- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Monster
Jedes Mal, wenn ich am frühen Nachmittag nach Hause kam und meine Mutter mich fröhlich fragte, wie denn die Schule gewesen sei, musste ich sie anlügen.
Fröhlich erzählte ich ihr von meinen neuen Freunden, davon, wie lustig es in der Klasse sei und was wir im Unterricht durchgenommen hatten. Ich schwärmte ihr vor, wie gut aussehend und nett die Jungs in meiner Klasse waren.
Doch wenn ich dann wieder in mein Zimmer ging, um meine Hausaufgaben zu machen, stiegen mir die Tränen der Einsamkeit in die Augen und in mein Hals breitete sich ein dicker Klos von Kummer aus, der wucherte und immer größer wurde wie ein Geschwür. Wenn ich dann an meine Klassenkameraden dachte, tauchten vor meinen inneren Augen Bilder von Ungeheuern auf. Es waren Ungeheuer mit riesigen, klauenähnlichen Händen, mit dünnen Haaren, die auf ihren viel zu großen Kopf wirkten wie ein alter Wischmopp. Ihre Haut war aschfahl und die Augen groß und klar. Ihre Mäuler waren voller blanker Zähne, die im Licht funkelten, wenn sie sie zeigten. Das Klassenzimmer war wie ein Tierkäfig voller Monster, denen man hilflos ausgeliefert war. Besonders schlimm war es, wenn die Lehrerin fort war, denn dann gerieten diese Tiere in wilder Raserei. Da ich anders war als sie, anders aussah und mich anders benahm, anders dachte, war ich ihr Opfer. Ihre Worte taten mir nicht mehr weh, ich hatte mich daran schon fast gewöhnt, aber am schlimmsten waren die Schläge und Tritte, die sie mir so zufügten, dass man sie später nicht sehen konnte.
Als es an der Tür klopfte, zuckte ich zusammen. Es war meine Mutter, die sagte, dass sie zu Kerstin fahren wollte, ihrer Freundin, um ein Kaffeeklatsch zu veranstalten. Schnell wischte ich meine Tränen mit den Handrücken weg und wünschte ihr viel Spaß, doch offenbar war meine Geste zu offensichtlich.
Erschrocken fragte sie mich, was los sei, ich wäre doch eben noch so fröhlich gewesen.
heulend fiel ich ihr in die Arme und sie versuchte mich zu trösten, während ich ihr erzählte, wie es mir wirklich in der Schule erging. Ich erzählte ihr von der Ignoranz der anderen Schüler, von den Beleidigungen und Demütigungen die ich jeden Tag aufs neue erfahren musste. Die Schläge, die Tritte, die sie mir auf den Schulhof gaben.
Meine Mutter war entsetzt und ein wenig enttäuscht, da ich ihr meine Sorgen nicht anvertraut hatte. Sie versprach mir, dagegen etwas zu unternehmen.
Dies geschah auch. Als die Halbjahreszeugnisse verteilt wurden, gab mein Klassenlehrer bekannt, dass ich fortan auf einer anderen Schule gehen werde. Ich konnte in den Augen meiner Mitzschüler lesen, dass sie genau wussten, warum. In manchen las ich Triumpf, in anderen Mitleid oder Scham.
Doch lange wollte ich mir sie nicht mehr ansehen, denn gleich würde die Glocke zum Schulschluss leuten, die mir ein neuen Lebensabschnitt versprach.