Morgengrau
Morgengrau
Starre Gesichter. Stumpfe Blicke.
Alle tragen sie einen grauen Hut und einen grauen Anzug, die Aktentasche steif in der linken Hand. Unaufhaltsam strömen die Menschen durch die Straßen der Stadt. Qualmende Fahrzeuge schleppen sich über den erhitzten Asphalt.
Unsichtbare Strömungen spülen manche der Menschen in quadratische Gebäude, die hoch in den Himmel ragen und ihn in unendliche Ferne rücken.
In den Köpfen der Männer drehen sich gut geölte Zahnräder, ein präzises Uhrwerk an Gedanken.
„Arbeiten, arbeiten, arbeiten!“ Dumpf bestimmt die Monotonie den Alltag.
Kein Jubel, nie Freude. Nur eine Notiz auf einem Zettel, eine Zahl auf einem Bildschirm.
Kein Zorn, keine Trauer. Keine Worte, denn Worte bedeuten Reden und Reden bedeutet Zeitverschwendung. Denken aber nicht. Denken, immerzu denken, denken die grauen Männer und denken.
Die Menschenmasse wälzt sich weiter, andere Quadrate werden umspült.
„Gehen, gehen, gehen!“
„Denken, denken, denken!“
„Arbeiten, arbeiten, arbeiten!“
Unaufhaltsam sind die grauen Männer. Ihre gut geölten Gedanken sind wie Diamanten, massiv und unzerstörbar. Die Beine der Männer sind die Pendel dieses Uhrwerks, dieser apodiktischen Maschine. Linker Fuß, rechter Fuß, linker Fuß, rechter Fuß…
Grau, die Farbe ohne Leben. Graue Mäntel, graue Hüte, graue Gesichter, alles wird eins und nichts scheint mehr eine Bedeutung zu haben.
„Gehen, denken, arbeiten…!“
Alle Zahnräder laufen absolut synchron.
Mitten in dieser Einsamkeit der Menge steht ein Clown, sein buntes, grelles Kostüm raschelt, während er den Menschen nachsieht, sein Gesicht unter der leuchtenden Schminke lächelt, in seiner Hand hält er eine Traube von Luftballons. Er zählt die Menschen.
123, 124, 125…
Unverändert wartet der Clown, die Menschen und die Zeit ziehen an ihm vorbei und lassen ihn trotz der Farben älter und grauer erscheinen…
664, 665, 666, 667…
Der Clown schaut auf. 667 ist stehen geblieben. Einen Augenblick lang stockt der Fluss der Masse wie eine Ameisenstraße, die durch ein Blatt blockiert wird. Nur für einen Bruchteil einer Sekunden, nur bis die Menschen weiter gedrückt werden, wie Wellen schwappen sie um 667 herum, lassen dem Uhrwerk keine Zeit zu rosten.
Das Lächeln des Clowns wird ein wenig breiter, er gewinnt an neuer Farbe.
„Komm her“, sagt er.
667 rührt sich nicht, keinen Zentimeter. Äußerlich ist er kaum von den anderen zu unterscheiden. Grauer Hut, grauer Mantel, lederne Aktentasche in der Linken. Vielleicht ist sein Kinn etwas schmaler und sein Blick nicht ganz so ausdruckslos. Im Inneren jedoch ist das Uhrwerk stehen geblieben, war über Jahre eingerostet, stand plötzlich still und führte dazu, dass 667 den Clown sah.
Doch er sagt nichts. Sprechen hatte er nie gelernt.
„Denken, denken, denken!“, denkt die grauen Masse um ihn herum.
Der Clown streckt ihm die Hand einladend entgegen. Dann setzt 667 doch einen Fuß vor den anderen und bewegt sich auf ihn zu.
„Ich wusste es doch. Es fällt immer wieder jemand hier aus der Rolle, nicht wahr?“
Milde lächelnd schaut der Clown hoch zu den Luftballons in seiner Hand.
„Welche Farbe hättest du denn gerne?“
667 folgt dem Blick des Clowns und sieht die Ballons über sich schweben. Er kennt die Farben nicht. ‚Grau’, denkt er.
„Ja, das habe ich mir schon gedacht. Na ja, komm, nimm diesen hier.“
Vorsichtig fädelt er einen leuchtend grünen Ballon von seiner Hand und hält ihn 667 hin. Lange sieht der den Clown an, ratlos, irritiert und dennoch berührt durch die fremden Eindrücke. Letztendlich nimmt er die Ballonschnur entgegen.
„Dann gute Reise“, wünscht der Clown, noch immer voller Güte, „und nicht los lassen“, zwinkert er.
Und als 667 dann seine Tasche fallen lässt, schwebt er nach oben, die Hand fest um die Schnur des grünen Ballons. Er fliegt so hoch, dass die Männer in den Straßen nun wirklich zu einer einzigen grauen Masse verschmelzen, in der der Einzelmensch nicht mehr zu erkennen ist. Nur den Clown, in seinem bunten Kostüm stärker strahlend als zu Beginn des Tages, erkennt man als Individuum.
Und letztlich schwebt 667 so hoch, dass er die Dächer der quadratischen Wolkenkratzer unter sich zurück lässt und zum ersten Mal in die Ferne schauen kann, zu den Hügeln, die die gleiche Farbe haben wie sein Luftballon.
Alles, was bleibt, ist ein grauer Hut, der vom obersten Stockwerk hinunter in die Stadt fällt, wo er von der Masse ungesehen zertrampelt wird…