Modeschau um Mitternacht
„Dieser verdammte Mond“, entfuhr es ihm und seine Mimik schien dabei zu verraten, daß er mehr über seine Worte erschrak, denn daß er sich über das Licht empörte. Es war zu hell. Viel zu hell. "So war das nicht geplant, verdammt nochmal", hörte er eine aufgeregte aber betont leise Stimme neben sich. Vor sich sahen sie ein Industriegelände mitten im Nirgendwo, umgeben von allerlei wild wucherndem Gestrüpp. Das Licht der Laternen war um die Gebäude gehüllt und machte nur hier und dort einen Abstecher auf das eigentliche Areal ringsherum, um sich in seichtem Nebel und der Nacht zu verlieren. Gegenüber war ein Fluß, den man mit Leichtigkeit erahnen konnte. Umgeben vom meterhohen Wildwuchs lagen sie in Deckung. Zu zweit. Weniger eine Armee. Mehr ein Zeichen des guten Willens. Ihre Situation war ihnen klar. Da waren keine dutzend Nebenmänner, die es im Zweifelsfall zuerst erwischt hätte. Hier waren nur sie und wenn sie entdeckt wurden, war es aus. So eine Wache fackelt nicht lange, wenn sie eine Kalashnikov in der Hand hält. Aber noch war es nicht so weit. Die da draußen hatten keinen blassen Schimmer, und das war gut so.
„Sieht verdammt ruhig aus. Wir sollten es versuchen.“ Eine weitere halbe Stunde verging, in der sich nichts ereignete, was man bedeutend nennen müsste, aber jede Kleinigkeit wurde von ihnen aufgesogen. "Der Rambo", wie sie die erste Streife nannten, hatte sein Gewehr lässig über der Schulter. Kein Soldat mit Ausbildung. Eben ein Rambo-Verschnitt. Der Zweite, "Der Dicke"... nun ja, es lag auf der Hand, daß sie es auch hier nicht mit der Elite zu tun haben sollten. Gefährlich waren die Wachen aber allemal und in den Gebäuden waren sicher noch mehr. „Wir machen es wie gehabt. Ich geh' zuerst und sichere. Erst aufs Büro, dann rüber zur Anlage und rein. Wenn der Dicke wieder seine Runde dreht, geht's los“. Aber "der Dicke" machte keine Anstalten, sich zu bewegen. In seeliger Ruhe lehnte er vielleicht hundert Meter entfernt an einer Wand und rauchte. Lässig und lasziv, als sei er Model für Feinripp-Unterwäsche der Marke "Sibirian Bear" und das Surren der schweren Scheinwerfer sein Lied. Nur das Blitzlichtgewitter ließ auf sich warten. Am Abzug waren die Fotografen schon lange, warteten aber bedächtig auf den einen Moment, in dem er seine beste Pose preisgeben sollte. Sowas passiert hin und wieder.
„Zum Kotzen“, sagte der Erste. Der Zweite brummte zustimmend und machte ein Gesicht, als sei alles verloren. Soweit war alles fertig, doch die Zeit drängte. „Die Gegner ausgespäht, den Einstieg gefunden, und dann hängt es am Zwischenmenschlichen“, flüsterte sich der Zweite und grinste. „Gute Kommunikation ist alles“, sprach er vor sich hin. „Soll ich mal meinen Freund Mr. 9mm mit ihm reden lassen?“ - Verwirrt, fast angewidert nahm der Erste sein Fernglas beiseite, schaute den Zweiten vorwurfsvoll an. Der Zweite, fast so als spürte er die fragenden Blicke, tat es ihm gleich, legte sein Fernglas bedeutungsschwanger beiseite und fuhr fort „Na ja, gehen wir doch mal rüber und sagen hallo. Oder willst Du vielleicht auf den Sonnenaufgang warten?“ Das hätte durchaus Stil, ganz Hollywood-like. Hier aber war die Realität, gezeichnet von Adrenalin, Hunger und Nachtsichtgeräten. So mancher ihrer Kollegen verlor sich mit der Zeit im Alkohol, oder zeitgemäßeren Drogen. Der Eine oder Andere soll auch schonmal "ausgetickt" sein. Wie bei einer Uhr, wo der Sekundenzeiger einem Stroboskoplicht ähnlich wird. Der epileptische Anfall scheint vorprogrammiert. Beim Einen früher, beim Anderen später. Die Frage war nur, ob man rechtzeitig mit dem Job aufhören konnte. „Neunundachtzig Meter, Wind kommt aus Nord-Nordost. Eins auf böig“, sagte der Zweite. „Wir haben noch eine Stunde. Wachablösung kommt sicher früher. Siehst du einen Platz, wo wir ihn hinschaffen könnten?“, fuhr er wissbegierig fort. „Nein. Mhh... zu gefährlich. Feuer nur bei Gegenwehr“
„Roger!“, klang es entnervt zurück, wie bei einem Kind, dem man verboten hatte, die Sesamstraße zu schauen. Der Erste machte sich Gedanken über seinen Partner. War ihm das Leben des Dicken egal? Gut, es musste ihm egal sein. Aber einfach so abknallen? Und was, wenn es jemand sehen würde? Und was der Dicke wohl für ein Mensch sein mochte? Warum stand er nicht dort anstelle des Dicken? Es war doch alles irgendwie nur Zufall, oder Schicksal, oder was auch immer. „Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens“, dachte er sich und grinste heimlich. Die Gewissheit, daß er doch nicht kalt genug für diesen Job war, befriedigte ihn. „Da, er geht!“, hörte er just in diesem beruhigenden Moment.
„Na endlich. Also los. Rambo ist schon um die Ecke. Ich geh hinter ihm rein und hole dich nach“. Der Erste packte sein Gewehr zusammen. Schon fast häuslich hatte er es sich auf diesem Erdhügel gemacht, der das halbe Areal umschloss. Sein Gewehr im Boden befestigt, seine Ausrüstung neben sich. Ja, er hatte es sich bequem gemacht, aber nun war die Idylle dahin. Das schwere Gepäck schulterte er unter sichtlicher Anstrengung, getrieben von der ungnädigen Zeit im Nacken, und doch tat er es mit bestimmter Ruhe, um keinen Lärm zu machen. Jeder Handgriff musste sitzen, und vor allem alles an seinem Platz sein. Sein Scharfschützengewehr hängte er sich auf den Rücken. Im schnellen Vorstoß war es unbrauchbar.
Mit seiner linken Hand hielt er Gewehr und Rucksack ruhig auf seinem Rücken, als er im leichten Lauf den Abhang hinab kam. Allerlei Dreck wirbelte auf, der durch das Nachtsichtgerät ihm sekundenweise die Sicht nahm. Die rechte Hand an seiner schallgedämpften Pistole. Immer näher kam er dem Bürokomplex, links von ihm eine alte Lagerhalle. Nur im zweiten Stock selbiger waren einige wenige Fenster. Er musterte sie im Vorbeilaufen fragend, starrte geradezu. Als sich seine Angst nach menschlichen Gesichtszügen in diesen nicht bewahrheitete, widmete er sich schnell der entgegengesetzen Blickrichtung. Er rannte auf die Ecke des Bürogebäudes zu, unentwegt, aber auch so leise wie es ging. Rechts von ihm, in vielleicht dreihundert Metern standen mehrere Busse und auch kleinere Privatwagen. Gerade sie waren beleuchtet und ihre Farben verschwanden im orangen Licht der Laternen. Nur noch wenige Meter zur Leiter. Jetzt war er ungeschützt, musste sich mit beiden Händen die vier Stockwerke hinaufstemmen, das schwere Gepäck auf seinen Schultern lastend. Weiter hinten war der Leise noch in der selben Position wie schon seit Stunden, aber auch für ihn war die Stille vorbei. Aufgeregt durchsuchte er das Areal nach den zwei Wachposten, die noch immer Streife liefen. Der Laute war schon etwa auf der Hälfte, da knackte es in seinem Ohr und ein Rauschen kündigte Funkverkehr an: „Alpha-Leader, Alpha-Leader, Rambo kommt!“
Wie erstarrt verharrte er auf der Leiter. „Bleib einfach ruhig. Du schaffst das, so wie immer“, dachte er sich und wägte ab, ob er die verbleibenden fünf bis sechs Meter nicht noch schnell überwinden sollte. Andererseits würde das vielleicht einen Höllenlärm machen, aber Rambo schien auch nicht gerade der Hellste zu sein.
„Alpha-Leader, Alpha-Leader, Rambo biegt um die Ecke. In fünf... vier... drei... Kontakt!“ Seine Stimme wurde überlegter, monotoner, angespannter. „Zwei... Strich... Neunzig...“, murmelte er vor sich hin. „Einen Mucks, mach nur einen Mucks...“
Rambo ging tatsächlich an dem in vielleicht acht Metern Höhe schwebenden Kombatanten vorbei und schaute wissbegierig in alle Richtungen. Sowas wie Katz und Maus. Oder eher blinde Kuh. Nach oben wanderte sein Blick nämlich nicht.
„Alpha-Fox, Alpha-Fox, habe Dicken in Sicht. Kannst los.“ – „Roger!“
Auf dem Dach herrschte Frieden. Er fühlte sich hier sicher. Auch der Zweite kam hinauf, seinen schweren Atem unterdrückend. „Und, bist Du soweit?“ – „Ja. Ich denke, dieser Schacht müsste es sein. Du sicherst mich, und ich gehe mit dem C4 rein.“ C4 – das war soetwas wie der Allzwecksprengstoff. Damit konnte man hübsche Löcher in Bunker, Panzer und Menschen machen. „Sag mal, welchen Timer nimmst Du? Ich schätze, wir müssen hier noch ein ganzes Stück weit laufen. Oder willst Du im Dunkeln leuchten?“ – „Der Chief hat gesagt, er holt uns aus Tschornobyl raus, also keine Panik“ – „Nein, er sagte Pripyat. Das sind fünf Kilometer von hier aus. Und es heißt Tschernobyl. Das solltest Du aber langsam mal drauf haben.“ – „Mir egal, wie der Drecksladen heißt. In einer Stunde steht hier eh kein Stein mehr auf dem anderen.“