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Mittagspause
Ich sitze auf einem abschüssigen Rasenstück im Park, wenige Meter vor mir der Schotterweg, über den ich hergekommen bin, mit einer Bank, parallel dazu verläuft hinter dem Weg eine Hecke, dahinter, weiter unten, ein Fahrradweg, dahinter, noch weiter unten, der Magnitorwall. Die Sonne scheint, ich sitze auf meiner Jacke und trinke einen orangefarbenen Smoothie aus der Glasflasche. Es ist Mittagszeit, vor dem Kleinen Haus vom Staatstheater an der Straße stehen Handwerker um eine Baugrube, Vögel zwitschern, Autos fahren langsam den Magnitorwall hinunter, irgendwo am Himmel ein Hubschrauber, um mich herum schwirren kleine Fliegen und eine dicke Hummel. Aus dem Busch rechts neben mir riecht es nach Scheiße, also drehe ich mich nicht nach rechts, sondern gucke geradeaus, winkele meine Beine an, lehne mich mit den Armen darauf und trinke in großen Schlucken. Ich versuche, über genau das gerade nachzudenken, oder über gestern, oder über heute Abend, auf jeden Fall aber nicht über dich in Hamburg, am besten über die Sonne, den Smoothie, meine blaue Strickjacke und die Handwerker. In der Hecke gegenüber steht ein großer Fliederbusch, er blüht helllila. Daneben ein Strauch mit kleinen pinken Blüten, daneben ein Kastanienbaum, auch in voller Blüte.
Gestern Abend bin ich spazieren gegangen, weil ich Angst hatte, sonst nicht einschlafen zu können. Ich rufe dich an und es ist besetzt, ich schreibe dir Nachrichten und du reagierst nicht, ich merke wie mein Magen anfängt zu flattern und mein Kopf kreist und ich brauche irgendein Ventil und gehe los. Ich habe meine Hände in den Taschen, in der einen Hand den Schlüssel, in der anderen mein iPhone. Ich fahre mit dem Daumen über die Zacken des Wohnungsschlüssels, hoch und runter, hoch und runter, und gehe weiter. Die Abendluft ist schön, es wird langsam dämmerig. Es ist kurz nach 9, alle die jetzt draußen sind, stehen entweder vor Restaurants, gehen von irgendwo zurück oder sie sehen genauso verloren aus wie ich.
Ich gehe 200 Meter und du rufst an, hörst dich müde an und unkonzentriert und irgendwie unzufrieden, wie immer am Telefon, obwohl du zufrieden bist und redest und Sätze sagst, auf die ich mit Aha oder Ja oder kürzeren Sätzen antworte. Dann bemitleidest du mich ein bisschen und ich gehe weiter, an Menschen vor Restaurants vorbei und will all das und gar nichts und eigentlich nur müde sein und mit dem Laufen aufhören können und du sagst wir hören uns morgen und ich lege auf. Und gehe weiter, es wird dunkler, der Nachtgeruch steigt langsam auf, ich drehe noch eine Runde vorbei am Botanischen Garten und würde mich am liebsten auf das Pflaster des Fußwegs neben den Holzzaun legen und einschlafen.
Direkt an den gepflasterten Hof des Hauses, in dem ich wohne, grenzt der Garten eines Doppelhauses. Ein modernes, mit flachem Dach, schlicht und mit großer Fensterfront. Du hast es mal als Referenz in einem Monolog zum Thema „Was man im Leben wollen könnte und wann man anfangen sollte, dafür zu arbeiten“ herangezogen, daran muss ich manchmal denken. Der Garten ist durch einen grünen Metallzaun von unserem Hof abgegrenzt. Man sieht die Rasenfläche und an der linken Seite die Terrasse des Hauses, manchmal einen schwarzen Hund, manchmal den Besitzer (letzte Woche hat er einen Bambussichtschutz angebaut). Jetzt sitzt er auf seiner Terrasse, vor sich ein Laptop und ein Glas Wein. Er hat längere graue Haare und eine schwarze Hornbrille auf, er sieht akademisch aus und ich würde mich gerne an den Zaun stellen und ihn angucken und fragen, ob er sich manchmal genauso verloren fühlt wie ich. Dann könnte er mich auf seine Terrasse bitten und mir ein Glas schweren Rotwein anbieten und ich würde mich ihm gegenüber in meiner Jogginghose und dem alten Pulli in einen Terrassenstuhl setzen und meine Beine anziehen und wir würden reden oder uns einfach nur kurz angucken und er würde weiter tippen und ich würde auf meinen Hof hinübersehen. Vielleicht würden wir das jeden Abend diese Woche so machen und irgendwann würde ich einfach aufstehen und nach Hause gehen.
Aber ich frage ihn natürlich nicht und gucke auch nicht länger, als es angebracht wäre, sondern ziehe den Schlüssel aus der Jackentasche und schließe mir auf.
Mein Smoothie ist fast alle. Von rechts kommt ein großer Typ in dunkelblauen Chinos und rotem Karohemd angeschlurft und setzt sich auf die Bank, mir gegenüber. Wenn wir heute Abend telefonieren, was soll ich dir sagen. Dass ich Mittagspause neben einem Busch gemacht habe, der nach Scheiße riecht? Ich werde Ja sagen und Aha und Mmh. Und dass du mir fehlst.