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Fünfter Teil
Mondbaden
Moskau, Russland
Vladimir Alexejewitsch füllt den Picknickkorb, während Olga Iwanowna ein Lied summt. Die Küche duftet nach Kaffee und Teig. Der Korb stammt aus Paris. Sie haben ihn vor dreißig Jahren während der ersten großen Reise nach Westeuropa gekauft. Über dem Eiffelturm leuchtete der Mond und sie hielten sich in den Armen. Seither setzen sie sich vor den Kremlmauern auf eine Bank und warten auf die Abenddämmerung und den Vollmond, weil es nichts Schöneres in Moskau gibt, als den Mond über dem Kreml zu beobachten, weil das Mondlicht für eine Weile sogar das Brausen und Wüten der Stadt besiegt. Deshalb ziehen sie auch an diesem Tag los.
„Bist du dir sicher, Volodja?“
„Natürlich, Lola! Wir gehen seit dreißig Jahren hin.“
„Und wenn die Polizei kommt?“
„Ich habe doch immer noch den Ausweis. Ich bin wer!“
„Du warst wer, Volodja, vergiss das nicht.“
„Ist doch kein Verbrechen, sich auf eine Parkbank zu setzen“
Volodja schüttet den Kaffee in die Thermoskanne und wickelt die Pelmeni in Papier. Lola hat den Teig geknetet, die Füllung selbst gemischt wie all die Jahre zuvor. Dann machen die beiden sich zurecht. Volodja streicht über die Generalsuniform, die er jede Woche ausbürstet. Sie glänzt beinahe wie am ersten Tag und passt immer noch wie angegossen. Darauf hat er geachtet. Die Orden am Revers müssten poliert werden. Lola trägt ein Wollkleid und reicht ihm das Bündel Dollarscheine, das sie aus dem wasserdichten Beutel herausgeholt hat, der im Toilettenkasten versteckt ist.
Sie hören den Hall der eigenen Schritte, so leergefegt wirken die Straßen. Kein Mensch strömt aus den U-Bahn-Schächten der Haltestelle Kropotkinskaya. Wind pfeift über den Platz, aber er fühlt sich frühlingsmild an. Die kalten Tage werden nach dem Vollmond zurückkommen, überlegt sich Olga und betrachtet ihren Volodja. Ein gutaussehender Mann. Er hat ihr von Anfang an gefallen. Selbst nach dem Tschernobyl-Einsatz. Sie hatte so viel Angst um ihn. Als er zurückkam, sah sein Gesicht wie ein schmutziges Schneefeld aus. Er brauchte monatelang, um sich zu erholen, sagte, er dürfe nicht über das Erlebte sprechen.
Am Himmel hören sie Jets donnern. Übungsflüge für die Parade. Der Glorreiche Krieg ist seit 75 Jahren zu Ende. Wer hätte das gedacht? Ob die Parade stattfindet, weiß keiner so recht. Was für eine Gefahr geht schon von einer Parade aus? Während sie sich ihrem Ziel nähern, hören sie von Zeit zu Zeit Sirenen aus der Ferne, aber sonst bleibt es still, Der Lärm des Verkehrs fehlt, der sonst allen anderen Geräuschen wir ein vertrauter Teppich unterlegt ist. Als ob das Herz der Stadt beschlossen habe, etwas langsamer zu pochen.
Beim Gehen spürt Volodja die Gicht in den Gliedern. Er denkt für einen Moment an sein Alter, die achtzig Jahre, die er überschritten hat, und schüttelt den Kopf. Sie war so jung. Zehn Jahre jünger als er, ein gewaltiger Unterschied. Er liebt seine Lola. Zum Kinderkriegen war es nie gekommen. Schicksal, Zeitmangel, wer weiß.
Als eine Böe über sie hinwegfegt, schließt er den obersten Mantelknopf. Er hat schon viel kältere Tage erlebt. Außerdem haben sie heißen Tee in der Thermoskanne. Mit einem klitzekleinen Schuss, damit sie sich von innen wärmen können.
Auf dem Roten Platz angekommen, bleiben sie für einen Moment stehen. An den Mauern flanieren Wachen, sonst ist keiner da. Volodja erinnert sich an Menschenmassen, an Banner, die an den Häusern angebracht waren - die zündendroten der Sowjetzeit – darauf Hammer und Sichel. Und überall der Blick Stalins oder der seiner Nachfolger. Damit man wusste, dass man nie allein war. Menschen drängten sich zwischen den Bildern, Menschen, die voranschritten, solange ein Auge auf sie gerichtet war, die in sich zusammensanken und ausspuckten, sobald sie unbeobachtet waren. Damals atmete er im Rhythmus sozialistischer Überzeugungen. Wie jeder.
Sie erreichen eine Bank am Rande des Platzes. Dort hat man freien Blick auf die Basilius-Kirche, auf die Farben und Formen der Zuckertürme, von denen jeder einzelne anders gestaltet ist, andere Rundungen hat, einen veränderten Schwung. Volodja legt Kissen auf die Holzfläche. Dann setzen sie sich. Er seufzt und ergreift die Hand seiner Frau. Die Dämmerung setzt langsam ein, das Blau des Himmels verblasst, Rosatöne entstehen. Sie breiten die Decke aus, essen und trinken, schauen zum Himmel und schweigen, während sie einander über die Handrücken streicheln. Volodja stellt die Tasse ab und schluckt den Bissen Pelmeni herunter, als die beiden Soldaten sich nähern. Die Männer tragen Schutzausrüstung mit Helm. Dort wo Vladimir Alexejewitsch seine Orden trägt, steckt bei ihnen ein Schild mit einer Nummer. Am Gürtel sind Pistolen festgezurrt, an den Schultern baumelt eine Kalaschnikow. Volodja lächelt sie an.
„Entschuldigen Sie bitte“, sagt einer der beiden.
„Was kann ich für Sie tun?“
„Sie dürfen hier nicht sitzen!“
„Warum?“
„Wegen der Quarantäne!“
„Wir schauen uns den Sonnenuntergang an, mehr nicht.“
„Sie dürfen hier nicht sitzen!“
„Papperlapapp. Wissen Sie überhaupt, wer ich bin?“
„Sie dürfen hier nicht sitzen!“
„Wer sagt das?“
„Die Vorschriften.“
Der General richtet sich auf, lässt die Orden blitzen, gleichzeitig greift er in die Jackentasche und nimmt einen Teil der Dollarnoten, ballt sie in seiner Generalspranke so, dass sie unsichtbar bleiben und steckt dem Soldaten, der das Wort geführt hat, das Geld zu.
„Jetzt gehen Sie bitte und lassen Sie uns den Mond genießen.“
Die beiden kratzen sich an den Helmen, zögern, drehen sich um und marschieren zur anderen Seite des Platzes. Der General schaut ihnen hinterher, sieht sie gestikulieren und fragt sich, ob die Geldsumme und sein Auftreten ausgereicht haben. Dann lehnt er sich zurück und grinst Lola an.
Der Mond steht mittlerweile fest am Himmel, breitet sich über den Kremltürmen aus, als wolle er mit dem Bauwerk verschmelzen, um aus den Konturen lebende Schatten zu zeichnen. Lola ergreift wieder die Hand ihres Mannes.
Sie genießen den Anblick eine Weile, hängen ihren Erinnerungen nach und achten nicht darauf, was um sie herum passiert, bemerken auch die Soldaten erst im allerletzten Moment, die vor ihnen Haltung annehmen.
Einer der Soldaten reicht dem General ein Smartphone und sagt: „Für Sie!“
Vladimir Alexejewitsch nimmt das Handy entgegen und hält es ans Ohr.
„Ich bin’s, Towaritsch Vladimir Alexejewitsch.“
„Sie, Vladimir Vladimirowitsch. Was für eine Überraschung!“
„Wie geht es Ihnen?“
„Hervorragend, ganz hervorragend.“
„Die Wachen werden Sie nach Hause begleiten.“
„Der Mond über dem Kreml ist was ganz Besonderes, wissen Sie das, Vladimir Vladimirowitsch?“
„Kenne ich. Wirklich recht hübsch.“
„Hübsch ist der falsche Ausdruck, schön, ja schön, anders kann man es nicht bezeichnen!“
„Wie geht es Ihrer Frau, Vladimir Alexejewitsch?“
„Lola sitzt neben mir und lässt Sie grüßen.“
„Meine besten Empfehlungen an Olga Iwanowna. Wie gesagt, die Wachen bringen Sie jetzt nach Hause und ich möchte Sie bitten, die Ausgangsbeschränkungen in Zukunft zu beachten. Nein, ich befehle es Ihnen, verstanden!“
Vladimir Alexejewitsch zögert, räuspert sich und will gerade antworten, da stößt seine Lola ihn an und deutet zum Himmel. Volodja schaut nach oben, kratzt sich am Hals, schaut erneut hin.
„Vladimir Vladimirowitsch!“
„Was gibt’s, Vladimir Alexejewitsch?“
„Ähm, bitte verzeihen Sie, Vladimir Vladimirowitsch, aber ich schätze, Sie sollten aus dem Fenster schauen. Sie befinden sich doch im Kreml?“
Als könne er ihm zeigen, was er meint, was er klar vor Augen hat, hebt Volodja den Arm mit dem Handy zum Himmel. Inmitten des Blutmondes fliegt eine nackte Frauengestalt auf einem Besen über den Kreml. Ihre Haare wehen im Wind, die Haut nimmt die Farbe des Mondes an, die Augen leuchten und lachen und die Brüste hüpfen vor Freude.