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Morgens
Als B zur Arbeit ging rumorte es in seinem Kopf. Er wollte dort nicht hin, aber das lag nicht mehr in seiner Hand, seit seine Freundin ihm erzählt hatte, dass sie schwanger war. Jetzt ging es nicht mehr nur um ihn. B hatte jetzt verantwortungsbewusst zu handeln und zu tun, was sie alle taten. Es spielte keine Rolle mehr, ob der Job ihm den letzten Funken Verstand zerbröselte. Er hatte froh zu sein, dass er die Arbeit machen durfte und zum Monatsende dankbar zum Bankautomaten zu krauchen um sich einen kurzen Augenblick an den Scheinchen zu erfreuen, die er dann pflichtbewusst zuhause abzugeben hatte.
Schließlich wollten Frau und Kind versorgt sein. „Einem Mann mit Familie gehört nicht viel mehr als das, was er am Leibe trägt.“, hatte sein toter Vater einst gesagt. B nutzte jede Gelegenheit um irgendwo stehen zu bleiben und sich eine Zigarette anzustecken, einfach zur Ruhe zu kommen, die Welt vorüberziehen zu lassen und ihr friedlichen, blauen Qualm hinterher zu blasen. Das war sein kleines Paradies, das krebserregende Paradies aus der Pappschachtel. Wenn sie auch alles von ihm nahmen, wenn seine Familie ihn an die Tretmühle verkaufte und die Tretmühle ihn abends ausgelutscht zur Wiederherstellung zurück schickte, wenn sie ihn auch wie einen Maulesel mit Füßen traten und vor ihre Karren spannten, das konnten sie ihm nicht nehmen. Das Recht sich zu Schanden zu rauchen hatte er sich erhalten und er machte lebhaften Gebrauch davon.
Wie sie vorbeiwackelten, all die schmalen und breiten und straffen und wabbelnden Ärsche. Es lag so viel Pflichtbewusstsein und Freudlosigkeit in ihrem Geschlenker. Jeder dieser Arschträger tat, was er tun musste. Wer tat überhaupt noch, was er tun wollte?
„Menschen tun, was sie tun möchten, bis man von ihnen verlangt, dass sie sich „verantwortungsbewusst“ verhalten. Wenn sie anfangen sich zu verbiegen und anzupassen und sich den Zielen anderer unterordnen, wenn sie aufhören für sich zu leben, beginnen ihre Züge langsam aber sicher zu versteinern. Anfangs kämpfen sie noch dagegen an und gewinnen diesem oder jenem noch ein leises Lächeln ab. Früher oder später aber versinkt alles in einheitlichem, pflichtbewusstem grau.
Sicher gibt es auch viele, die das nicht hinnehmen wollen. Sie kämpfen dagegen an und werden kirre im Kopf um sich dann den Rest ihres Lebens von drallen Pflegerinnen mit ausdruckslosen Gesichtern durch die Gegend schieben zu lassen. Oder sie kapitulieren und sparen sich die Mühe. In diesem Fall landen sie früher oder später mutterseelenallein unter Brücken und in Kanälen und lassen sich von kleinen Jungs angaffen, die in den schicken Schlitten ihrer pflichtbewussten Eltern vorbeifahren, die Türknöpfe heruntergedrückt und mit Bleifuss.“, er blies eine blaue Wolke in die kalte Morgenluft.
„Haste mal ne Fluppe“ eine graue, abgewrackte Gestalt stand plötzlich vor ihm. Ein paar struppige Fäden Haar wehten unter seinem löchrigen Hut hervor, an der Jacke fehlten die Ärmel und das Flanellhemd hatte er sich offensichtlich in fetteren Zeiten zugelegt. Wortlos griff B in seine Tasche, zog sein geschachteltes Paradies hervor und schnippte dem Penner eine raus. Ein angenehmer Zeitgenosse, verstand sofort, dass Gesülze hier nicht erwünscht war, hielt den Mund, nahm sich die Zigarette und wandte sich zum gehen. B überlegte noch, ob er ihn in ein kurzes Gespräch verwickeln sollte. Nicht aus Anstand oder Höflichkeit, sondern aus Neugier. Vielleicht erhoffte er sich auch nur etwas zusätzliche Motivation, ein weiteres Argument zur Arbeit zu gehen.
„Die meisten von uns sehen sich gern Penner an, sie machen, daß wir uns besser fühlen. Die warme Heizung zuhause wirkt noch etwas wärmer, die Couch bequemer, die Frau schöner und die Suppe genießbarer. Es schläft sich einfach besser, wenn man weiß, dass die Penner draußen frieren, dafür ein Dankeschön an euch Vagabunden und gestrandete.“, am letzten Zug verbrannte er sich ein wenig die Lippen.
Er trat seine Kippe aus und ging zurück in den U-Bahnhof. Die Uhr zeigte die selbe Zeit wie jeden Morgen, der Zeitungsverkäufer stand mit dem selben Grinsen am selben Fleck wie jeden Morgen und er glaubte sogar, die selben Menschen vorübergehen zu sehen, wie jeden Morgen. Diese Trostlosigkeit, diese elende Monotonie. Er schlenderte hinunter zur Bahn und alles in ihm sträubte sich gegen dieses Leben. Er ging immer bis zum letzen Wagen, weil der um diese Zeit meistens leer fuhr. Nicht an diesem Morgen. „Los Kinder, wir gehen ganz nach hinten“, zwitscherte eine rosige Dame und ein fiependes, gackerndes Meer von kleinen Wollmützen, Kapuzen und Schirmkappen schwappte schnurstracks in seinen Waggon, seine Oase der Ruhe vor dem Sturm, vor dem Terror des Angestelltendaseins. Sie hatten keine Ahnung mit all ihrem Grinsen und Kichern und Strahlen. Wenn sie wüssten welch ein Sumpf sie erwartet, sie wären genauso still und verstockt und würden genau so irre dreinblickend in der Ecke stehen wie die, die das Leben bereits eingeholt hat, wie er.
„Es sind ja nur 2 Stationen“, dachte er sich und fummelte sich den dicken Schal vors Gesicht. Am liebsten hätte er ihn sich bis über die Augen geschoben. „Augen sind ein Fluch, dieses ewige sehen und gesehen werden. Blicke sind Gift, Säure, die sie in deine Richtung spritzen.“, hämmerte es in seinem Kopf und ständig dieses: „Wozu das alles? Wofür tu ich mir das an? Wird es je besser? Wird es je anders werden, lebenswerter, bunter oder fröhlicher?“ Alles widerte ihn an. Der wohlwollende, triefige Gesichtsausdruck der rosigen Dame, das lebensfrohe Getue der Kinder und die ganze Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens Leben.
„Nächster Halt: Kurfürstenstraße“, es war zehn Minuten nach acht und wie jeden Morgen hatte er noch eine Station zu fahren. Wie jeden Morgen würde er dort über die Treppen an die Oberfläche steigen, sich eine letzte Zigarette anstecken und gegen den Drang kämpfen es aufzugeben und einfach allem den Rücken zu kehren. So verlockend der Gedanke, sie mit all ihren Pflichten und Überwindungen und ihrer Vernunft im Stich zu lassen. Er wünschte sich, die Bahn würde irgendeinen armen Teufel überrollen und dann Stunden im Tunnel feststecken. Bange Stunden, eingesperrt mit einer Horde Kinder. Der Gedanke schien ihm geradezu paradiesisch im Vergleich zu diesem Höllenvorhof, diesem Arbeitsplatz, dieser Küche.
Es fand sich niemand zum Überrollen und auch sonst wollte sich keine Verzögerung der Fahrt einstellen. Gleich würde er dort sein, das Denken abschalten und wie jeden Morgen funktionieren. Funktionieren, um Frau und Kind durchzubringen, um verantwortungsbewusst zu handeln, um zu tun, was sie alle überall auf der Welt tun. Er stemmte sich aus seiner Ecke und ging zur Tür. „Netter Hintern, und wie er damit schlenkert“, sagte die rosige Dame zu ihrer Kollegin.
„Nächster Halt: Uhlandstraße“