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Milchjungenrechnung
Als ich Lisa das erste Mal sah, hätte ich nie gedacht, dass sie im Bunde ist mit dunklen Mächten: Strahlendes Lächeln, blitzende Augen, weiße Haut. Doch sie ist mehr als man sieht, als wäre sie von dunkler Materie erfüllt.
Woher sonst diese Anziehungskraft auf Gefühl und Gedanke? Ich hielt mich für einen rundum zufriedenen Menschen. Bis sie auftauchte. Seitdem fehlt mir jemand, den ich vorher gar nicht kannte.
Jetzt kriegt mein Alleinsein so Phasen, in denen es mit langem Gesicht, das Kinn auf die Hand gestützt, lange Seufzer macht und laut überlegt, sich in Einsamkeit umtaufen zu lassen. Das ist ein Druckmittel, mehr noch, ein Erpressungsversuch. Einspruch!, denke ich - nicht mit mir. Nicht in mir! Aber so richtig bin ich nicht mehr Herr im Haus. Mein Alleinsein will ihr Alleinsein zum Spielkameraden haben. Das scheint auf den ersten Blick nicht verhandelbar.
Da fällt mir ein, dass mal einer was darüber geschrieben hat. Also einer von vielen, aber dieser Eine hat daraus eine Gleichung gemacht. Lautet: Alleinsein² = Einsamkeit. Um die zu lösen reicht der Verstand, da kann das Alleinsein ruhig weiter jammern.
Ich überlege, wie es wäre, Alleinsein² durch zwei zu teilen. Hm. Wenn man fairerweise in der Mitte teilte, bekäme man Allei und nsein. Das klingt erstmal bescheiden. Man müsste irgendwie All und einssein draus machen können! Also etwas gröber teilen, mit beiden Augen zugedrückt sozusagen – da hätten ja auch beide mehr, als von Allei und nsein. Aber woher das zweite s nehmen? Mal sehen. Daraus will ich was machen, das stell ich mir als Tagesaufgabe. Eine der kosmischen Fragen zu beantworten, die immer mal wieder auf der Tagesordnung stehen.
Einsamkeit ist ein bisschen wie die Hintergrundstrahlung des Urknalls - sie umgibt uns alle, aber normalerweise fällt sie nicht auf. Man braucht nur keine so feinen Sensoren, um sie wahrzunehmen, weil sie ziemlich aufdringlich ist, wenn sie doch mal in Erscheinung tritt.
Wenn die Frage geknackt ist, schreib ich die Antwort auf, falte das Blatt zum Flieger und lass ihn segeln – wers findet, darfs behalten.
Das vibrierende Mobiltelefon kündigt Lisa an. Bin in zehn Minuten da!, schreibt sie. Kaum Zeit, sich Wasser ins Gesicht zu werfen und Kaffee zu machen. Lisa liebt Milchkaffee mit Zimtschaum, hauptsächlich wohl um die Krone abzulöffeln. Der Kaffee ist häufig schon kalt, wenn sie mit nachpulvern und naschen fertig ist.
Bei mir wird der Kaffee türkisch zubereitet, das hab ich ihr gleich beim ersten Besuch gesagt – aber es gibt einen Haferkeks dazu. Sie fand das nicht so richtig witzig. Hat mich trotzdem auf ein prächtiges Essen eingeladen. An dem Abend gab es jedoch nur mit Käse belegtes Schwarzbrot und Alsterwasser. Ich hab schon verstanden, was sie mir damit sagen wollte, lobte aber den saftigen Brotteig und den cremigen Käse, als ob es nichts besseres gäbe. Sie bedankte sich mit aufrichtig erfreutem Gesicht, als ob sie das Korn selbst gepflanzt und den Käse aus eigener Milch gemacht hätte. Beim nächsten Mal revanchierte sie sich mit vielen Haferkeks-Komplimenten. Ihr schien der Zimtschaumverzicht leichter zu gelingen, als mir die Gewöhnung ans Brausebier. Das hing mir von Mal zu Mal mehr aus dem Hals. Bald kaufte ich dieses schnaufende Ungetüm. Das kann alles, was Kaffee im Namen trägt. Seitdem kriegt Lisa ihren Milchkaffee mit Zimtschaumkrone. Aber keinen Haferkeks dazu.
Die Türklingel. "Ich bins, Lisa!", sagt sie.
"Oh!", sage ich, "Komm rein!"
Sie läuft mit Affenzahn und riesiger Lautstärke die Treppen hoch, kommt schon um die Ecke getobt, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Das Gesicht bis zur Nase vom Schal vermummt. Unter der Mütze luschern ein paar Strähnen hervor. Nur ihre roten Wangen sind zu sehen und die Augen. Die blitzen schon wieder frech bis übermütig. In der Stimmung erinnert Lisa mich stets an Pippilotta, obwohl sie überhaupt nicht wie die Langstrumpf aussieht. Das belebt mich jedesmal, Lisa zu sehen. Das ist wie das Tauchbad nach der Sauna, nur wärmer und eher angenehm als schockig. Aber auch auf einmal.
Sie zerstrubbelt meine Haare und sagt, dass sie jetzt ein richtiges Frühstück bräuchte. "Frische Brötchen!", sagt sie und zeigt auf eine Bäckertüte, aus der es dampft.
"Hereinspaziert", sage ich. Als sie mich passiert, versuche ich ihr einen Kuss auf die Wange zu geben, treffe aber nur den Schal, dann ist sie schon vorbei. Und ich habe Flusen am Mund! Ihrer Gravitation folgend blicke ich Lisa nach, und stelle mir vor, wie wir uns küssen, wobei ihr Mund ein schwarzes Loch ist, das mich verschluckt. Kopf, Oberkörper, zuletzt sieht man die Sohlen meiner Sneakers. Nachdem auch die weggesaugt sind, stößt sie einen mickrigen Energieblitz auf.
"Jetzt Frühstücken!", rufe ich. "Dass du ein studentisches Lotterleben führst, weißt du aber, ja? Es ist fast zehn!"
"Ach", sagt sie, "wieder aus dem Bett gefallen?"
"Nutze den Tag!", antworte ich und rutsche auf Socken über das Parkett zum Radio. Acid Jazz. Dann Kaffee trinken, eine Orange pressen, Gala durchblättern, Brötchen schmieren, über ein altes Klatschmaul lästern, mehr Kaffee, ein kurzes Tänzchen, Brötchen essen, Horoskope vorlesen, Orangensaft trinken.
"Herbstspaziergang?", fragt sie, das leere Saftglas in der Hand. Ich nicke. "Genehmigt!" Hemd aus, Unterhemd an, Hemd wieder an, Pullover rüber, rein in Herbstmantel und Schuhe. Lisa wartet schon. Trotz der komplizierten Schalkonstruktion. "Trödelhannes", sagt sie, "wenn ich so langsam wär, würd ich auch zwei Stunden eher aufstehen."
"Gibts das? Ich steh so früh auf, um wichtige Sachen zu machen!"
Herbstspaziergang. Wir gehen über blätterbedeckte Bürgersteige, manchmal berührt ihr Arm meinen, das find ich gut, und sie erzählt vom Bundesvision Song Contest. Wer aufgetreten ist und wie die ausgesehen und gesungen haben. Mitten auf dem Fußweg macht sie jeden einzelnen Musiker einer vierköpfigen Band nach. Manchmal reicht ihr Sprache einfach nicht, das ist Umgebungsunabhängig. Sie bläst ihre Wangen auf und trompetet, rockt an Luftschlagzeug und -gitarre und singt ohne Stimme in ein imaginäres Mikrofon.
Zum Schluss fasst sie sich ans Herz und singt mit stimmloser Inbrunst die letzte Zeile. "Großartig!", sage ich, "denen hat Bohlen bestimmt den ersten Preis gegeben, oder?"
"Quatsch, sollt 'ne Satire sein! Außerdem ist das nicht Bohlen sondern Raab. Bohlen ist DSDS."
"Hör mal", sage ich auf dem Rückweg. "Alleinsein² = Einsamkeit sagt jemand ... da hab ich mir gedacht! ... als Lösungsvorschlag ... wie wäre es, Alleinsein einfach durch zwei zu teilen?"
Lisa sieht mich an, den Kopf wiegend, sie wirkt nicht überzeugt. Ich lege nach. "Man müsste nur noch ein s irgendwo herkriegen, dann hätte man das einssein, das ist doch was richtig Gutes! Und ein All gibts dazu! Damit lässt sich bestimmt auch was anfangen. Natürlich kann man es dann nicht in der Mitte teilen, aber zwei Hälften wären es schon."
"Wenn etwas potenziert ist", sagt sie, "lässt es sich nicht einfach dividieren. Man muss erst die Wurzel aus Einsamkeit ziehen", grinste sie. "Dann kann man durch zwei teilen."