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Mondnacht

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15.06.2016
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Mondnacht

Sie sitzt ganz hinten. Allein. Ungerade Anzahl Schüler, einer muss alleine sitzen, sagt die Klassenlehrerin. Neben der Fetten hat niemand Platz, sagen die anderen.

Letzte Stunde. Deutsch. Hausaufgabe war Eichendorffs Mondnacht – auswendig. Sie kann es. Es war, als hätt' der Himmel. Aber sie wird sich nicht nach vorne stellen, es aufzusagen. Nicht vor der ganzen Klasse, dem zwanzigköpfigen Monster mit den kalten Augen.

Doch jetzt gibt Herr Remper – Sven – erst einmal die Klassenarbeiten zurück. Geht durch die Reihen, nennt die Namen. Ihren. „Silvia Luft.“ Ein aufgeschlagenes Heft wird vor ihr auf das Pult gelegt. Eine schöne, schmale Männerhand hält es mit gespreizten Fingern fest. Der Zeigefinger ruht auf der umringelten Eins. Am Knöchel ein verblasster Farbklecks. Herr Remper – Sven – gibt auch Kunst. „Sehr schön gemacht, Silvia“, sagt eine dunkle Stimme direkt über ihr.
Sie sieht hoch in grau-grüne, freundliche Augen. Eine sanfte, schwere Hand streicht sacht über ihre Schulter. Die Erde still geküsst. Ihr wird warm und ihr Herz wird ganz weit, als pochte es nun neben ihrem Körper.

Sie wird die Erinnerung daran behutsam mit nach Hause nehmen, tief in sich verschlossen. Und dann langsam entblättern, wenn sie im Bett liegt, sich von der Bettdecke umarmen lässt und an die Stellen fasst, die so wohlig jucken. Sie wird sich ihre Hände als seine denken. Das geblümte Kopfkissen küssen. Dass sie im Blütenschimmer von ihm nun träumen müsst.

Sie sieht zu, wie er spricht, fragt, zuhört, die Stirn runzelt, verschmitzt lächelt. Folgt mit den Augen dem geschmeidigen Gang. Beobachtet das Muskelspiel unter dem Hemd, wenn er den Arm reckt, um an die Tafel zu schreiben. Es war. Einmal. Einmal nur erleben, wovon die anderen Mädchen tuscheln, nach der Sportstunde, beim Duschen. Während sie sich die Brüste einseifen. Sich vor dem Spiegel wollüstig räkeln. Dann werden Körbchengrößen verglichen und Jungennamen gewispert. Aber keine flüstert „Sven“. Und sie traut sich nicht. Nicht einmal zu duschen. Das Sportzeug zieht sie in der dunkelsten Ecke der Umkleidekabine aus. Hastig. Und zwängt sich die Kleidung über den verschwitzten, dicken Körper, den sie den anderen nicht preisgeben will.

Er fragt, wer aufsagen möchte. Schaut zu ihr hin.
Sie weicht dem Blick aus.
Simon meldet sich. Von vorne ein erstauntes „Simon?“
Herr Remper – Sven – freut sich. Macht lächelnd vor der Tafel Platz.
Simon spult die ersten Zeilen fast hektisch herunter. Als hätte er Angst, unterbrochen zu werden. Dann die zweite Strophe.
Die Luft ging durch die Felder –“
Kunstpause. Silvia will soufflieren. Sie sieht zu Simon hinüber, bewegt die Lippen. Die Ähren wogten sacht.
Er schaut sie an, verzieht den Mund, quetscht dann heraus: „– und walzte alles platt.“ Lässt die Arme vom Körper abstehen und imitiert ihren rollenden Gang.
Gellendes Gelächter. Neunzehn Köpfe drehen sich zu ihr hin. Mit aufgerissenen Mäulern. Speichel sprüht.
Sie wagt einen Blick auf den Lehrer. Lacht er auch?
Sein Gesicht ist gerötet, er brüllt gegen den Lärm an: "Ruhe!"
Ihr Blick verschwimmt, sie lässt ihn vor sich auf den Tisch fallen. Auf ihre zitternden Hände. Drückt den Daumennagel unter den Nagel des Mittelfingers, bis der Schmerz die Augen trocknet. Nicht heulen. Nicht heulen. Bloß nicht heulen.
„Simon, du entschuldigst dich sofort bei Silvia!“
Sie hört keine Antwort, sieht nicht auf.
„Dann verlässt du jetzt besser das Klassenzimmer.“
Das anerkennende Gejohle der Klasse begleitet den Verwiesenen zur Tür. Letzte Stunde. Der braucht nicht wiederzukommen. Gelungene Aktion.
Der Lehrer bleibt vor der Tafel zurück. Sein bedauernder Blick in ihre Richtung tut ihr gut. Er ist dem Monster unterlegen, das ihn nun mit feindseligem Schweigen straft, aber er hat den Kampf versucht. Ihretwegen.
Trotzdem fühlt sie sich elend. Sie hebt die Hand.
„Ja, Silvia?“
„Ich müsste bitte mal raus.“ Die Stimme so brüchig. Die Worte müssen erst über die Scherben, in die ihr Ich zersprungen ist.
„In Ordnung. Geh ruhig.“ Er klingt fast erleichtert. Jetzt wird er sagen können, was in ihrer Anwesenheit nicht gut gesagt werden kann.

Der Flur ist leer. Kein Simon. Gott sei Dank. Ach, wäre ein Gott. Auf der Mädchentoilette schlüpft sie sofort in eine Kabine, klappt den Deckel herunter, setzt sich darauf. Presst das Gesicht so in die Armbeuge, dass kein Schluchzen nach außen dringen kann. Und lässt die Tränen fließen, bis der Ärmel ihres Sweatshirts durchweicht ist.
Sie zieht, um den Schein zu wahren, die Spülung. Es rauschten leis'. Die Wälder. Jetzt im Wald sein. Würziger Duft. Weicher Boden, in den der Körper einsinkt. Sein Arm unter ihrem Kopf. Seine Hand auf ihrer Brust. Sie läge ganz flach, ihr Fleisch, das ach so viele Fleisch, es wäre zwischen dem Farn und dem Moos kaum zu erkennen. Und seine Hand würde tiefer wandern. Die Beine spreizen. Das wohlige Jucken. Die Keramik kühl gegen die nun nackten Schenkel.

Der erste Ton des Schulgongs reißt sie aus ihren Träumen. So sternklar war die Nacht. Sie wischt sich die klebrige Hand am Bauch ab, zieht die Jeans hoch. Lugt durch die Tür, aber noch ist der Vorraum verwaist. Nur nicht in den Hauptflur, nicht ins Foyer, nach oben über die Nebentreppe zum Kunstraum stattdessen. Schüler strömen ihr entgegen, rempeln sie an oder weichen ihr aus. Ihre Mitschüler sind nicht dabei. Sie atmet schwer, als sie im vierten Stock inmitten der Staffeleien steht. Das Fenster weit offen. Der Raum riecht trotzdem nach Farbe, feuchtem Papier. Ein Bild an der Wand ist von ihm. Zärtlich zieht sie mit dem Finger seine Signatur nach. Und meine Seele spannte.

Da geht die Tür.
Herrn Rempers – Svens – Stimme. „Silvia?“ Eilige Schritte auf sie zu. „Was treibst du denn hier oben? Ist wieder alles in Ordnung?“
Sie schluchzt statt zu antworten. Sieht bloß noch Farbkleckse, das Rot seines Pullunders kommt näher, bis das Zopfmuster direkt vor ihren Augen verschwimmt. Sie spürt die Wolle an ihrer Wange, als zwei kräftige Arme sie plötzlich umfassen. „Na na. So böse haben sie es doch gar nicht gemeint.“
Sein Kinn liegt für einen Moment auf ihrem Scheitel. Dann lässt er sie ebenso abrupt wieder los.
Denn sie hat nach oben gefasst, sein Gesicht berührt, die Wangen mit dem Nachmittagsschatten, der unter ihren Fingern prickelt. Will den Mund küssen, aber erreicht nur das Kinn.
Sein Ausdruck verzerrt sich. Er tritt ein paar Schritte zurück. Schüttelt den Kopf. Mitleidig. Ablehnend.
Mit einem Schrei fährt sie herum, wischt die Gläser, in denen die Pinsel zum Auswaschen stehen, vom länglichen Tisch. Wieder Scherben. Alles zerbrochen. Alles zerstört.
„Silvia! Was tust du?“ Er steht vor der Tür. Versperrt den Ausgang. Hebt die Hände. Weit ihre Flügel. Das Fenster. Natürlich. Weit ihre Flügel.
„Silvia! Komm sofort da runter!“ Schritte. Glassplitter knirschen.
Aus.

Aus? Flog durch die stillen Lande, als flöge sie? Nein. Ein Griff packt, hält fest und zerrt nach unten. Zurück in die schmutzige Pfütze, in die Scherben. Ein Griff, der die Berührung scheut und doch nicht loszulassen wagt. Eine Stimme, halb streng, halb hilflos verlegen. "Komm, Silvia, lass den Blödsinn!“ Und zögernd, mehr zu sich selbst als zu ihr: „Ich bring dich jetzt wohl besser nach Hause." Nach Haus.

 

Hallo Ella Fitz,

Ungerade Anzahl Schüler, einer muss alleine sitzen, sagt die Klassenlehrerin. Neben der Fetten hat niemand Platz, sagen die anderen.
was für ein genialer Einstieg. Da hattest du mich sofort.

Nicht vor der ganzen Klasse, dem zwanzigköpfigen Monster mit den kalten Augen.
Auch ein schönes Bild. Ob die kalten Augen da passen? Eher spöttisch, fies, hinterhältig ... Kalt ist ja sehr abgebrüht. das sind die Schüler wahrscheinlich eher nicht.
Und sie traut sich nicht. Nicht einmal zu duschen.
Schön, wie du das zusammensetzt

Ein starker text, ein gelungene Zuspitzung.

Er fragt, wer aufsagen möchte. Schaut zu ihr hin.
Sie weicht dem Blick aus.
Simon meldet sich. Von vorne ein erstauntes „Simon?“
Allein diese Stelle, hier schafft du es ohne schweflige Erklärung, dass der gute Simon eindeutig nicht zu den Musterschülern gehört. Sehr gelungen
dann ihr Hilfeangebot, wunderbar, wie du hier die Hoffnung aufkeimen lässt - um sie dann plattzuwalzen.

Ich kenne nur diese Version, scheinst ja ein bisschen dran gefeilt zu haben. So finde ich das Ganze schon sehr stimmig. Der große Pluspunkt liegt für mich darin, dass sie nicht springt. Beziehungsweise, dass es ihr nicht gelingt. Das wäre dann doch zu aufgesetzt. Der Effekt ist so viel größer. Nicht einmal das ist ihr vergönnt.
Dennoch könnte man überlegen, ob es dieses reißerische Ende überhaupt braucht. Denke, das könnte auch mit leiseren Tönen enden und dabei mindestens genauso nachwirken, wenn nicht sogar mehr.

Sehr gern gelesen
grüßlichst
weltenläufer

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo weltenläufer

vielen Dank für das freundliche Lob. Tut gut.

Über die kalten vs. fiesen, spöttischen, hinterhältigen Augen habe ich nachgedacht: bei "kalt" spielt nicht nur abgebrüht, sondern auch unbeteiligt, abweisend mit hinein. Keine negative Aufmerksamkeit und Hinwendung, sondern mehr eine Ablehnung; sie erwartet zu diesem Zeitpunkt nur Desinteresse, keine offene Feindseligkeit. Simons Attacke kommt unvorbereitet. Kurzum: zurzeit gefällt mir kalt am besten.

Und ja: das reißerische Ende. Natürlich gab es auch eine frühe Fassung, wo die Geschichte mit "Aus." endet und sie wirklich springt. Es gab sogar eine Fassung, in der sie den Lehrer mit einer Glasscherbe ersticht (ok, die hat es nicht einmal in die Versionierung geschafft). Dies ist also bereits ein Kompromiss. Ob ich zu mehr in der Lage bin? Ich fürchte, da steht mir auch das Gedicht im Wege und die Tatsache, dass ich aus der Konstruktionsphase längst heraus bin. Für eine solche Umbauaktion ist die Geschichte ein bisschen zu fertig, auch wenn ich immer bass erstaunt bin, wie viele Metallspäne nach dem Feilen hier im Forum dann wieder auf dem Boden liegen. Ich werde es für künftige Projekte im Hinterkopf behalten.

Danke für deine Zeit und deine Aufmerksamkeit
Ella Fitz

 

Liebe Ella Fitz,

deine letzte Antwort hat mich schwer ins Grübeln gebracht. Ich bin froh, dass du so eindeutig Stellung bezogen hast. Deine Geschichte ist zum jetzigen Zeitpunkt fertig, du hast viele Kritikpunkte und Vorschläge geprüft und dich für diese Version entschieden. Kann gut sein, dass du viel später einmal die eine oder andere Formulierung abänderst. Vielleicht (wahrscheinlich!) freust du dich aber mit Recht darüber, dass dir vor Jahren diese schöne Geschichte gelungen ist.

Wenn ich einen Text, der so viele Kommentare bekommen hat, erst spät zur Kenntnis nehme, dann schaue ich schon mal, wie viel Energie der Autor in seinen Verbesserungen und Erklärungen investiert hat. Da muss ich doch nicht nochmals von vorne anfangen. Irgendwann bleibt einem Autor nur noch eine müde Floskel der Dankbarkeit für das generelle Interesse. Das kann doch nicht im Sinne von Autor und Leser sein.

Vielleicht stehe ich ja mit meiner Meinung allein da. Es ist halt so eine Beobachtung, gerade bei sehr gelungenen Texten, und dabei beziehe ich mich nicht auf meine.

Freundliche Grüße
wieselmaus

 

Hallo wieselmaus

Na, da hoffe ich ja mal, dass meine Antwort an weltenläufer nicht als müde Floskel rüberkommt. So war sie auf keinen Fall gemeint!

Aber ich verstehe, was du meinst: irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem weitere Änderungspläne höflich, aber bestimmt in eine fernere Zukunft verschoben werden müssen, weil für den Autor die Bearbeitungsphase abgeschlossen ist. Fürs erste. Das muss und sollte nicht nur aus Erschöpfung passieren, da sollte der Autorenwille auch schon beim ersten Kommentar der ausschlaggebende Faktor sein. Und manchmal, wie mir jüngst selbst bei "Nausikaa" passiert, kann auch ein später Vogel durchaus noch den Wurm fangen oder besser gesagt: aufzeigen.

Ich sehe Kommentieren auch nicht nur als Dienst des Lesers an den Autoren, sondern auch als Übung für den Kommentator, sich über Mechanismen in Texten klarzuwerden, seine Meinung zu Schreibstilen zu bilden, warum sollte man das nicht auch als zwanzigster Kommentator noch tun? Weil dann die Chancen sinken, dass die Verbesserungsvorschläge umgesetzt werden? Die sind manchmal auch für den ersten Kommentator nicht sonderlich hoch. :D

Diese Geschichte wurde bereits vor Monaten geschrieben und war also "fertig", als ich sie hier eingestellt habe. Da ist meine Bereitwilligkeit zu größeren Umbauten natürlich geringer als bei jemandem, der schon hochlädt, wenn das Festplattenlaufwerk sich noch vom letzten Speichervorgang dreht. Aber die Auseinandersetzung mit dem Text ist ja nicht nur für den vorliegenden spannend und wichtig, sondern auch und gerade für die kommenden. Und selbst wenn ich Konzeptionsentscheidungen für diese Geschichte nicht mehr umwerfe, Anregungen, wie gute Geschichten konzipiert sein sollten, will ich für die nächsten Projekte gerne mitnehmen, und habe sie auch noch bitter nötig.

Aber die Entscheidung, lieber Texte mit noch wenigen Kommentaren kommentieren zu wollen, ist sicher keine falsche. Mach ich ja selbst auch so. Weil es ja auch schön ist, wenn alle ungefähr gleich viel Aufmerksamkeit bekommen.

In diesem Sinne vielen Dank für die deine
Ella Fitz

 

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