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Morgenstund' hat ...
Das Telefon musste mehrmals klingeln, bevor Walter erwachte und es in der Dunkelheit fand. Deshalb fielen auch erst noch diverse Gegenstände zu Boden, bis er sich melden konnte. „Ja ... am Apparat ... tot? .... ja....Fünfzehn Minuten. Danke.“
Walter ließ sich erst noch zurück fallen, bevor er sich mit einem Seufzer vorsichtig aufsetzte, die Beine über die Bettkante hängen und seine Füße langsam über den Boden wandern ließ, bis sie seine Pistole wieder gefunden hatten. Das mit den Augenöffnen musste noch warten, dafür war es gestern einfach zu viel gewesen.
Zum Glück war Gabrielle auf dem alle sechs Wochen stattfindenden Weiberwochenende - sie wäre ausgeflippt, hätte sie die Pistole auf dem Nachtisch gesehen, ausgerastet, als sie zu Boden fiel. Walter hatte seit seiner Zeit in der Polizeischule seine Pistole auf dem Nachtisch liegen. Sein Ausbilder hatte ihm während einer Sauftour erklärt, dass dies alle Bullen täten, die Karriere machen wollten: Karrierebullen haben einfach zu viele Feinde und im Schlaf sind sie am wehrlosesten. Walter fand später raus, dass das mit den Feinden zwar stimmte, aber dass nicht der Schlaf den Mann am wehrlosesten macht – die Liebe tut dies. Seit er mit Gabrielle zusammen war, war seine Achtunddreissiger nicht mehr auf dem Nachttisch, keine Zeitung mehr auf dem Klo und er trank teuren Wein statt Bier zum Abendessen. Vermutlich hatte er deshalb gestern den Besuch in diversen Kneipen nicht so gut verarbeitet. Wenn er ehrlich war, wusste er nicht mehr, wie er nach Hause gekommen war. Auch deshalb war es gut, dass Gabrielle nicht da war – es hätte nicht erst die Pistole auf dem Nachtisch gebraucht, um ihre zurzeit ohnehin mehr lautstarke als starke Beziehung in einen neuen Krach zu führen. Dass es mangels Heiratsurkunde kein wirklicher Ehekrach, sondern nur ein Beziehungsstreit war, machte es weder besser noch leiser.
Diese Überlegung verdrängte er lieber, während er sich anzog und seine Pistole wie immer im Halfter unter dem linken Arm verstaute. Hätten ihn seine Kollegen gestern so besoffen, wie er offensichtlich gewesen war, am Steuer erwischt – das Disziplinarverfahren hätte ihn seinen Job kosten können. Auch diesen Gedanken wollte er durch neue gewaltsam zur Seite schieben. Er überlegte krampfhaft, woher ihm die Wielandallee so bekannt vorkam, die ihm die Einsatzzentrale am Telefon durchgegeben hatte. Hotel am Park – Michaeliburgstraße Höhe Wielandallee.
Wielandallee– genau! Er hatte gestern Abend eine Zielperson observiert, die sich in der Kneipe am Michaelibad mit einem unbekannten Mann getroffen hatte. Das war Wielandallee! Er war ganz in der Nähe des Tatorts gewesen. Zufälle gab es, das war schon unglaublich. Walter hätte gerne den Kopf geschüttelt, aber der Kater, den er schon spüren könnte, verbat dies. Er nahm auf dem Weg in die Garage sein Frühstück zu sich: den Rest alter Cola, die er noch gefunden hatte, und jede Menge Fischermans – viel hilft viel.
Walter stieg in seinen Dienst-BMW und betete, dass sich seine Blutalkoholwerte soweit verbessert hatten, dass er fahren durfte. Er wusste, dass sein Gebet unrealistisch war, aber welches Gebet war das nicht? Unterwegs konnte er befriedigt feststellen, dass zumindest ein Teil seiner Gebete erhört worden waren: die Straßen waren morgens um halb sieben noch leer – er fand seinen Weg, ohne Aufsehen zu erregen.
Vor dem Hotel standen mehrere Streifenwagen und zwei Leichenwagen. Die Ambulanzen waren schon wieder weg. Ambulanzen durften keine Toten transportieren; sie musste also auch nicht warten. Wenn die Leichenwagen noch da waren, waren die Leichen noch im Hotel – gut. Sein Ausbilder mit dem Pistolenfimmel hatte ihm auch beigebracht, dass die eigenen Augen immer mehr sehen als die Linse eines Fotoapparates. Walter hatte kein Problem mit Leichen, er hatte in seiner Laufbahn genug davon gesehen. Und das war endlich ein Tick, den Gabrielle nicht bekämpfen konnte.
Er stieg aus dem Auto und ging an einem Kollegen vorbei, der die Aussagen der ersten Zeugen aufnahm. Als er an einem der Zeugen vorbei ging, einen kleinen, blonden, seltsam feminin wirkenden Mann mit einer Mütze, die der Welt stolz „Nachtportier“ verkündete, schien dieser erschreckt zurückzuweichen. Walter suchte in seiner Tasche schnell nach dem nächsten Fishermen’s, seine Fahne war wohl doch größer als er es wahrhaben wollte – denn eigentlich war er nicht der Typ Mann, auf den Schwuchteln standen. Schwuchteln zu meiden hatte ihm sein Ausbilder auch erklärt; aber das war etwas, dass man Polizisten nicht wirklich erklären musste. Nicht zuletzt deshalb sah ihm sein Kollege wohl auch mit einem kurzen, bewusst männlichen Heben des Kinns als Begrüßung in die Augen und zeigte mit der gleichen männlichen Geste des Kinns auf den Eingang des Hotels: „223 - Zweiter Stock, gleich links neben der Treppe.“
Walter nickte und ging ins Hotel, erklomm die Stufen in den zweiten Stock und hatte schon wieder dieses eigenartige Gefühl von Déjà-vu – genau wie vorhin mit der Adresse und so als sähe man einen Schauspieler in einem Film und muss die ganze Zeit nachdenken, woher man ihn kennt. Aber Walter war während seiner Polizistenjahre schon in so vielen Hotels gewesen, dass sie für ihn zu einer einheitlichen Masse verschwommen waren, auf die er keinen Gedanken verschwendete.
Zimmer 223 hatte einen Schlauch als Flur, von dem das Badezimmer abging und einen Hauptraum mit Doppelbett, in dem es von Beamten der Spurensicherung nur so wimmelte. Walter wollte sich gerade in den Flur durchdrängeln, als ihm der Gerichtsmediziner entgegen kam.
„Morgen.“
„Morgen.“ Der Morgen war nicht gut, es hatte keinen Sinn zu lügen. „Und?“
Der Arzt sah genauso müde aus, wie Walter sich fühlte. „Zwei Tote, aber das wissen Sie ja sicher schon. Ein Mann und eine Frau, beide unbekleidet, keine Kampfspuren. Die beiden waren offensichtlich voll in Action als der Täter rein kam – am Mann hing immer noch das Kondom. Die Frau wurde durch einen Schuss in die rechte Schläfe getötet, der Mann durch einen in die linke. Vom Winkel und der Blutverteilung her würde ich sagen, dass sie rittlings auf ihm saß und dass der erste Schuss sie getroffen hat.“ Walter musste kurz an die üblichen Witze der Polizisten denken, dass sie alle „dabei“ sterben wollten. Jetzt waren zwei „dabei“ gestorben – da schien Leben doch die bessere Alternative. „Ist das Kaliber schon bekannt?“ Der Arzt zuckte mit den Schultern: „Ich schätze mal Achtunddreißiger, viel größer waren die Einschusswunden nicht. Keine Kontaktwunden und die Wundränder waren ziemlich sauber. Schussentfernung somit nicht mehr als ein oder zwei Meter. Bei dem winzigen Zimmer schätze ich, dass der Schütze im Türahmen stand. Gleichwohl guter Schütze, wenn man überlegt, dass beide sich vermutlich bewegt haben.“
Walter nickte und drängte sich nun ohne weiteren Kommentar am Arzt und den Kollegen der Spurensicherung vorbei, um selbst endlich den Blick auf die Leichen und den Tatort werfen zu können.
Er wusste es, als er nur ihre Konturen sah. Er musste nicht erst auf ihre braunen Locken mit den blonden Strähnchen sehen, auch nicht auf das Muttermal über ihrem Po in der Form von Sylt, nicht auf die Tätowierung aus Rosen am Knöchel; die Konturen reichten. Er kannte diese Konturen. Wäre es nicht ihr übliches Weiberwochenende gewesen, diese Konturen hätten heute Morgen neben ihm gelegen. Es war Gabrielle, die da lag. Es war Gabrielle, obgleich es nicht sein konnte. Gabrielle, die „Gabi“ hasste und nie so genannt werden sollte und die nun nicht mehr Gefahr lief, dass sie jemand so nennen würde. Walter spürte, wie sich die Cola und die Fisherman’s Friends sich in seinem Magen zu bitteren Feinden verbündeten und die Speiseröhre nach oben entweichen wollten. Schnell hielt er die Hand vor den Mund und rannte aus dem Zimmer. Er schaffte es bis ins Bad.
Zwei seiner Kollegen, die beiden, die Freunden immerhin so nahe kamen, dass man sich mit den Vornamen ansprach, kamen ihm hinterher. Einer hatte Gabrielles Handtasche in der Hand. „Sag mal, wohnst Du nicht Paul-Heyse-Straße? Die Tote auch!“ Walter wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab und nickte mit geschlossenen Augen. War der Schmerz größer oder die Pein?
„Die Tote ist meine Freundin“, seine Stimmbänder gehorchten ihm nicht ganz und er brauchte einen Moment, bis er merkte, was mit seinen Augen nicht stimmte – ihm liefen Tränen die Wange runter.
„Oh mein Gott“, das Mitgefühl seiner Kollegen schien echt. „Du Ärmster. Mensch, mein Beileid. Dass das keiner gewusst hat – wir hätten Dich nie rufen lasen!“ Sein anderer Kollege nickte „Komm, wir bringen Dich nach Hause, damit Du Dich beruhigen kannst. Wir nehmen Deine Aussage später auf.“ Einer der Kollegen hakte ihn links unter, der andere rechts. Wer sich die Szene flüchtig ansah, hätte meinen können, dass er abgeführt wurde.
Außen beobachtete dann der kleine, blonde, seltsam feminin wirkenden Mann mit der Mütze und einem unangebraucht zufriedenen Gesichtsausdruck, wie Walter von seinen Kollegen sorgsam auf den Rücksitz eines Streifenwagens verfrachtet wurde. Mit jedem Knallen der Streifenwagentüren schien er ein Stück zu wachsen. Er zupfte dem Beamten, der die Szene ebenfalls mit aufmerksam beobachtet hatte, am Ärmel. „Sie brauchen mich dann ja nicht mehr, das nenne ich gute Arbeit!“ Er wollte sich schon umdrehen, als der Beamte ihn nun seinerseits am Ärmel festhielt. „He, nun warten Sie doch, der Zeichner ist gleich da, dann können Sie dem den Mann beschreiben, der nach den Schüssen aus dem Hotel gestürmt ist!“
Der Nachtportier sah ihn mit großen, fast schon kindlich aufgerissenen Augen an. „Was soll denn der Scheiß? Ihr habt den Kerl doch gerade verhaftet!“