Mitwinterball
Die Sonne hatte ihren Kampf mit der Dunkelheit verloren. Die Nacht war hereingebrochen und verwischte die Umrisse der Bäume und Hügel am Wegrand zu einer konturlosen Landschaft. Die Kutsche ruckte. Ich liess den samtenen Vorhang wieder über das kleine Fenster fallen und lehnte mich in meinem Sitz zurück. Mir war übel. Ich hörte das wilde Peitschenknallen, die harten Pferdehufe auf schlammig-schmutzigem Schnee. Die zwei Zofen mir gegenüber tuschelten, aufgeregt kichernd. Ich hätte sie nicht mitnehmen sollen, Anstand hin oder her. Übel. Ich hätte auch etwas essen sollen Ich atmete tief und langsam, soweit mein Korsett es mir erlaubte. Aufregung liess meinen Puls hochschnellen. Meine Finger, in zarte Seidenhandschuhe gehüllt, umklammerten die Maske auf meinem Schoss.
Ich war erleichtert, als die Kutsche endlich schwankend zum Stillstand kam. In Strumpfhosen steckende Diener öffneten die Türen und halfen uns beim Aussteigen. Hohe Bogenfenster warfen warmes güldenes Licht auf den Schlosshof, und die obersten Zinnen des höchsten Turmes wurden von den kalten Sterne in ihr kaltes blaues Licht getaucht. Vereinzelte Schneeflocken tanzten im Luftzug, der mich in die grosse Halle begleitete. Meines pelzbesetzten Umhanges entledigt, setzte ich mir meine Maske auf. Die weissen Schwanenfedern wippten leicht bei jedem meiner Schritte, als ich über eine Treppe in die musikerfüllte Festhalle hinabstieg.
Die Ausmasse der Maskenballs erschlugen mich. Schwester Merande hatte recht, wenn sie sagte, er sei das beliebteste, grösste, gewaltigste Fest im Jahr. Hier traf sich alles Schöne und Vergnügliche. Edelleute in teuersten Kleidern, juwelenbesetzt und schwer von Goldbrokat tanzten mit Damen und Mädchen in hauchdünnen Seidenschleiern, durch welche zarte Elfenbeinhaut schimmerte. Sie trugen Pfauen- und Falkenmasken, die entweder das ganze Gesicht bedeckten oder wie kostbare Ziselierungen die Schläfen und Augenpartien umrahmten. Blumenblätter lagen auf dem Boden verstreut. Rosenduft blieb an vorbeirauschender Seide hängen. Edelsteine blitzten geheimnisvoll in hochgesteckem Haar, Fächer wedelten, glockenhelles Lachen ertönte aus kirschroten Lippen, die Menge glitzerte und funkelte wie das Licht des Mondes, das sich in den Wellen des nächtlichen Ozeans in tausend Farben bricht. Soviel Schönheit auf einmal trieb mir die Tränen in die Augen.
Als ich mich wieder gefasst hatte, fing ich an, nach Lew Ausschau zu halten Ich wollte meinen Liebsten so schnell wie möglich finden. Eine zeitlose Weile lang liess ich mich in diesem Meer von Samt und Seide treiben, staunend wie ein kleines Kind im Mitwintermärchen, suchte nach seinem adlermaskierten Gesicht.
Jemand sprach mich an. Einen Moment wusste ich nicht, in welche Richtung ich mich drehen musste, meine Sinne waren überfüllt mit Eindrücken.
„Ein hübscher Schwan bist du.“
Eine zierliche Frau , kleiner als ich, in golddurchwirkten schwarzen Samt gekleidet, hatte mir ihr Gesicht zugewandt. Wilde, schwarze Locken umrahmten die erschreckend echte Katzenmaske. Reina. Plötzlich war mir übler als je zuvor.
„Mein Kompliment, Caya, du wirst jedes Jahr schöner.“
Die melodiöse Stimme jagte mir Schauer über den Rücken. „Danke, Mylady..“ Meine Maske konnte meine aufkeimende Angst nicht vor ihr verbergen. Sie wusste das. Ich spürte redlich, wie sich ihr volllippiger Mund hinter der Katzenschnauze zu einem grausamen Lächeln verzog. Und plötzlich hatte ich Angst um Lew. Was, wenn sie es wusste? Der Festsaal um mich herum verschwamm, nur noch sie und ich standen reglos inmitten eines Farbenstrudels. Panik erfüllte mich mit Mitwinterkälte, denn ihre dunklen, animalischen Augen enthüllten mir, was die Maske so geschickt verbarg: Wilder, brennender Hass, der mich wie ein Schlag ins Gesicht traf.
Dann war es vorbei. Sie hatte sich wieder unter Kontrolle. Ich würde dafür bezahlen, das wusste ich. „Geniesse den Abend, Caya.“, sagte sie, rückte ihre Katzenmaske zurecht und verschwand in der Menge.
Lew kam nicht mehr.