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Mit Karten spielt man nicht
Mit Karten spielt man nicht
Er betritt die kleine Küche im Dunkeln und setzt sich auf seinen gewohnten Platz. Der Tisch ist alt und die Platte ist gleichzeitig vernarbt und blank gerieben von all den Jahren.
Eine Weile sitzt er so da, die Arme aufgestützt, die Tüte aus altem, weichen Kunststoff neben sich. Dann erst, nach einem weiteren tiefen Atemzug, knipst er die Tischlampe an. Sie taucht den größten Teil des Tisches in schwaches, warmes Licht und er beginnt mit dem, was er sich für diese Nacht vorgenommen hat. Es ist an der Zeit.
Ohne hinzusehen, greift er zum ersten mal in die Tüte und zieht die Hand bedächtig wieder heraus. Er hält den Stapel verschiedener Visitenkarten kurz über der Tüte, so als wollte er sie wieder hineinwerfen, dann aber seufzt er vernehmlich und legt die Karten vor sich auf den Tisch. Den Blick starr geradeaus auf die Küchentür gerichtet, tasten seine Finger nach der ersten Karte. Langsam hebt er sie in seinen Blick.
Valerie. Name, Beruf, Adresse, drei Telefonnummern und eine Email-Adresse. Er legt die Karte, ohne sie weiter zu studieren, etwa in die Mitte des Tisches. Valerie wohnt im Appartement nebenan. Sie war eine Freundin seiner Frau. Er ruft sie nur selten an, aber manchmal tut er es. Noch seltener geht er hinüber. Wozu auch.
Die nächste Karte ist die Nummer eines Taxidienstes. Er zuckt die Schultern und legt sie rechts neben die erste. Karten, die er nicht braucht, entscheidet er. Karten, die nirgendwo hinführen. Die nicht einmal irgendwo herzukommen scheinen. Dieser Stapel für Unwichtiges ist wichtig. Er schiebt ihn ein wenig weiter nach rechts, dann noch ein wenig mehr, bis die Karte an den Fuß der Lampe anstößt. Er nickt befriedigt.
Die nächste Visitenkarte ist von der Stadtbibliothek. Sie wandert auf den ersten Stapel. Karten, die er manchmal braucht, Nummern, die er von Zeit zu Zeit anruft.
Ein Fitnessstudio. Einen Moment lang denkt er darüber nach, woher er die Karte hat und warum. Dann erinnert er sich. Die lagen irgendwo aus. Er hat eine mitgenommen, weil Sofie sie vielleicht eines Tages brauchen wird. Sobald sie wiederkommt. Einen Moment lang zögert er, dann legt er sie auf einen freien Platz, rechts oberhalb der Karten von Valerie und der Bibliothek. Weit genug entfernt von der Lampe.
Er wird sie für Sofie verwahren. Man weiß ja nie. Ebenso die nächste Karte, ein Museum für moderne Kunst, etwa zweihundert Kilometer von hier. Vielleicht fährt sie eines Tages hin.
Die Nummer eines Krankenhauses. Die kleine, weiße Karte, schmucklos, informativ, versetzt ihm einen Stich in die Lunge und für einen Moment glaubt er, husten zu müssen. Dann, sehr konzentriert, atmet er tief ein. Marie ist dort gestorben. Das ist fast zwölf Jahre her und dennoch kann er die Karte nicht einfach ansehen. Nicht einmal weglegen.
Langsam wandert die Karte auf den Stapel mit Nummern, die er anruft. Dabei hat er dort zum letzten Mal angerufen, als Sofie nicht heimkam, vor zehn Jahren. Vor genau zehn Jahren.
Draußen, zwei Etagen unter ihm, explodieren die ersten Chinaböller, aber er sieht nicht einmal auf. Es ist erst neun Uhr. Noch hat dieses Jahr drei Stunden zu leben und er wird es nicht tot feiern, bevor es soweit ist. Auch dann wird er nicht feiern. Wenn seine Arbeit hier getan ist, wird er ins Bett gehen und versuchen, wenigstens ein paar Stunden zu schlafen, vielleicht sogar ein wenig Ruhe zu finden.
Er muss an Sofie denken, an diesen Abend vor zehn Jahren, an dem sie aus dem Haus lief. Wenn er es heute betrachtet, weiß er immer noch nicht, ob er alles richtig gemacht hat. Ob es seine Schuld war, dass sie nicht zurück kam. Ihr Streit war kein besonderer gewesen. Aber er war ihr Vater und er hatte nicht eingesehen, dass sie nicht nach Hause kommen wollte. Er kannte die Freundin nicht, bei der sie nach der Party übernachten wollte und deshalb würde er nicht zulassen, dass seine Tochter dort die Nacht verbrachte. Ohnehin fand er es unangebracht, zu feiern. Es mochte Silvester sein, aber es war nicht einmal zwei Jahre her, dass ihre Mutter gestorben war. Das war einfach zu früh.
Genauso wie es zu früh für sie war, auszuziehen. Auch wenn es Streit gab. Auch wenn es immer wieder dieselben Sätze waren, die seine Seele zerschnitten. ‚Mutter war ganz anders. Ich bin zwanzig Jahre alt. Du bestimmst nicht über mein Leben.'
Sofie und er hatten die beiden Jahre gemeinsam überstanden, wenn auch nicht immer in bester Harmonie. Aber sie waren ausgekommen.
Die Karte eines chinesischen Fast-Food-Restaurants wandert auf den Stapel der Karten, die Sofie eines Tages brauchen könnte. Die Karten liegen so weit im Schatten, dass die bunte Schrift auf der letzten kaum zu erkennen ist. Während er seinen Gedanken nachgegangen ist, hat er, ohne es wirklich zu bemerken, Dutzende weiterer Karten auf die Stapel verteilt.
Die Reinigung gehört auf den ersten Stapel. Ab und zu ruft er an. Meist um zu sagen, dass er erst morgen kommt.
Als sie an diesem Abend das Haus verließ, hatte sie kaum mit ihm gesprochen. Zu tief saß der Streit. Erst am Nachmittag des ersten Januar hatte er bemerkt, dass sie nicht heimkam. Am Abend hatte er Melanie angerufen, die einzige ihrer Freundinnen, die er kannte. Aber Melanie wusste nichts von ihr, hatte sie seit Weihnachten nicht gesehen.
Am zweiten Januar hatte er Melanie wieder angerufen. "Sie hängt bestimmt mit diesem Typen rum." Melanie hatte irgendwo in ihren Notizen eine Handynummer gefunden. Die hatte er auf der Karte notiert, auf der auch Melanies Nummer stand.
Er hielt sie lange in der Hand. Sein Name war Michael. Den Namen hatte er später auch von der Polizei erfahren, und mit einer anderen Farbe neben die Nummer geschrieben. Eigentlich ist es keine Karte, auf der sein Name steht, sondern ein Stück aus einer Zigarettenschachtel. Er hatte damals nichts anderes zur Hand gehabt, als er Melanies Nummer notierte.
Er wiegt das kleine Stück Pappe in der Hand. Für einen Moment ist er versucht, ihn auf den mittlerweile größten Stapel zu legen. Am Fuß der Lampe sammelt sich alles, was niemand mehr braucht. Melanie hat ihm damals nicht geholfen und Michael auch nicht. Auch heute werden sie nicht helfen. Während er in Gedanken schwelgt, hat er bereits mechanisch weitersortiert.
Im letzten Moment besinnt er sich anders. Auch wenn Melanie keine Hilfe gewesen ist, er kann die Information nicht vernichten. Oberhalb der wenigen Karten mit Nummern, die ihm wichtig sind, eröffnet er einen neuen Stapel. Die Karten liegen weit außerhalb des Lichtkreises. Aber das ist schon in Ordnung. Nummern aus Sofies Vergangenheit, beschließt er.
Beim Anblick der nächsten Karte spürt er wieder den vertrauten Stich. Der ermittelnde Beamte hat ihm diese Karte gegeben. Zusammen mit dem Versprechen, sofort Nachricht zu geben, wenn eine Spur von ihr gefunden sei. Bereits beim kleinsten Hoffnungsschimmer.
Er hatte angerufen. Ende Januar, und mitgeteilt, man habe diesen Michael ausfindig gemacht. Jedenfalls beinahe. Er reise, vermutlich mit weiblicher Begleitung, per Anhalter durch Spanien. In den beiden folgenden Wochen hatte er Sofie verflucht. Sie hätte mit ihm reden können. Wenigstens anrufen.
Michael zu finden hatte keinen Aufschluss gebracht. Zu dem Zeitpunkt, als die Polizei ihn befragte, war er allein. Und er leugnete, je mit Sofie zusammen aufgebrochen zu sein. Den Namen seiner früheren Begleitung gab er nicht preis.
Die Polizei stellte die Ermittlungen ein, weil außer Gerüchten nichts vorlag und er beauftragte mehrere Privatdetektive, deren Karten er zu der des Beamten legte. Karten, die nicht zu Sofie führten.
Neben diesem Haufen türmt er alles auf, was sonst mit ihrem Verschwinden zu tun hatte. Karten von Reisebüros, kleine Zeitungsfetzen, nicht größer als die Karten, mit Artikeln über Kreta, die USA, Disney World. Irgendwo muss sie ja sein. Sie könnte wenigstens anrufen.
Jedes Mal, wenn er in die Tüte greift, ist er erstaunt darüber, dass der Vorrat an Karten und Kärtchen schier unerschöpflich ist. Die Stapel wachsen Stück für Stück, aber noch lange ist die Tüte nicht leer.
Plötzlich muss er an diesen Tag im Sommer denken, als Sofie neun oder zehn war. Sie hatte seine Schreibtischschublade geöffnet, den kleinen Karteikasten mit Visitenkarten herausgezogen und fragend angesehen. Wozu er die Karten sammele, hatte sie gefragt.
"Man kann nie wissen, wozu man sie mal braucht. Wenn man die Karte von jemandem hat, kann man ihn immer erreichen." Sofie war aufgesprungen und in ihr Zimmer gelaufen. Nach ein paar Minuten war sie strahlend zurückgekommen und hatte ihm ein Stück Pappe entgegengestreckt.
Mit Filzstiften hatte sie darauf in vielen verschiedenen Farben ihren Namen, ihre Adresse und Telefonnummer gemalt. Die untere Ecke zierte ein lachender Clown, den sie damals auf alles malte.
Einen Moment starrt er wieder auf die Küchentür, so als würde sie jeden Moment hineinhüpfen und ihm eine selbstgemalte Karte entgegenstrecken. Aber nichts geschieht. Er lässt seinen Blick über den Tisch schweifen und kann die Karte von damals nirgends entdecken. In beinahe greifbarer Panik beginnt er, in der Tüte zu wühlen, bis er endlich das kleine Stück Karton in seinen Händen hält. Er betrachtet es, und während sich sein Herzschlag zuerst beruhigt, steigt er schließlich bis zu einem Trommelwirbel an.
Wie ein fehlendes Puzzelteil hält er die Karte über die verschiedenen Stapel auf dem Tisch, so als würde sie ihm helfen, das Rätsel zu lösen.
Aber nichts geschieht. Weder geht die Karte in Flammen auf noch ergibt plötzlich alles einen Sinn. Letztendlich schwankt er zwischen drei verschiedenen Stapeln. Sofies Vergangenheit, Sofies mögliche Zukunft, oder Telefonnummern, die ihm selbst wichtig sind.
Mit einem Schulterzucken, aus dem Jahre der Resignation sprechen, legt er die Karte neben alle anderen, an den äußersten Rand des Lichtscheins, weit weg vom Fuß der Lampe.
Er gräbt tiefer in der Tüte, wirft achtlos eine ganze Hand voll Karten an den Lampenfuß, ohne sie richtig durchgesehen zu haben, dann hält er inne und betrachtet die Karte, die als oberste zu liegen kommt. Er kann sich nicht erinnern, diese Karte aus der Tüte gezogen zu haben. Und kann sich kaum erinnern, woher er sie bekommen hat und warum. Erst langsam kommen die Teile des Ganzen zu ihm zurück.
Valerie hat sie ihm gegeben. Silvester vor neun Jahren. Er müsse einen Schlussstrich ziehen, hat sie gemeint. Ein Symbol setzen, in dem er endlich Ruhe findet.
Langsam dreht er die Karte zwischen den Fingern. Bis heute hat er nichts getan. Symbole und Endgültigkeit liegen ihm nicht. Und ein Anruf bei einem Beerdigungsinstitut würde die Dinge besiegeln.
Er wirft die Karte zurück auf den Lampenfuß. Der schwarze Rand hebt sich deutlich von den anderen Karten ab, aber er wendet sich wieder der Tüte zu. Noch mehr Karten, die er zur Lampe wirft, aber keine von ihnen verdeckt den Trauerrand, der ihn immer noch vielsagend angrinst.
Nachdem er auch die letzte Karte aus der Tüte gezogen hat, zwingt er sich schließlich aufzustehen. Von der Küchentheke nimmt er einen Stapel Butterbrottüten aus Papier. Er streicht das alte Papier sorgfältig glatt und legt die Tüten auf den Tisch. Dann beginnt er, die Karten Stapel für Stapel ordentlich zusammenzulegen und jeden Packen für sich in eine Papiertüte zu schieben.
Als letztes nimmt er Sofies Karte auf und starrt sie an. Der lächelnde Clown starrt traurig zurück. Unbewusst greift er zum Hörer und wählt die Nummer auf der Karte. Nach Sekunden ertönt das Besetztzeichen, während vor dem Haus die ersten Raketen heulend in den Himmel steigen. Mit einem leisen Lächeln auf den Lippen lässt er den Hörer sinken. Kurz bevor er die Gabel berührt und das Zeichen verstummt, hört er sich murmeln. "Ein Frohes Neues Jahr, Sofie."
Dann schiebt er die bunte kleine Karte in die Tüte mit Valeries Nummer und der Visitenkarte des Krankenhauses. Es ist die kleinste der Tüten. Für alle Fälle.
Die Papiertüten stellt er sorgsam nebeneinander in die Plastiktüte. Diejenige mit den Karten vom Lampenfuß zuletzt. Dabei sieht er schon wieder den Trauerrand, der nach oben aus den anderen Karten herausragt, so als wäre die Karte größer als die anderen. Größer als im letzten Jahr, sonst wäre es ihm aufgefallen.
Vorsichtig zieht er sie heraus und lässt sie neben Sofies Karte in der ersten Tüte gleiten. Man kann nie wissen, wozu es gut ist.
Version 2 - 28.01.2006