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Mintgrüne Maden
Mintgrüne Maden
Bevor er mir eine Hausaufgabe auf den Weg mitgibt, sagt Dr. Hasselbring, soll ich mir noch diese Maden vorstellen. Er deutet die Länge mit Daumen und Zeigefinger an. Welche Farbe sie gehabt haben, fragt er, und ich sage Mintgrün, eine kränkliche Farbe. Und sie hatten dicke schwarze Borsten auf dem Rücken, als ich sie aus der braunen Packpapiertüte in meine Hand schüttelte.
Es fühlt sich weich an, das Zeug, wie Marshmellows, die Borsten kitzeln ein bisschen in meiner Hand. Wir lachen alle drei, John, den wir in Kuala Lumpur kennen gelernt haben, mein Spezi Püring und ich.
Die nachdrängelnden Käufer in der Schlange schieben uns von dem Stand weg, wir geraten in den beständigen Menschenstrom zwischen den Bazarbuden, flanieren weiter. Die Maden schüttle ich im Gehen zurück in den Beutel. Wir kaufen noch eine Stange Brot und zwei Flaschen Cola und gehen zum Padang-na-Pirna, einem Park in der Nähe. Dort hocken die Einheimischen auf Decken, rauchen und kauen Betelnüsse, Kinder scheuchen ein paar Tauben auf. Dort lassen wir uns auf dem lückenhaften, sonnverbrannten Rasen nieder. Dort lässt sich John die Tüte geben und schüttelt eine Made in seine Hand.
Bye-bye civilisation, sagt er, legt den Kopf gackernd in den Nacken und lässt sich das fleischige Insekt in den Rachen fallen. Er würgt zweimal, einen Moment sieht es aus, als würde die Larve wieder herauskommen, aber dann reibt John sich den Bauch.
Püring verzieht das Gesicht und holt die Schnapsflasche aus dem Rucksack, die wir am Abend zuvor angebrochen haben. Er nimmt einen Schluck daraus. Dann lässt er sich eine Made geben.
They taste a little nutty, behauptet John und macht dazu ein Gesicht wie ein französischer Gourmet. Püring antwortet nicht, und sieht auch die Made nicht an. Aber er führt die Hand zum Mund, beißt die Hälfte mit spitzen Zähnen ab und schlingt sie hinunter. Eine Weile lang starrt er die zappelnde zweite Hälfte in seiner Rechten an, dann wirft er sie fort und nimmt noch einen zweiten Schluck aus der Pulle. Ich sehe ihm in die Augen.
Allmählich verwandelt sich das verzerrte Gesicht Pürings in das von Dr. Hasselbring. Mir fällt auf, dass ich das Gesicht verzogen habe und glätte es mit der Hand. Es schüttelt mich ein bisschen.
"Gut", sagt der Doktor und wischt sich eine Strähne aus der Stirn. "Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie haben die Made in der Hand und schließen die Faust. Wie fühlt sie sich an?"
Ich blase die Backen auf und puste die Luft wieder heraus.
"Wenn es Ihnen zu viel wird, sagen Sie es, aber es ist wichtig, dass wir bis an die Grenze gehen", erklärt der Doktor.
Ich nicke und blicke auf meine leere Handfläche. Sie ist ziemlich blass. Stecknadelkopfgroße rötliche Flecken ergeben ein schwaches Muster – wie früher im Fernsehen, in der Geisterstunde. Stellenweise schimmern die Adern grünlich durch, seltsam, dass es grünlich aussieht, denke ich, im Biologiebuch waren die Venen immer blau. Dieses Grün erinnert mich an die Farbe der Made, und da liegt sie wieder auf meinem rechten Handteller, das Besteck dazu sind die Finger der Linken, sie rollt sich ein wenig zusammen, krümmt sich wie ein abgeschnittener kleiner Finger.
"Jetzt schließen Sie die Hand, bitte," sagt Dr. Hasselbring.
"Kein Problem", höre ich mich antworten, meine Zunge ist kühn, und ich überlege, ob sie recht hat. Wahrscheinlich hat sie nur Angst vor dem, was auf sie zukommt. Ich folge der Anweisung und spüre das wurmförmige Ewas in meiner Faust, es windet sich, ich drücke die Finger fester zusammen. Die anderen beiden, John und Püring, lachen.
"Du siehst irgendwie etwas blass aus", sagt Püring.
Ich schlucke, lasse mir die Schnapsflasche geben, nehme einen Mund voll. Die Flüssigkeit brennt auf der Zunge, ich lasse sie dort, solange es geht. Ich schmecke nur Alkohol, spüre wie mir der Dunst davon ins Gehirn steigt. Langsam hebe ich die Faust an den Mund, schließe die Augen und halte die Fingernägel eine Weile lang auf die Lippen gepresst. Schließlich leere ich die Faust in den Mund und habe den Wurm in mir, es fühlt sich an wie eine zweite Zunge, die Made bewegt sich, mir wird fast übel, ich kann das Dings nicht schlucken, es bewegt sich in einem fort, ich kann einfach nichts hinunterschlucken, was sich bewegt, ich kann nicht. Ich spucke das Vieh aus, wende mich ab. Ich würge, aber es kommt nichts. Ekelschübe verrenken meinen Körper, fast kugele ich mir den rechten Arm dabei aus, es tut weh, gleichzeitig muss ich lachen. Dann fühle ich eine Hand in meinem Nacken. Als ich aufsehe, fällt mein Blick auf eine mit braunem Leder gepolsterte Tür.
„Ruhig“, sagt Dr. Hasselbring. Er steht hinter mir, ich habe mich von ihm weggedreht.
„Genug für heute“, sagt er, und als ich mich wieder zu ihm umwende, drückt er mir das Glas Wasser in die Hand, das er vor einer Stunde auf den Schreibtisch gestellt hat.
Aber die Flüssigkeit erinnert mich an den Schnaps. Statt zu trinken massiere ich mir das Gesicht, es fühlt sich kalt und nass an. Schließlich nehme ich meine Mappe und gehe hinaus.
Erst unten auf der Straße fällt mir auf, dass der Reißverschluss der Mappe offen ist, und als ich ihn zuzippen will, da sehe ich eine braune Packpapiertüte darin, eine Tüte, die da nicht hineingehört.