu kauen und sich die Haare strähnenweise auszureißen. Einmal habe ich sie dabei erwischt, wie sie sich im Garten mit einem kleinen Stein den Handrücken blutig ritzte. Ich habe richtig Angst um sie. Manchmal glaube ich, sie ist verrückt.“
Sandra ließ den Kopf sinken und atmete tief durch.
„Das wußte ich alles nicht“, sagte ich und berührte sie tröstend an der Schulter. Etwas in mir versuchte mir klarzumachen, daß es richtig sei, ihre Hand zu nehmen, aber ich brachte es nicht fertig. Ich war froh, wenigstens diesen einen Satz über die Lippen gebracht zu haben.
Sie lachte verbittert auf.
„Was hast du?“ fragte ich sie.
„Es klingt wahrscheinlich blöde, aber trotz allem hoffe ich, daß es stimmt, was in der Bibel steht. Ich hoffe es für Mom.“
„Sie ist ganz bestimmt im Himmel“, entgegnete ich und hatte im gleichen Moment das Gefühl, soeben den dämlichsten Satz meines Lebens ausgesprochen zu haben. Doch Sandras Gesicht entspannt sich merklich.
„Du bist ein sehr netter Junge, weißt du das?“
Ich war irritiert über diesen abrupten Wechsel des Themas. Eigentlich war es genau das, was ich hatte hören wollen. Aber nach dem Gespräch der letzten Minuten konnte ich mich darüber nicht mehr freuen. Sandra schien es zu bemerken.
„Tut mir leid, daß ich die Stimmung versaut habe“, meinte sie niedergeschlagen.
„Quatsch, hast du doch gar nicht. Es ist nur so schlimm, was du da erzählst. Aber das ist schon okay.“
„Wirklich?“
„Wirklich.“
Sie warf einen Blick auf die große Wanduhr.
„Ich glaube, ich muß jetzt gehen. Emily und Dad warten mit dem Abendbrot.“
„Ja, klar. Gehen wir.“
Ich winkte die Bedienung heran, zahlte die Rechnung und gab das erste Trinkgeld meines Lebens. Dann brachte ich Sandra nach draußen.
Als wir vor der Türe standen, hatte ich keinen blassen Schimmer, wie ich mich verabschieden sollte. Glücklicherweise kam sie mir zuvor.
„Danke nochmal für das Eis“, sagte sie und reichte mir die Hand.
Ich schlug ein und hatte das Gefühl, einen Stromschlag zu bekommen.
„Gern geschehen“, erwiderte ich und hoffte, sie würde die Röte meines Gesichts nicht bemerken. „Sehen wir uns morgen?“
„Morgen kann ich nicht, ich muß daheim auf Emily aufpassen. Übermorgen?“
„Ja, gerne.“
„Auf dem Platz?“
„Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du vielleicht Lust hättest, mit mir ... vielleicht möchtest du ja mal mit mir in den Park gehen? Ich meine, nur wenn du magst und ...“
Sie lächelte wieder. „Natürlich möchte ich. Ich bringe ein bißchen Brot für die Enten mit, okay?“
„Klar, das ist eine gute Idee. Übermorgen am alten Stadtbrunnen? So gegen vier?“
„Ja, ich bin dann da. Mach´s gut soweit.“
Sie wandte sich ab und wollte gehen, aber ich hatte noch etwas auf dem Herzen.
„Sandra?“
„Ja?“
„Was ich da vorhin gesagt habe ... das war gelogen ... es war etwas Besonderes heute.“
Statt einer Antwort trat sie auf mich zu und gab mir einen Kuß auf die Wange. Dann rannte sie fort, ohne sich noch einmal umzudrehen.
In den kommenden Wochen trafen wir uns häufiger allein. Natürlich gab es dumme Sprüche von den Jungs, aber das kümmerte mich nicht. Das Kicken auf dem Platz hatte in Rekordgeschwindigkeit seinen Reiz für mich verloren.
Sandra und ich gingen Hand in Hand spazieren, oft stundenlang, als wollten wir bis zum Ende der Welt. Wenn wir uns unbeobachtet fühlten, küßten wir uns. Mehr lief nicht, aber das störte mich nicht weiter, denn schon alleine das Gefühl, bei ihr zu sein, war aufregend genug. Wir hatten über diese Sache gesprochen und waren uns einig, damit noch zu warten. Ehrlich gesagt, ich war froh darüber, denn auch wenn meine Hormone bei den Küssen Purzelbäume schlugen, so hatte ich doch eine Menge Schiß vor dem ersten Mal.
Manchmal ließ es sich nicht vermeiden, daß sie Emily mitbrachte. Ich mochte die Kleine, auch wenn sie kaum mit mir sprach. Allerdings mußten Sandra und ich uns an diesen Tagen benehmen, wie sie es auszudrücken pflegte.
Mitte August nahm sie mich dann das erste Mal mit zu sich nach Hause. Ihrem Dad – der mich so mißtrauisch beäugte, daß ich mich wie ein Leberwurstbrot im Freßnapf einer Bulldogge fühlte – erzählte sie, ich sei ein Klassenkamerad. Wir würden gemeinsam Schulaufgaben erledigen. Ich kann heute nicht glauben, daß wir damals wirklich der Meinung waren, er würde uns diesen plumpen Kram abkaufen. Hat er auch nicht, auch wenn er es sich zunächst nicht anmerken ließ.
Sandra zeigte mir heimlich Bilder von ihrer Mutter. Die beiden hatten nicht sehr viel Ähnlichkeit miteinander. Mrs. Fleming war eine sehr schlanke, kleine Frau mit fast schon kindlichen Gesichtszügen gewesen. Auf einem Photo winkte sie mit der rechten Hand in die Kamera. Ich sah, daß ihr der Zeigefinger fehlte.
„Sie ist mal als Kind mit der Hand in eine Kreissäge geraten“, erklärte mir Sandra. Es schien sie jedesmal sehr aufzuwühlen, wenn sie die Photos betrachtete, und so ließen wir es dann bald auch wieder sein.
Eines Tages bat mich Mr. Fleming, ihm bei einer Reparatur seines Wagens kurz zur Hand zu gehen. Ich stiefelte mit ihm in die Garage, wo er ein kleines Blechstück in seinen Schraubstock spannte. Sein Rover hat ihn nicht die Bohne interessiert.
„Ich möchte, daß du eines weißt, Junge“, sagte er nach geraumer Zeit, in der er das Metall mit einer Feile bearbeitet und ich nur wie Falschgeld stumm daneben gestanden hatte. „Du scheinst ein netter Bursche zu sein, und ich habe nichts dagegen, wenn du mit Sandra befreundet bist. Aber wenn du ihr an die Wäsche gehst, dann schneide ich dir mit meinen eigenen Händen dein kleines Ding ab. Ist das verständlich für dich?“
Bei diesen Worten strahlte er über sein rundes Gesicht, als habe er mir zum Geburtstag gratuliert. Ich war so vollkommen überrascht, daß ich nur genickt habe.
„Gut, Junge, ich sehe, wir werden uns prima verstehen. Willst du nicht heute abend zum Essen bleiben?“
Das ging alles so schnell, daß ich wieder nickte. Und so saß ich etwas später mit Sandra, Emily und dem guten Mr. Fleming, der mich im Falle der Entjungferung seiner Tochter entmannen wollte, an einem Tisch im Wohnzimmer, vor uns ein Sieb mit dampfenden Spaghetti und ein Topf Hackfleischsoße.
Bevor wir loslegen konnten, wurde erst einmal ein Gebet aufgesagt. Sandras Vater sprach es mit gesenktem Kopf, und es dauerte mächtig lange, bis die drei ihr Amen sagten. Dann ging es endlich los.
Es war eine ganz eigene Atmosphäre am Tisch. Ich kannte es nicht anders, als daß beim Essen immer viel geredet und gelacht wurde. Aber bei den Flemings herrschte während dieser Zeit Totenstille, ausgenommen das gelegentliche Geräusch, wenn jemand mit dem Besteck über das Porzellan rutschte.
Das Unfaßbare aber war für mich, daß keiner der drei auch nur einen Tropfen Soße verspritzt hat. Keinen einzigen. Meine Mutter sah danach meist aus, als hätte sie einen roten Lippenbart. Aber hier hatte ich es mit drei Pastaperfektionisten zu tun.
So sehr ich mich über mein erstes Abendessen mit Sandra gefreut hatte, so gut das Essen selbst auch war, es schmeckte mir dennoch nicht. Ich fühlte mich ständig von Mr. Fleming beobachtet, auch wenn er eigentlich nur in seinen Teller starrte.
Natürlich passierte es mir trotz aller Mühe, daß beim Aufdrehen der Spaghetti etwas Soße auf die Tischunterlagen in Schweinchenform spritzte. Sofort hielt mir Mr. Fleming ein Tuch hin.
„Wisch es fort“, forderte er mich mit einer Stimme auf, als hätte ich auf den Tisch gespuckt. Ich tat es kommentarlos, wobei mich Sandra verstohlen beobachtete. Ihr war es mindestens so unangenehm wie mir selbst.
Endlich war das Abendessen dann vorbei, und Mr. Fleming zog sich mit Sandra in die Küche zurück, um das Besteck umgehend zu spülen. Ich blieb derweil mit Emily am Tisch sitzen.
„Du hast gekleckert“, lachte mich die Kleine an, kaum daß ihr Vater und ihre Schwester durch die Tür verschwunden waren.
„Ja“, grinste ich zurück. „Muß ich jetzt ins Gefängnis?“
Emily schüttelte den Kopf, daß ihre blonden Haare flogen. Dann nahm ihr Gesicht auch schon wieder den üblichen ernsten Ausdruck an.
„Nein, du mußt doch nicht ins Gefängnis. Daddy schimpft nur immer, wenn wir kleckern.“
„Mein Daddy schimpft nie, wenn ich klecker. Er hat sich sogar mal eine Nudel auf die Nase geklebt.“
Eigentlich hatte ich gehofft, sie damit erneut zum Lachen bringen zu können. Das funktionierte zwar nicht, aber ich hatte auf eine andere Weise ihre Aufmerksamkeit gewonnen.
„Dein Daddy schimpft nicht mit dir?“
„Doch, natürlich, aber nicht wegen dem Essen. Er schimpft manchmal, wenn ich sein Auto nicht richtig gewaschen habe oder der Rasen nicht gemäht ist.“
„Schimpft er auch mit dir, wenn du dein Zimmer nicht aufräumst?“
„Nein, dann schimpft meine Mom mit mir.“
Emily wickelte eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger. Dabei konnte ich ihre abgekauten Fingernägel sehen.
„Du hast noch eine Mom?“ fragte sie und starrte mich so erwartungsvoll an, als würde ich ihr jeden Moment das Geheimnis des Weihnachtsmannes preisgeben.
„Ja“, sagte ich nur. Mir war bewußt, daß ich das falsche Stichwort geliefert hatte.
„Ich habe keine Mom mehr.“
Mit einem schnellen Ruck riß sich Emily die Haarsträhne aus der Kopfhaut.
„Was machst du denn da?“
Ich griff über den Tisch hinweg, wollte ihre Hand nehmen, aber sie lehnte sich nach hinten und ließ die Haare demonstrativ zu Boden fallen.
„Die wachsen doch wieder nach.“
Ihr Ton hatte etwas Altkluges an sich, wie bei einer Lehrerin, die einem unverständigen Schüler etwas Selbstverständliches erklären muß.
„Sicher, aber das tut doch weh.“
„Es zwickt nur ein bißchen.“ Emily beugte sich wieder über die Tischplatte. „Daddy hat es mir verboten. Er hat mich mal dabei erwischt und mir auf die Finger gehauen und mit mir geschimpft. Daddy schimpft viel.“
Es war ganz eigentümlich. Wochenlang hatte sie sich so verschlossen gezeigt, und jetzt kamen mir ihre wenigen Worte fast schon wie ein Redefluß vor. Ich weiß nicht, ob ich mich irre, aber ich bin mir sicher, daß es an der gekleckerten Soße lag. Wäre mir das Malheur nicht passiert, hätte sie vielleicht gar nicht mit mir gesprochen.
Das Thema war mir unangenehm, weil Mr. Fleming jeden Moment wieder das Wohnzimmer betreten konnte. Aber es kam mir nicht in den Sinn, sie zu unterbrechen. Ich war froh, daß sie überhaupt mal etwas sagte.
„Schimpfst du manchmal mit San?“
Ihre Stimme war jetzt so leise, daß ich mich gehörig anstrengen mußte, ihre Worte zu verstehen.
„Nein“, schüttelte ich den Kopf. „Ich schimpfe nicht mit Sandra.“
Sie nickte leise, als hätte ich die richtige Antwort gegeben.
„Daddy hat oft mit Mommy geschimpft“, fuhr die Kleine fort. „Manchmal hat sie dann auch geschimpft, und manchmal hat sie geweint. Ich hab immer Angst gehabt, wenn sie so böse aufeinander waren. Hattest du auch schon mal Angst?“
„Ja, manchmal habe ich Angst.“
„Weinst du dann auch?“
„Nein“, log ich.
„Ich schon. Aber ich muß jetzt nicht mehr weinen.“
„Nicht?“
Sie sah sich um, als könnte uns jemand belauschen.
„Das Gespenst sagt, ich brauche keine Angst zu haben.“
„Das – Gespenst?“ fragte ich maßlos irritiert.
Sie nickte heftig und fuhr scheinbar zusammenhangslos fort:
„Daddy hat mir verboten, in den Keller zu gehen. Er schließt ihn immer ab und versteckt den Schlüssel.“
Ich fühlte mich zusehends unwohler, weil ich mit den wirren Worten der Kleinen nichts anfangen konnte. Sollte ich sie beruhigen? Sie trösten? Einfach nur zuhören?
„Ist es denn schlimm, daß du nicht mehr in den Keller darfst?“ fragte ich sie, nur um überhaupt etwas zu sagen.
„Sogar sehr schlimm.“
„Aber warum?“
Sie schob die Unterlippe vor und überlegte ganz offensichtlich, ob sie mir eine Antwort darauf geben sollte.
„Weil ich jetzt das Gespenst nicht mehr treffen kann.“
„Das Gespenst ist bei euch im Keller?“
„Ja, es wohnt da. Es kommt aber nur, wenn es ganz dunkel ist.“
„Hast du das Gespenst denn schon mal gesehen?“
„Das geht nicht, es muß doch dunkel sein“, sagte sie wie zu einem Begriffsstutzigen.
„Woher weißt du dann, daß es das Gespenst gibt?“
„Es hat mit mir gesprochen. Und es hat mich angefaßt.“
„Es hat dich angefaßt?“
„Mhm“, nickte sie eifrig. „Es hat ganz kalte Hände, und die sind groß und voller Haare. Aber es ist kein böses Gespenst.“
Es waren die durchgeknallten Phantasien eines kleinen Mädchens, das vor nicht allzu langer Zeit seine Mutter verloren hatte. Das war mir in diesem Moment absolut klar. Dennoch hatte ich eine Gänsehaut. Oh Scheiße, du hättest die Kleine sehen und hören sollen.
Sie riß sich wieder eine Haarsträhne heraus. Diesmal tat ich nichts. Ich wollte sie vielmehr fragen, was dieses Gespenst denn zu ihr gesagt habe, als Mr. Fleming aus der Küche rief:
„Emily?“
„Ja, Daddy?“
„Schatz, es ist Zeit, auf dein Zimmer zu gehen. Sag Gute Nacht zu unserem Besuch.“
Sie blickte mich an und wippte nervös auf dem Stuhl.
„Soll ich dir noch ein Geheimnis verraten?“ flüsterte sie und winkte mich noch näher heran.
„Klar, wenn du möchtest.“
Sie krampfte die Finger ineinander, daß die Knöchel weiß hervortraten.
„Daddy hat mit Mommy im Badezimmer geschimpft. Ich bin schnell hingelaufen. Daddy hat mir gesagt, daß ich wieder in mein Zimmer gehen soll. Dann hat er die Tür zugemacht und weiter mit Mommy geschimpft. Und dann ist sie vom Stuhl gefallen.“
Zwei Wochen später ging ich mit Sandra in den Keller. Es war ein Sonntag, Mr. Fleming war mit Emily zu seinen Eltern nach Salisbury gefahren. Sandra hatte ihm versprechen müssen, mich nur mit nach Hause zu bringen, wenn auch er da war. Aber nachdem ich ihr von dem Gespenst im Keller erzählt hatte, war Sandra nicht mehr davon abzubringen gewesen, hinunterzusteigen, und da sie seit Kindertagen Angst vor Kellern hatte, sollte ich sie begleiten.
Sie hoffte, dort irgend etwas zu finden, womit sie Emily aus ihrer Apathie zurückholen konnte. Vielleicht einen Teddy, den Emily für das Gespenst gehalten hatte. Vielleicht auch etwas völlig anderes. Nur irgendwas wollte sie finden. Sie war regelrecht besessen von diesem Gedanken.
Als ich anzweifelte, daß das zu etwas führen würde, schrie sie mich plötzlich in einer Heftigkeit an, die ich nie von ihr erwartet hätte.
„Woher willst du das wissen? So viele kluge Leute, die sich um Emily kümmern. Sie haben ihr alle nicht helfen können. Aber vielleicht kann ich ihr helfen, vielleicht kann ich etwas für sie tun. Es dauert nur ein paar Minuten, und es ist eine Chance. Eine kleine, aber immerhin. Ist es das nicht wert?“
Ich sah das etwas anders. Zum ersten Mal dachte ich daran, daß Sandra vielleicht selbst Hilfe benötigte, aber letztlich stimmte ich ihr zuliebe zu. Mich plagte ein schlechtes Gewissen, denn ich hatte ihr noch nichts von Emilys zweitem Geheimnis erzählt. Die Ungeheuerlichkeit, die sich dahinter verbarg, hatte mich davon abgehalten. Ich wollte warten, bis sich ein geeigneter Moment ergab – was auch immer ich damals darunter verstanden haben mag.
Es war kurz nach Mittag, als wir vor der übertapezierten Tür im Flur standen. Die spätsommerliche Hitze staute sich im Haus der Flemings, und mir war trotz Shirt und kurzen Hosen so warm, daß ich schwitzte.
„Gehen wir“, sagte Sandra, schob den Schlüssel, dessen Versteck sie gekannt hatte, in das Schloß, öffnete die Tür und schaltete das Licht an.
„Okay, begrüßen wir das Gespenst.“
Angesichts des ernsten Hintergrundes war der flapsige Spruch ein unangebrachter Scherz, aber ich muß gestehen, daß ich damit meine Nervosität zu überspielen versuchte. Ich hatte eigentlich nie Angst vor Kellern gehabt, und an Gespenster glaubte ich seit langer Zeit nicht mehr. Aber in jenem Moment ...
Sandra stieg die Holzstufen hinab. Ich folgte ihr. Beruhigenderweise knarrte die Treppe nicht. Die gekälkten Wände waren blitzsauber, und als wir in dem kleinen fensterlosen Raum anlangten, entdeckte ich kein bißchen Staub.
Sandra blieb an der Treppe stehen und sah sich um. Ich ging einige Schritte auf einen Schrank zu, hinter dessen Glastüren dutzende Konserven aufgereiht standen.
„Siehst du was?“ fragte ich Sandra, ohne mich umzudrehen.
„Nein, gar nichts. Dad ist so furchtbar ordentlich. Es ist alles an seinem Platz.“
„Ihr eßt aber viele Pfirsiche, oder?“
„Hm? Ach so, die Dosen. Ja, Emily und Dad essen sie gern. Ich mag die Dinger nicht. Viel zu süß und glibbrig.“
Ich warf einen Blick umher. Weiter links waren einige Haken in die Wand gedübelt, an einem hing ein Pelzmantel.
„Ist der echt?“ fragte ich und zeigte auf das Fell.
„Der Mantel? Nein, der ist nicht echt. Dad hat ihn Mom mal zu Weihnachten geschenkt, aber Mom haßte solche Mäntel. Sie hat ihn kein einziges Mal getragen, auch wenn er nur künstlich ist. Mom hat immer gesagt, sie wolle nicht, daß es so aussieht, als würde sie tote Tiere spazieren führen.“
„Ja“, sagte ich abwesend und betrachtete den Mantel. „Meinst du, Emily hat den Mantel ...“ Ich nahm ihn vom Haken und betrachtete das Kleidungsstück.
„Das Gespenst?“ fragte Sandra ungläubig. „Das glaube ich nicht. Emily weiß doch, was ein Mantel ist.“
„Natürlich weiß sie das, aber sie hat doch immer das Licht ausgemacht, wenn sie hier unten war. Vielleicht hat sie sich an der Wand entlanggetastet und den Mantel für ein Gespenst gehalten.“
Ich drehte mich um und sah zu Sandra hinüber. Sie stand keine sechs Meter von mir entfernt und nagte an ihrer Unterlippe.
„Ich weiß nicht“, meinte sie zweifelnd, „ich könnte ihr den Mantel ja mal zeigen und sie anfassen lassen, damit ..."
Mit einem erschreckten Laut verstummte sie. Ich war während ihrer Worte zwei Schritte auf sie zugegangen, wollte ihr gerade den Mantel reichen, als plötzlich das Licht ausging. Schlagartig wurde es finster.
„Was ist denn jetzt los?“ hörte ich ihre ängstliche Stimme vor mir.
Nach einigen Sekunden hatten sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Ich konnte Sandras Silhouette wie einen unförmigen Schatten sehen, dahinter die schimmernden Stufen der Treppe. Wir hatten die Kellertüre nicht ganz ins Schloß gezogen, und so drang wenigstens ein Hauch von Licht aus dem Flur zu uns herunter.
„Sandra?“
Das Herz klopfte mir bis zum Hals. Der Schatten vor mir bewegte sich rückwärts, auf die Stufen zu.
„Ja?“
„Warum hast du das Licht ausgemacht?“
„Hab ich doch gar nicht.“
Ich ließ den Mantel zu Boden fallen und wollte die wenigen Schritte zu ihr und der Treppe gehen, da packte plötzlich eine Hand von hinten meinen rechten Knöchel.
Ich hatte das Gefühl, in Eiswasser getreten zu sein. Stocksteif stand ich da, und ich bin mir sicher, daß mein Herz ein paar Schläge übersprang. Meine Hoden schmerzten so fürchterlich, als hätte jemand einen glühenden Haken hineingebohrt und würde sie nach oben ziehen.
Ich wollte etwas sagen, wollte schreien, mich losreißen – aber ich konnte nichts tun. Die Hand hielt meinen Knöchel umschlossen wie eine Fußfessel. Sie war voller Haare, eine pelzige Eisklaue. Ich wagte es nicht, nach unten zu blicken. So dunkel es an der Stelle, an der ich mich befand, auch war, ich wollte einfach nicht sehen, was mich da hielt. Nicht einmal den Schatten von diesem ... Ding!
Vor mir hörte ich leise patschende Geräusche, als Sandra nach dem Lichtschalter tastete. Sie fand ihn. Machte das Licht an. Sah zu mir hinüber. Da war Erleichterung in ihren Augen. Dann Irritation. Sie sah an mir herunter. Ihre Augen wurden auf einmal ganz groß. Ein nasser Fleck breitete sich in ihrem Hosenstoff aus, ihr Mund klappte auf und zu, mechanisch wie bei einer Maschine, während sie mit einem Entsetzen, das ich nicht zu beschreiben in der Lage bin, auf mein Bein starrte.
Ich hielt den Blick starr auf Sandra gerichtet und zitterte so sehr, daß meine Knie aneinanderschlugen. Aber ich sah nicht nach unten. Ich wollte es nicht sehen!
So blieb mir nur ihr Gesicht, grotesk verzerrt, entstellt geradezu von dem Grauen, das sie erfaßt hatte. Es war so, als würde man im Krankenhaus liegen, der Arzt kommt fröhlich pfeifend auf Visite, er schlägt die Krankenakte auf, und dann siehst du, wie seine gerade noch vorhandene Ausgelassenheit einem Vorhang gleich zur Seite gerissen wird, und zum Vorschein kommt ein Ekel und Schrecken, als hättest du die schlimmste Krankheit der Welt. Du fragst dich, was mit dir ist, du fragst den Arzt, was mit dir ist, aber er verschweigt es dir, obwohl du es doch in seinen Augen gesehen hast ... und die ganze Zeit hämmert es dir durch den Schädel:
Was ist mit mir? Was habe ich? Was zum Teufel ist mir los?
Ich hatte damals im Keller die Chance, es herauszufinden. Indem ich es nicht tat, spuken mir bis heute die abscheulichsten Phantasiegeschöpfe durch den Kopf. Das ist der Grund, warum ich oft diese Alpträume habe und nächtelang mit dem Auto durch die Gegend fahre. Das ist der einzige Grund. Aber ich kann es nicht mehr ändern.
Wenn Sandra damals nicht doch noch die Kraft gefunden hätte, zu schreien, wäre ich heute womöglich tot. Vielleicht hätte mein Herz einfach seinen Dienst verweigert. Vielleicht hätte mich auch das Ding an meinen Fuß umgebracht. Ich weiß es nicht.
Aber als Sandra den Keller zerkreischte und die Treppe hinaufstakste, konnte ich mich endlich wieder bewegen. Ich riß mich los – vielleicht ließ mich das Ding auch fahren – und stolperte blind vor Angst hinter Sandra die Treppe hinauf, schob und drückte sie, daß sie beinahe gestürzt wäre, bis wir dann endlich, endlich den Flur erreichten, die Tür zuwarfen und aus dem Haus rannten, fort, immer nur fort, bis wir erschöpft den Bolzplatz erreichen. Niemand war da, und so brauchten wir uns auch nicht zu schämen, als wir stundenlang heulten, während wir uns in den Armen lagen.
„Ich geh nicht mehr zurück“, schrie sie immer wieder, „ich geh nicht mehr nach Hause.“
„Das brauchst du auch nicht“, sagte ich, während ich ihren zitternden Rücken streichelte. „Das verspreche ich dir.“
Ich habe es nicht fertiggebracht, sie danach zu fragen, was sie in dem Keller gesehen hatte.
Natürlich konnte ich mein Versprechen nicht halten, und dieses Versagen quält mich bis heute.
Sie kam mit zu mir an diesem Abend. Ich sagte Mom und Dad, daß Sandra nicht nach Hause könne. Ich bat sie, nein, ich flehte sie an, daß sie bei uns schlafen dürfe, wenigstens diese Nacht. Meine Eltern sahen Sandra zum ersten Mal, und sie schienen unglaublicherweise zustimmen zu wollen. Sie schickten uns in mein Zimmer, und ich war so froh, solche Eltern zu haben.
Aber ich hatte nicht mit der Arroganz der Erwachsenen gerechnet. Ich hatte natürlich schon einige Male von Sandra erzählt, und daher kannte Dad ihren Nachnamen. Während meine Mutter bei uns hockte und versuchte, uns zu beruhigen, rief mein Vater bei Mr. Fleming an – um die Dinge ins Reine zu bringen, wie er mir später einmal gesagt hat.
Mr. Fleming kam dann auch umgehend vorbei und nahm Sandra mit. Ich schrie und war völlig außer mir, daß meine Eltern das zuließen. Aber ich hatte keine Chance. Irgendwann bekam ich von Dad eine gewaltige Ohrfeige.
„Bist du völlig übergeschnappt?“ schrie er mich an. „Was ist bloß in dich gefahren?“
Ich habe es ihm nicht gesagt. Was denn auch? Ich konnte ihm ja schlecht von dem Ding im Keller erzählen. Mir war klar, wie lächerlich sich das anhören mußte.
Sandra war während dieser Zeit immer neben mir. Sie schrie nicht, sie weinte nicht, sie sagte nicht ein einziges Wort. Als ginge sie das alles gar nichts an. Nur zum Abschied umarmte sie mich noch kurz und küßte mich. Dann sagte sie:
„Verzeih mir!“
Ich wußte zu diesem Zeitpunkt noch nichts damit anzufangen. Ich stand einfach nur an der Tür und sah zu, wie Mr. Flemings knallroter Wagen die Straße hinauffuhr und schließlich verschwand. Ich stand einfach nur an der Tür und hatte eine hündische Angst.
Noch in der gleichen Nacht hat sich Sandra umgebracht. Sie schlich aus dem Haus und ging in die Garage. Dort nahm sie einen großen Schraubenzieher aus der Werkzeugkiste und spannte ihn mit der Spitze nach oben gerichtet in den Schraubstock. Sie ließ sich einfach hineinfallen und trieb sich den Stahl durch das Gehirn. Ein dreizehnjähriges Mädchen.
Es hat lange gedauert, bis ich mit meinem Vater wieder ein Wort gesprochen habe. Mit Mr. Fleming habe ich nie wieder gesprochen, nicht einmal auf der Beerdigung. Emily hat gelacht, als sie den Sarg hinabgelassen haben. Mr. Fleming hat sie geschlagen – gleich am offenen Grab. Es war ein häßliches Begräbnis.
Soviel ich weiß, ist Emily heute in der geschlossenen Psychatrie. Sie hat ebenfalls ein paar Selbstmordversuche hinter sich, jedenfalls hat mir Mom das mal erzählt. Ich glaube nicht, daß es erfunden ist.
Emilys zweites Geheimnis habe ich nie jemandem erzählt. Es gab ja doch keinen wirklichen Beweis, und wer hätte schon der Aussage einer Verrückten geglaubt?
Na ja, und Midwinter? Ich hasse diese Stadt zutiefst, deshalb bin ich auch so früh aus ihr fortgezogen. Die Erinnerung an diesen Sommer in Midwinter ist wie ein Dämon, der in meinem Hirn wütet und mich keine Ruhe finden läßt.
Du kannst mich jetzt auch für verrückt erklären, das könnte ich dir nicht einmal verdenken. Vielleicht bin ich es ja auch, aber es gibt da noch eine Sache, die ich dir zeigen möchte. Sie hat mich davon überzeugt, daß es Gott und seinen Himmel nicht gibt. Gott ist nichts weiter als ein Placebo, erdacht von narzißtischen Menschen, die sich mit ihrer eigenen Vergänglichkeit nicht abfinden können. Wir enden nicht in der ewigen Glückseligkeit.
Woher ich das weiß? Nun, sieh her. Hier, an meinem rechten Knöchel. Du mußt schon genau hinsehen. Siehst du es, diese hellen Male dort? Das Ding im Keller hat seine Fingerabdrücke hinterlassen. Kannst du sie zählen?
Genau, es sind vier.
Vier Finger.
Verstehst du?