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Mitten in der Nacht
Auf meinem Nachttisch stand sein Foto. Er trug das Amulett. Zum Zeichen unserer Liebe hatte ich es ihm nach seinem Tod auf seinen kalten Körper gelegt. Seit mehr als zwanzig Jahren lag es begraben mit ihm und all meinen Träumen ... tief unter der Erde.
***
Mitten in der Nacht drang - wie aus weiter Ferne - Telefonklingeln an mein Ohr. Es dauerte eine Weile, bis es mein Bewusstsein wahrnahm. Aus tiefstem Schlaf entrissen, schielte ich mit zusammengekniffenen Augen zum Wecker. Die Leuchtziffern der Digitaluhr zeigten kurz nach eins. Wer zum Teufel rief um diese Zeit an? War etwas passiert? Noch etwas umnebelt vom Schlaf und leise vor mich hin fluchend, wankte ich müde durch den Flur. Auf dem Telefonablageschränkchen griff ich zum Hörer. Gesprächsteilnehmer unbekannt, stand auf dem Display. Schlaftrunken murmelte ich ein undeutliches „Hallo?" Es knackte und rauschte in der Leitung, als würde eine permanente Störung vorliegen. Die Verbindung war denkbar schlecht.
„Kristin?", vernahm ich eine durchaus wohlklingende, männliche Stimme. Obwohl er mich zu kennen schien, hatte ich nicht die geringste Ahnung, wer mich da zu später Stunde anrief. Die Art und Weise wie er meinen Namen aussprach, der warme Klang seiner Stimme machte mich stutzig.
„Ja, hallo?", erwiderte ich. Der Anruf schien aus unendlicher Ferne zu kommen. Immer noch von Müdigkeit umwölkt, war ich mir nicht sicher, ob ich noch im Land der Träume- , nicht ganz wach war.
Ich rieb meine Augen, um die Schleier zu vertreiben.
„Ich vermisse dich so sehr, Kristin!", hörte ich ihn mit verzerrter Stimme sagen. Angestrengt lauschte ich.
„Wer ist denn dran?", fragte ich noch einmal.
Er sprach hastig und die Worte klangen abgehackt. Ich hatte Mühe ihn zu verstehen.
„Denkst du noch manchmal an mich?", höre ich ihn fragen.
„Kristin?", wiederholte er. Die Stimme! Der Klang seiner Stimme ... ! Ich fühlte kleine Schauer über meinen Rücken jagen.
„Ich vermisse dich so sehr, Kristin!"
Ich lauschte den Wortfetzen, die ich zusammenreimte und meine Sinne schärften. Mein Herz fing an zu rasen. Gänsehaut überzog meinen Körper. Die Stimme war mir so vertraut; die Zärtlichkeit und Wärme darin! Wie oft hatte ich von ihm geträumt. Wie oft hatte ich mir gewünscht, er wäre hier. Unzählige Male! Wenn ich mich nur einmal noch in seine Arme schmiegen-, ihm ganz nahe sein könnte. Ich hatte nie aufgehört, ihn zu lieben. Gedankenverloren strich ich mir über die Stirn. Es konnte doch gar nicht sein! Erlaubte sich da jemand einen ganz üblen, makaberen Scherz? In Sekundenschnelle zog ich alle Möglichkeiten in Betracht. Vielleicht war es eine Verwechslung. Eine besonders unglückselige, tragische Fügung - eine Ironie des Schicksals. Bilder aus längst vergangenen Tagen tauchten in meinem Kopf auf. Kleine Szenen spulten wie ein Film ab. Mit feuchten Händen und klopfendem Herzen umklammerte ich den Hörer. Du bist verrückt, schalt ich mich. Es konnte gar nicht sein! Energisch schüttelte ich die Gedanken ab. Bestimmt träumte ich nur. Gleich würde ich aufwachen und in das lächelnde Gesicht auf meinem Nachttisch sehen.
„Lass mich nicht solange warten, Liebes“, hauchte er undeutlich an meinem Ohr.
„Hallo, ich ähm ... wer bitte ist denn dran?", warf ich zaghaft ein, während ich fieberhaft überlegte.
Es war so ungeheuerlich! Ich weigerte mich zu glauben, was ich hörte.
„Liebling, war es nicht wunderschön mit uns?", sagte er mit einschmeichelnder Stimme, die von unendlich weit her zu kommen schien.
„Sehnst du dich nicht auch nach mir, Kristin?", hörte ich ihn fragen. Beklemmung machte sich breit.
Ich musste vernünftig sein; einen klaren Kopf bewahren.
„Hören Sie - Sie sind falsch verbunden", versuchte ich das Gespräch zu beenden. Er schenkte meinen Worten keine Beachtung.
„Komm doch zu mir, du fehlst mir so, möchtest du nicht bei mir sein? Bitte, Kristin!", sprudelte es aus ihm heraus.
Es war kein Traum. Ich hörte seine Stimme! Plötzlich war ich hellwach. Viele Gedanken schossen durch meinen Kopf; überschlugen sich. Ich fühlte mich so schwach und hilflos.
„Halloooo", um mir Gehör zu verschaffen, hob ich meine Stimme an.
„Sie haben sich verwählt.", schrie ich fast in den Hörer.
Endlich gelang es mir, seinen Redeschwall zu unterbrechen. Einen Moment blieb es am anderen Ende ganz still.
„Oh ... ist dort nicht Kristin?", fragte er dann leicht verwirrt.
„Doch, mein Name ist Kristin, aber ich kenne Sie nicht!", antwortete ich grob.
Zunächst blieb es wieder ganz still, dann ertönte ein lang gezogenes „Ohhhh ..."
So leicht gab er nicht auf.
„Hast du mich vergessen, Kristin?", fragte er plötzlich in verändertem Tonfall. Mein Herz raste und mir wurde ganz schwindelig. Die Stimme! Über zwanzig Jahre hatte ich seine Stimme nicht mehr gehört. Aber es war doch völlig unmöglich! Wer tat mir so etwas an? Jemand trieb ein grausames, geschmackloses Spiel mit mir. Langsam fühlte ich Wut aufsteigen.
„Sie sind falsch verbunden.", wiederholte ich lapidar.
„Liebst du mich nicht mehr, Cherie?", fragte eine traurige Stimme am anderen Ende der Leitung. Meine Nackenhärchen sträubten sich. So hatte er mich vor etlichen Jahren immer genannt. Bei Erwähnung des Kosenamens versteifte sich mein ganzer Körper. Nur ein Sadist konnte so mit meinen Gefühlen spielen.
„Sie haben die falsche Nummer", sagte ich barsch und legte auf.
Noch lange hörte ich in dieser Nacht in regelmäßigen Abständen das Telefon läuten.
***
Am nächsten Morgen fiel mir zwischen Tageszeitung und den üblichen Werbeprospekten ein vergilbter, total verknitterter Briefumschlag vor die Füße. Als ich ihn aufhob, spürte ich einen Gegenstand darin.
Ich starrte auf die Umrisse, was sich darin abzeichnete. Mit zittrigen Fingern hielt ich das Amulett in den Händen.
Plötzlich verstand ich. Es würde nicht mehr lange dauern. Ich hatte keine Angst.