- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 20
Missverständnis
Er hat uns so gut getan, sagten die einen und fanden doch, dass es nicht schlecht war, ihn weg zu haben.
Er hatte noch alles vor sich, sagten die Optimisten unter uns, die sogar in dieser Endgültigkeit eine Zukunft zu sehen glaubten.
Er hätte das so nicht machen dürfen, sagten die anderen, die immer schon wussten, dass es so mit ihm kommen würde.
Er war einer unserer Besten, sagten die, die anderen immer schon in den Arsch krochen und auch jetzt keine Ausnahme machten.
Er wurde doch von allen geliebt, sagten die, denen das Wort Liebe fremd war, die ihre Felder nur mit Neid und Hass bestellten.
Er wäre am Ende immer diesen Weg gegangen, sagten die, die ihn besser kannten und sich zu seinen Freunden zählten.
Wir gingen trotz des Regens alle hin.
Er hat die Mühsal der ihm aufgezwungenen Last nicht gescheut, sagte der beigestellte Prediger und fand, dass der Regen nach Kot roch, so wie das ganze elende Dorf hier am Rande der Zivilisation.
Er hatte die ihm von der Gemeinschaft auferlegten Aufgaben zur Zufriedenheit aller gemeistert, sagte der beigestellte Prediger und konnte dabei den Blick nicht von den langen Beinen der Frau lassen, die ganz vorne stand und sogar weinte.
Er hätte aber doch mehr aufpassen müssen, denn auch Schutzengel kommen manchmal zu spät, sagte der beigestellte Prediger und fand, dass es an der Zeit war, dem hier ein Ende zu machen.
Wir standen trotzdem dort im Regen und hörten uns das an.
Er hat geträumt und mit seinen Träumen mir mitten ins Herz geschaut, sagte die Frau mit den langen Beinen leise und dachte an seine Sanftheit und Wärme, wenn er neben ihr lag und sie fürchten musste, diese Augenblicke nie wieder haben zu können.
Er hatte die irrwitzigsten Ideen, sagte die Frau mit den langen Beinen leise und dachte daran, wie verletzend er sein konnte, wenn er sein anderes Ich zeigte und nach durchzechten Nächten das Porzellan auf dem Küchenboden zertrümmerte und sie anschrie, sie solle doch endlich das Maul halten.
Er hätte mich niemals schlagen dürfen, dachte die Frau mit den langen Beinen und Tränen rannen ihr bei dieser Erinnerung über die Wangen und sie roch den Regen und darin die langen Spaziergänge mit ihm, während sie gleichzeitig den stechenden Blick des beigestellten Predigers auf ihren Beinen spürte.
Wir wussten nichts davon und trotzten weiter dem Regen und den Worten des beigestellten Predigers, wir in den hinteren Reihen.
Ich habe nichts falsch gemacht, nur zuviel an die Weisheiten anderer geglaubt, dachte der, über den hier gerichtet wurde und sah alle um diese Grube versammelt und er musste irre lachen dort oben, wo er jetzt war, so witzig sah das aus.
Ich hatte manches Mal keine andere Wahl, konnte meinen Schatten nicht zertreten und doch hat sie mich nicht verlassen, dachte der, über den hier gerichtet wurde und sah auch von dort oben ihre langen Beine, sah den Blick des beigestellten Predigers darauf und spürte dabei wieder die Eifersucht und das Gefühl des Verlassen seins keimen und alles war nur Einbildung wie damals und grundlos und dumm.
Ich hätte sie niemals schlagen dürfen, denn sie war mein Schutzengel, der nur einmal zu spät kam, dachte der, über den hier gerichtet wurde und erkannte gleichzeitig seinen Fehler mit der Pistole in dieser einen langen Nacht des Wartens, dachte an die leere Flasche, sein wirres Haar im Spiegel, den kalten Stahl und den Schweiß an seiner Schläfe, das Staunen in seinen Augen, riesig wie Teiche im Spiegel des Zimmers, das Poltern an der Türe, ihre Schreie dahinter, die seinen Namen riefen, als sich der Schuss löste und er wegflog aus dieser Welt von Missverständnissen.
Wir sahen ihn nicht über uns und trotzdem blieb etwas zurück von ihm, als der Regen aufhörte und der beigestellte Prediger das Buch zuklappte und plötzlich alles ganz still war.