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Missverständnis

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02.11.2001
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Missverständnis

Er hat uns so gut getan, sagten die einen und fanden doch, dass es nicht schlecht war, ihn weg zu haben.
Er hatte noch alles vor sich, sagten die Optimisten unter uns, die sogar in dieser Endgültigkeit eine Zukunft zu sehen glaubten.
Er hätte das so nicht machen dürfen, sagten die anderen, die immer schon wussten, dass es so mit ihm kommen würde.
Er war einer unserer Besten, sagten die, die anderen immer schon in den Arsch krochen und auch jetzt keine Ausnahme machten.
Er wurde doch von allen geliebt, sagten die, denen das Wort Liebe fremd war, die ihre Felder nur mit Neid und Hass bestellten.
Er wäre am Ende immer diesen Weg gegangen, sagten die, die ihn besser kannten und sich zu seinen Freunden zählten.

Wir gingen trotz des Regens alle hin.

Er hat die Mühsal der ihm aufgezwungenen Last nicht gescheut, sagte der beigestellte Prediger und fand, dass der Regen nach Kot roch, so wie das ganze elende Dorf hier am Rande der Zivilisation.
Er hatte die ihm von der Gemeinschaft auferlegten Aufgaben zur Zufriedenheit aller gemeistert, sagte der beigestellte Prediger und konnte dabei den Blick nicht von den langen Beinen der Frau lassen, die ganz vorne stand und sogar weinte.
Er hätte aber doch mehr aufpassen müssen, denn auch Schutzengel kommen manchmal zu spät, sagte der beigestellte Prediger und fand, dass es an der Zeit war, dem hier ein Ende zu machen.

Wir standen trotzdem dort im Regen und hörten uns das an.

Er hat geträumt und mit seinen Träumen mir mitten ins Herz geschaut, sagte die Frau mit den langen Beinen leise und dachte an seine Sanftheit und Wärme, wenn er neben ihr lag und sie fürchten musste, diese Augenblicke nie wieder haben zu können.
Er hatte die irrwitzigsten Ideen, sagte die Frau mit den langen Beinen leise und dachte daran, wie verletzend er sein konnte, wenn er sein anderes Ich zeigte und nach durchzechten Nächten das Porzellan auf dem Küchenboden zertrümmerte und sie anschrie, sie solle doch endlich das Maul halten.
Er hätte mich niemals schlagen dürfen, dachte die Frau mit den langen Beinen und Tränen rannen ihr bei dieser Erinnerung über die Wangen und sie roch den Regen und darin die langen Spaziergänge mit ihm, während sie gleichzeitig den stechenden Blick des beigestellten Predigers auf ihren Beinen spürte.

Wir wussten nichts davon und trotzten weiter dem Regen und den Worten des beigestellten Predigers, wir in den hinteren Reihen.

Ich habe nichts falsch gemacht, nur zuviel an die Weisheiten anderer geglaubt, dachte der, über den hier gerichtet wurde und sah alle um diese Grube versammelt und er musste irre lachen dort oben, wo er jetzt war, so witzig sah das aus.
Ich hatte manches Mal keine andere Wahl, konnte meinen Schatten nicht zertreten und doch hat sie mich nicht verlassen, dachte der, über den hier gerichtet wurde und sah auch von dort oben ihre langen Beine, sah den Blick des beigestellten Predigers darauf und spürte dabei wieder die Eifersucht und das Gefühl des Verlassen seins keimen und alles war nur Einbildung wie damals und grundlos und dumm.
Ich hätte sie niemals schlagen dürfen, denn sie war mein Schutzengel, der nur einmal zu spät kam, dachte der, über den hier gerichtet wurde und erkannte gleichzeitig seinen Fehler mit der Pistole in dieser einen langen Nacht des Wartens, dachte an die leere Flasche, sein wirres Haar im Spiegel, den kalten Stahl und den Schweiß an seiner Schläfe, das Staunen in seinen Augen, riesig wie Teiche im Spiegel des Zimmers, das Poltern an der Türe, ihre Schreie dahinter, die seinen Namen riefen, als sich der Schuss löste und er wegflog aus dieser Welt von Missverständnissen.

Wir sahen ihn nicht über uns und trotzdem blieb etwas zurück von ihm, als der Regen aufhörte und der beigestellte Prediger das Buch zuklappte und plötzlich alles ganz still war.

 

Tolle Geschichte: Beim zweiten Lesen habe ich auch den Titel verstanden. Gut gemacht!

 

Hallo Aqualung, die Idee, mal eine Friedhof-Story aus Sicht des Toten zu schreiben fasziniert mich. Sie ist zwar nicht neu, aber trotzdem reizt es mich. werde mich mal an einer entsprechenden Satire versuchen. vielleicht klappt es.

Deine Story gefällt mir auch sonst gut, allerdings empfinde ich Deinen Stil etwas mühsam zu lesen. Erst beim zweitenmal lesen wurde mir vieles klarer..
Gruß. Ernst Clemens

 

Hallo, Aqualung!

Du hast Dir nicht nur einen guten Namen ausgesucht, sondern auch ein gutes Thema. Gefällt mir Beides ausgesprochen gut. Stilistisch mehr als gelungen. Echt super!

Gruß
Antonia

 

Danke an euch drei - Emma,Ernst,Antonia - für die sehr aufbauende Kritik.
Liebe Grüße - Aqualung

 

Hallo Aqualung,

gute Story! Mir hat vor allem die Sprache gefallen. Außerdem war es ein guter Griff in die schriftstellerische
`Trickkiste´ , die „langen Beine“ als Bindeglied der einzelnen Abschnitte zu benutzen.

Tschüß... Woltochinon

 

Dank an dich, Woltochinon.
Das mit der Trickkiste geht zwar nicht immer, doch in diesem Fall hat es sich angeboten.
Grüße - Aqualung

 

Super Geschichte!

Alles mit drin, die wahre Liebe, der Wahnsinn der Liebe, Pseudoübermenschlichkeit von Kirchenleute (der Prediger stirrt auf die langen Beine), Eifersucht & eine starke Frau die ihren Partner immer geliebt hat obwohl er sie geschlagen hat, nicht weil sie keine andere Wahl gehabt hätte, sondern von Herzen, und ein Held der erst nach dem Tod seine Fehler einsieht. Ziemlich traurig. :(

Stilistisch indiskutabel!

:thumbsup:

 

Ich beuge mich mit Dank deiner Kritik, Mister Seaman. Das baut auf.
Grüße - Aqualung

 

hallo aqualung, ich komme zurück auf meinen beitrag vom 19.07.02. Gestern habe ich meine story "die letzten drei Kilometer" im bereich satire eingestellt. was meinst du dazu? gruß ernst

 

Hallo Aqualung,

ich möchte mich den positiven Kritiken anschließen. Auch ich finde Deine Geschichte sehr gelungen.

Die Stimmung hast Du auf angenehm ruhige Weise beschrieben, wenn auch der Regen als Untermalung des Begräbnisses ziemlich klischeehaft ist.
Mir wurde beim Lesen etwas unbehaglich, trotz der Kürze kommt die alltägliche Verlogenheit gut rüber.

Der Stil gefällt mir gut.

Zwei Kleinigkeiten sind mir aufgefallen:

"das Gefühl des Verlassen seins"

- das Gefühl des Verlassenseins.

"Wir sahen ihn nicht über uns und trotzdem blieb was zurück von ihm"

- Hier hätte mir "etwas" statt "was" besser gefallen.

Alles in allem tolle Geschichte, werd mich gleich mal auf die Suche nach mehr Stoff von Dir machen...

Grüße

Sav

[ 03.08.2002, 22:57: Beitrag editiert von: raven ]

 

Danke,raven, für deine Kritik.
Bei den von dir zitierten Punkten hast du recht.Das ist die feine Klinge.
Liebe Grüße - Aqualung

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Aqualung!

Mir hat Deine Geschichte auch ausgesprochen gut gefallen! Sehr guter Aufbau und Stil, einfach gelungen! :thumbsup:

Da ich nichts Negatives zu sagen habe und so viel Positives schon gesagt wurde, was ich alles nur unterschreiben kann, zitiere ich einfach mal eine der Stellen, die mir besonders gut gefallen haben:

Er wurde doch von allen geliebt, sagten die, denen das Wort Liebe fremd war, die ihre Felder nur mit Neid und Hass bestellten.

Mißverständnisse gibt es auf unserer Welt leider viel zu viele.

Alles liebe
Susi

 

Hi Susi

es ist schön, soviel positives Echo zu bekommen. Auch dir ein Dankeschön dafür.

Liebe Grüße - Aqualung

 

Hallo Aqua,

ja, diese Geschichte ist zu Recht in die Empfehlungsliste gelangt.
Kann mich dem Lob der Vorkritiker nur anschließen. Gut gemacht, ein Leben als Missverständnis und ein Ende wegen eines Missverständnisses und am Ende Hinterbliebende im Missverständnis. Gut gewählter Titel.
Gefallen hat mir auch, dass du nichts Unnötiges schreibst, auf den Kern reduziert hast. Dieser Stil liegt mir sehr.

Lieben Gruß
elvira

 

Hi Aqua,

ich habe Deine Geschichte gerne gelesen. Wunderbar, wie Du mit wenigen Worten die Verlogenheit der Hinterbliebenen beschreibst - ich denke da nur an die fortwährenden Blicke des "beigestellten" Predigers auf die Beine der Frau...
Das Wort "beigestellt" trifft, so ungewöhnlich, wie ich es in diesem Zusammenhang auch finde - die Situation sehr gut. Der Prediger (Pastor?) hat keinerlei persönliche Beziehung zu dem Toten. Irgendjemand hat ihn beauftragt, dort hingestellt, eben beigestellt und nun muß er irgendwelche stimmungsvollen Worte sprechen. Wie oft ist es in der Realität so.

Du verwendest einige sehr schöne (fast lyrische) Formulierungen, z.B. "das Staunen in seinen Augen, riesig wie Teiche im Spiegel des Zimmers,"

Zwei Stellen, über die auch ich gestolpert bin, hat raven bereits angemerkt. Schade, dass Du sie noch nicht geändert hast. Besonders das Wort "was" im letzten Satz, dass so verflixt umgangsprachlich klingt und den Fluß der Worte stört, fiel mir sehr auf.

Liebe Grüße
Barbara

 

Hallo al-dente,

ich hab' das was im letzten Satz geändert. Du hast recht, es stand recht holprig dort herum.

Die Verlogenheit über den Tod hinaus, das falsche Beweinen und Erinnern, kommt im realen Leben leider viel zu oft vor.
Danke für das Lesen und Kritisieren und Ausgraben des Textes, Barbara.

Liebe Grüße - Aqua

 

Hallo Aqualung,

manchmal wenn ich mich im Angebot der neuen Geschichten nicht so recht entscheiden kann, mache ich mich auf die Suche nach den vergrabenen Schätzen auf KG.de und *schleimmodusan* meine Suche führt mich dann oft zu deinen, da sie mir (fast) alle gefallen *schleimmodusaus*
Auf diese Weise bin ich auch zu dieser Geschichte gestoßen, und es wurde schon so viel schönes und wahres und lobendes zu ihr geschreiben, dass es eigentlich keines zusätzlichen Lobes bedarf.
Da ich aber nur gerade mal diese vor mir auf dem Bildschirm habe, nutze ich sie, um dir gant einfach mal generell zu schreiben, dass mich deine Geschichten oft beeindrucken.

Lieben Gruß, sim

 
Zuletzt bearbeitet:

Danke sim,

es freut mich sehr, dass du eine alte Geschichte von mir wieder entdeckt hast. Vor allem dein Lob über meine Texte ist wie Honig auf meinem Bierbaucherl, jawoll. Also, ich meine damit, dass ich so ein feedback wie deines schon sehr genieße......bin ja sowas von eitel, eigentlich....(jetzt hab' ich das Unwort geschrieben)

Liebe Grüße an dich - Aqua

 

Hallo Aqualung,

auch mir hat die kleine Story ganz gut gefallen.

Beerdigung bei Regen ist klischeehaft - da muss ich raven zustimmen. Aber der "beigestellte Prediger" hat mir gefallen, der so oft wiederholt wird. Klar, dass es ein Prediger und kein Pfarrer ist, wegen des Selbstmords. Dass es hier um einen
Selbstmörder geht, deutest du gut an mit dem Satz am Anfang: "Er hätte das so nicht machen dürfen"

Dass die Geschichte funktioniert, liegt wohl daran, dass du alles eher implizit beschreibst.

Grüße,
Stefan

 

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