Was ist neu

Morgengrau

Mitglied
Beitritt
01.05.2007
Beiträge
31

Morgengrau

Morgengrau

Starre Gesichter. Stumpfe Blicke.
Alle tragen sie einen grauen Hut und einen grauen Anzug, die Aktentasche steif in der linken Hand. Unaufhaltsam strömen die Menschen durch die Straßen der Stadt. Qualmende Fahrzeuge schleppen sich über den erhitzten Asphalt.
Unsichtbare Strömungen spülen manche der Menschen in quadratische Gebäude, die hoch in den Himmel ragen und ihn in unendliche Ferne rücken.
In den Köpfen der Männer drehen sich gut geölte Zahnräder, ein präzises Uhrwerk an Gedanken.
„Arbeiten, arbeiten, arbeiten!“ Dumpf bestimmt die Monotonie den Alltag.
Kein Jubel, nie Freude. Nur eine Notiz auf einem Zettel, eine Zahl auf einem Bildschirm.
Kein Zorn, keine Trauer. Keine Worte, denn Worte bedeuten Reden und Reden bedeutet Zeitverschwendung. Denken aber nicht. Denken, immerzu denken, denken die grauen Männer und denken.
Die Menschenmasse wälzt sich weiter, andere Quadrate werden umspült.
„Gehen, gehen, gehen!“
„Denken, denken, denken!“
„Arbeiten, arbeiten, arbeiten!“
Unaufhaltsam sind die grauen Männer. Ihre gut geölten Gedanken sind wie Diamanten, massiv und unzerstörbar. Die Beine der Männer sind die Pendel dieses Uhrwerks, dieser apodiktischen Maschine. Linker Fuß, rechter Fuß, linker Fuß, rechter Fuß…
Grau, die Farbe ohne Leben. Graue Mäntel, graue Hüte, graue Gesichter, alles wird eins und nichts scheint mehr eine Bedeutung zu haben.
„Gehen, denken, arbeiten…!“
Alle Zahnräder laufen absolut synchron.
Mitten in dieser Einsamkeit der Menge steht ein Clown, sein buntes, grelles Kostüm raschelt, während er den Menschen nachsieht, sein Gesicht unter der leuchtenden Schminke lächelt, in seiner Hand hält er eine Traube von Luftballons. Er zählt die Menschen.
123, 124, 125…
Unverändert wartet der Clown, die Menschen und die Zeit ziehen an ihm vorbei und lassen ihn trotz der Farben älter und grauer erscheinen…
664, 665, 666, 667…
Der Clown schaut auf. 667 ist stehen geblieben. Einen Augenblick lang stockt der Fluss der Masse wie eine Ameisenstraße, die durch ein Blatt blockiert wird. Nur für einen Bruchteil einer Sekunden, nur bis die Menschen weiter gedrückt werden, wie Wellen schwappen sie um 667 herum, lassen dem Uhrwerk keine Zeit zu rosten.
Das Lächeln des Clowns wird ein wenig breiter, er gewinnt an neuer Farbe.
„Komm her“, sagt er.
667 rührt sich nicht, keinen Zentimeter. Äußerlich ist er kaum von den anderen zu unterscheiden. Grauer Hut, grauer Mantel, lederne Aktentasche in der Linken. Vielleicht ist sein Kinn etwas schmaler und sein Blick nicht ganz so ausdruckslos. Im Inneren jedoch ist das Uhrwerk stehen geblieben, war über Jahre eingerostet, stand plötzlich still und führte dazu, dass 667 den Clown sah.
Doch er sagt nichts. Sprechen hatte er nie gelernt.
„Denken, denken, denken!“, denkt die grauen Masse um ihn herum.
Der Clown streckt ihm die Hand einladend entgegen. Dann setzt 667 doch einen Fuß vor den anderen und bewegt sich auf ihn zu.
„Ich wusste es doch. Es fällt immer wieder jemand hier aus der Rolle, nicht wahr?“
Milde lächelnd schaut der Clown hoch zu den Luftballons in seiner Hand.
„Welche Farbe hättest du denn gerne?“
667 folgt dem Blick des Clowns und sieht die Ballons über sich schweben. Er kennt die Farben nicht. ‚Grau’, denkt er.
„Ja, das habe ich mir schon gedacht. Na ja, komm, nimm diesen hier.“
Vorsichtig fädelt er einen leuchtend grünen Ballon von seiner Hand und hält ihn 667 hin. Lange sieht der den Clown an, ratlos, irritiert und dennoch berührt durch die fremden Eindrücke. Letztendlich nimmt er die Ballonschnur entgegen.
„Dann gute Reise“, wünscht der Clown, noch immer voller Güte, „und nicht los lassen“, zwinkert er.
Und als 667 dann seine Tasche fallen lässt, schwebt er nach oben, die Hand fest um die Schnur des grünen Ballons. Er fliegt so hoch, dass die Männer in den Straßen nun wirklich zu einer einzigen grauen Masse verschmelzen, in der der Einzelmensch nicht mehr zu erkennen ist. Nur den Clown, in seinem bunten Kostüm stärker strahlend als zu Beginn des Tages, erkennt man als Individuum.
Und letztlich schwebt 667 so hoch, dass er die Dächer der quadratischen Wolkenkratzer unter sich zurück lässt und zum ersten Mal in die Ferne schauen kann, zu den Hügeln, die die gleiche Farbe haben wie sein Luftballon.
Alles, was bleibt, ist ein grauer Hut, der vom obersten Stockwerk hinunter in die Stadt fällt, wo er von der Masse ungesehen zertrampelt wird…

 

Ich habe beim Lesen die Schritte der grauen Männer gehört. Deine kleine Geschichte hat mir gut gefallen.

 

nabend schön, wahrscheinlich bin ich nicht der einzige, dem sich der vergleich mit den grauen männern aus momo aufdrängt, aber der clown als symbol des chaos und der farbigkeit gibt der kleinen geschichte noch eine andere nuance. jemand, der inmitten der grauen massen steht und auf solche wartet, die aus der rolle fallen. ein wissender, der sich nicht aus der ruhe bringen lässt, ein versucher im auftrag der menschlichkeit.

also thematisch sehr ansprechend, wie ich finde. deine treffende und bildhafte sprache lässt sich gut lesen...

einzig das apodiktisch stört mich, an seiner stelle wünschte ich etwas leichtgängigeres, verständlicheres.

viele grüße

kubus

 

Danke für eure Kommentare. Und schön, dass euch die Geschichte angesprochen hat.

@Kubus: Das Wort apodiktisch ist bewusst dort eingesetzt. Ich fand, dass sein harter Klang gepasst hat, zu der rauen, kalten Stimmung, die an dieser Stelle des Textes herrscht. Ich kann aber verstehen, wenn der eine oder andere mit diesem Wort Probleme hat. :)
Stattdessen hätte ich auch schreiben können: "dieser unveränderlichen Maschine" oder "dieser unwiderlegbaren Maschine". Aber das hätte meiner Meinung nach den Rythmus und den Klang des Textes dort kaputt gemacht. Es sollte abgehackt und mechanisch klingen.

Und zusätzlich muss ich noch sagen: Mich hat schon mal jemand darauf hingewiesen, dass ihn die grauen Männer an Momo erinnern. Ich habe dieses Buch allerdings nie gelesen :)

Gruß, Fio

 
Zuletzt bearbeitet:

Guten Tag, KleeneFio,

Deine Geschichte ist gut geschrieben, gut zu lesen und voller starker Bilder und Symbole.
Hinter unmißverständlicher Symbolik und enorm klarer Aussage können sich Logikfehler am besten verstecken. Der Leser weiß, was gemeint ist, allgemeines Verständnis kommt aus dem Rückenmark, nur manchmal kommt eine Zicke daher und mault, auch auf der Metaebene gelte Rechts-vor-Links.
Diese Männer. Es sind Menschen, das steht am Anfang. Dann erfahre ich, es sind nur Männer. Sie haben Zahnräder im Kopf, okay, denke ich, das ist natürlich eine Metapher, doch mich stört gewaltig, daß das Gehirn dieser Menschen einerseits mit einer guten Maschinerie verglichen wird, andererseits aber etwas so Überflüssiges denkt wie "denken, denken, denken" - wurde nicht erwähnt, daß Verschwendung vermieden wird? Gut, also noch mehr Metapher vielleicht, denken statt reden oder fühlen, denken statt innehalten, meinetwegen Hauptsache irgendwas statt nichts, aber dann kommt die Sache mit der Arbeit. Arbeiten denken sie ja auch! Und wirklich denken können sie nicht. Könnten sie so arbeiten? Da wird es schon sehr verwickelt, denn Arbeit ist nicht gleich Arbeit, diese Männermenschenmaschinen müssen wohl fähig zu verschiedenster Arbeit sein, die, egal wie stumpfsinnig, mehr Denken erfordert als das. Unter so vielen arbeitenden Geschöpfen müßten doch etliche zumindest die Farben kennen, selbst Aktentaschenmenschen müssen die verschiedenfarbigen Formulare ... aber was red ich. Ist ja alles nur Metapher! Bei mir klappt es aber wegen solcher Kleinigkeiten nicht. Man kann praktisch das Ganze in die Hand nehmen, lange darauf starren und seufzen: "... so auch der Mensch!", aber die Einzelteile sind extrem unstimmig.

Der Clown, auch so ein Übersymbol, kam mir vor wie ein sadistischer Fiesling, der aus unbekannten, aber auf jeden Fall niederen Motiven mit dem bewußtlosen Menschenmaterial ein grausames Spielchen treibt. Er lauert darauf, daß jemand aus der Rolle fällt, also seinen Halt im Gefüge verliert, und gibt ihm dann einen Ballon, der ihn fortträgt, völlig allein, ohne Wissen und Möglichkeiten, in eine Pseudofreiheit. Der graue Mann kann weder fliegen noch landen. Der Clown fliegt nicht mit. Das ist keine Rettung, kein Augenöffner, kein Zeichen und keine Chance, es ist, als schütte man einem eben Erwachten Drogen ins Müsli, um dann fortzugehen, oder schreie einen Hund an, er solle Eier legen. Was soll passieren? Der graue Mann am grünen Ballon wird die Hügel sehen und denken: Grau. Oder er wird denken: ?
Und irgendwann wird er abstürzen und sterben wie sein Hut. Oder langsam zu Boden sinken und anderswie verlorengehen.

Vielleicht wolltest Du das ja so verstanden haben. Es existiert die Möglichkeit, daß ich die ganze Zeit an Deiner Geschichte vorbeidenke. Mir scheint aber, da sollte jemand gerettet werden, emporgehoben, zurückgeführt zu einer reicheren Natur, wiedervereinigt mit seinen verlorenen Sinnen, mit Hilfe eines anderen, eines gütigen, wissenden Geschöpfes von außerhalb, das den richtigen Blick hatte und den richtigen Moment erkannte. Das ist das Ganze, das, was aus den unlogischen Details wird, wenn ich sie mit meiner Symbol- und Leseerfahrung kompensiere, aber nicht das, was in Deiner Geschichte steht.

Ich hoffe, Du kannst mit dieser Kritik etwas anfangen.

Freundliche Grüße und einen schönen Montag,
Makita.

 

Sehr geehrte Makita,

huihuihui, was aus meiner Geschichte so alles werden kann, wenn man sie aus einer anderen Sicht betrachtet :)

Ich möchte nicht auf jeden deiner Punkte im Einzelnen eingehen. Ich versuche, dir einen Überblick zu geben, was ich mir bei der Geschichte gedacht habe...vielleicht klärt es einige deiner Frage, vielleicht wirft es neue auf. Ich sage hier nur, dass ich deine Interpretation nicht falsch finde (geht sowas überhaupt?), nur ich habe es so nicht gemeint :).

Natürlich steckt dieser Text voller Methaphern. Die grauen Männer stehen für Eintönigkeit, Einsamkeit trotz Masse. Es ist eine überspitzte Darstellung der heutigen Arbeitswelt, der Denkweise manch eines arbeitssüchtigen Menschen, der seine Emotionen beinahe ausgeschaltet hat und der stattdessen alles in Zahlen und Kodierungen ausdrückt.
Du hast kritisiert, dass diese Männer nicht mehr dazu fähig sind, richtig zu arbeiten. Nirgendwo wird beschrieben, was sie arbeiten, alles sind Andeutungen. Ich wollte ausdrücken, dass alles automatisiert ist, die wahre Arbeit, die irgendwannn einmal gemacht worden ist, gibt es nicht mehr. Diese Männer tun nichts mehr. Sie bewegen sich nur noch, sie denken nur noch, was auch den kompletten Abbruch zwischenmenschlicher Konversation bedeutet. Jeder dort ist die gleiche Maschine, die für sich alleine funktioniert, aber einer Aufgabe nachgeht, die es nicht mehr gibt. Das Denken, Arbeiten und Gehen ist nur das, was vom Menschen übrig geblieben ist.

Das sich wiederholende *Denken, denken, denken* hat nichts mit überflüssigen Gedanken zun tun. Es soll wie das Rattern von Zahnrädern sein. Außderdem ist es der einzige Inhalt, den die Männer noch haben, es ist das, was ihr Dasein (ich sage hier bewusst nicht *Leben*) bestimmt, das, was nach der Verwandlung von Mensch in Maschine geblieben ist.

Die Maschine wird meines Erachtens nur als *gut geölt* beschrieben, nicht als *gut*. Sie ist nahezu perfekt, apodiktisch scheint es, unumstößlich, entgültig.

Der Clown ist hier hier nicht der *sadistische Fiesling*, um Gottes Willen :) (Auch wenn ich seit ES ein wenig Angst vor Clowns habe...).
Der Clown stellt hier die letzte Bastion der Hoffnung dar. Er kommt von außen, er ist anders. Man merkt es sofort an der Satzstruktur. Vorher parataktisch, kurzatmig, abgehackt. Hier nun hypotaktisch, weicher, ausklingend. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, denen, die aus der Rolle fallen, beizustehen, ihnen zur Flucht zu verhelfen. Allerdings wirkt er nicht aktiv daran mit, dass die Maschinen in den Köpfen der Männer rosten oder andersweitig zerstört werden. Für aktive Hilfe ist es in dieser Utopie bereits zu spät.
Nun, wirst du sagen, aber ist das, was er macht, nicht auch mechanisch, immer das Gleiche? Natürlich, ich erwähne ja, dass er älter und grauer wirkt. Er kann sich nicht dagegen wehren, dass er, je länger er wartet, auch zur automatisierten Figur wird. Erst die Veränderung, das aus der Rolle fallen des Einen, verändert das. Er gewinnt an Farbe.

Sicher hast du mit einem Recht: Es ist hart für die Maschine plötzlich aus seiner gewohnten Umgebung gerissen zu werden. Ich beschreibe auch, dass all die Eindrücke ihn verwirren, weil er nichts damit anfangen kann. Aber dennoch gibt es Hoffnung. Er wird lernen, sich wieder zu erinnern, an das, was er mal gewesen ist, ein Mensch, mit Emotionen, mit Fehlern. Ein kleiner Hinweis ist, dass er erkennt, dass die Farbe des Luftballons der der Hügel gleicht. Es ist ein Hoffnungsschimmer, ein kleines Licht.

Was mit 667 geschehen wird, bleibt offen. Es ist nur ein kleiner Trost, nur eine eventuell gerettete Person. Ich habe bewusst kein Friede-Freude-Eierkuchen-Ende geschrieben. Denn das gibt es noch nicht.
Dass Einer verschwindet bleibt unbemerkt, zu gering ist der Einfluss einer einzelnen, kleinen, unbedeutenden Maschine, die sowieso keinen Zweck mehr nachging.
Auch die Frage, ob es dort draußen, hinter den Hügeln, normale Menschen gibt, ist ungeklärt.
Und auch der Clown...ist er ein Mensch? Oder steht er stellvertretend für etwas Anderes? Für Emotionen, für Menschlichkeit? Das sind Dinge, die selbst mir verschlossen bleiben, weil sie sich automatisch ergeben haben. Hätte ich beschrieben, dass 667 bei glücklichen Menschen gelandet wäre und sprechen gelernt hätte...was wäre dass dann für eine Geschichte gewesen? Ich bin niemand, der etwas *gut schreiben will*. Es endet so, wie es muss, nämlich im Prinzip noch gar nicht ;)

Ich hoffe, ich konnte einige deiner Fragen beantworten, bzw. ein paar Dinge von mir aus richtig stellen oder deiner Interpretation entgegensetzen:)

Mit freundlichen Grüßen
Fio

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom