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Mucksmäuschenstill
„Und DU bist nicht eingeladen!“ Emma hat es zu Charlie gesagt. Die Mädchen haben gegickelt und dann sind sie abgehauen.
Mir eh egal, denkt Charlie und knibbelt sich den pinken Nagellack vom Daumen. Sie hockt auf dem Pausenhof und wartet, bis die anderen gegessen haben.
„Da hat wohl jemand vergessen, den Antrag rechtzeitig zu stellen“, hat die Frau an der Essensausgabe gesagt.
Mir eh egal, denkt Charlie. Dann spuckt sie vor sich. Wie Onkel Bapo. Es landet nur ein bisschen was auf ihren Sandalen. Charlie wickelt sich eine Haarsträhne um den Zeigefinger. Die schönsten Haare von der ganzen Welt hat sie, hat Mama gesagt. Und sie sind schon fast so lang wie die von Mama. Wenn sie die den Kopf ein Stück nach vorne beugt, kann sie die Haare sogar im Sand schleifen lassen. Es ist fast ein bisschen wie Tanzen.
„Läusekind!“, hat Emma letzte Woche gesagt.
In Charlies Hausaufgabenheft steht eine Nachricht für Mama. Frau Meierfels möchte mit ihr sprechen, wegen der Fehltage. Und Allgemein.
Charlie mag Frau Meierfels. Sie lächelt Charlie manchmal an und sieht sehr hübsch aus. Bestimmt heiratet sie mal jemand Berühmten. In ihrer großen, braunen Ledertasche hat sie immer tolle Sachen. Aber nur einmal hat Charlie etwas daraus mit nach Hause genommen. Eine blaue Schachtel mit bunten Kärtchen. Lobkärtchen heißen die. Charlie hat sie in der kaputten Waschmaschine in ihrem Zimmer versteckt. Sie traut sich nicht oft, die Kärtchen anzugucken. Aber sie stellt sich manchmal vor, wie Frau Meierfels auf ihrem Stuhl an dem weißen Schreibtisch sitzt und neue Kärtchen malt.
Eigentlich ist sie gar nicht oft krank. Aber Charlies Mama muss die Schulzeiten noch üben, sagt sie. Deshalb gibt sie Charlie manchmal besondere Ferien. Solche Ferien, die nur ganz besondere Kinder bekommen.
„Heute sind Kartoffelsuppenferien!“, ruft Charlies Mama dann lachend und zieht sich die Decke wieder über den Kopf. Dann kommen auch die beiden Kleinen angerannt und sie machen den Fernseher an und essen Chips im Bett. Matthis und Mia sind noch klein und dumm. Die begreifen noch gar nix vom Leben. Charlie hat schon so oft probiert, es ihnen zu erklären, aber sie kapieren es einfach nicht. Sie sind zu laut.
„Und ich bin nicht eingeladen“, flüstert Charlie und beißt sich auf die Unterlippe. Sie tritt gegen den Beutel, in dem ihre Schulsachen sind. Den Ranzen mit Eiskönigin Elsa besorgt Mama noch. Charlie macht eine Blase aus Spucke. Eine richtig große. Dann lässt sie einen Spuckefaden aus dem Mund laufen und in den Sand plumpsen. Wie eine Welle, die am Strand ankommt.
Charlie liebt das Meer. Sie war noch nie da, aber bei RTL II hat sie es gesehen. Ganz weiß war der Sand. Und die Wellen haben spluuuuuscccccch gemacht, wenn sie am Sand angekommen sind. Ganz leise: spluuuuscccch.
Emma war in den Ferien am echten Meer, das hat sie im Morgenkreis erzählt. Mit Mama und Papa. Emmas Haut schimmert seitdem wie der braune Zucker, der auf den süßen Brötchen drauf ist, die Charlies Mama immer im Lidl holt.
„Hach!“ hat Charlies Oma gerufen und gelacht. „Ans Meer fahren wir nächste Woche auch!“
Charlies Mama hat nix gesagt. Sie ist in das andere Zimmer gegangen und hat Musik angemacht. Ganz laut, damit die Kleinen sie nicht heulen hören.
Die Oma musste dann schnell weg. Leider, hatte sie gesagt. Charlie hat Matthis auf den stillen Stuhl geschickt, weil er sich wieder vollgepinkelt hat. Für Mia hatte sie Mamas Handy oben vom Kühlschrank geholt. Mia spielt so gerne Candy Bubbles. Und beißt sich dann nicht den Arm blutig. Das ist die Trotzphase, hat der Kinderarzt gesagt.
Wenn Charlies Oma zu Besuch kommt, bleibt sie meistens ein paar Tage. Manchmal bleibt sie auch ein paar Wochen. Oft ist sie auch geheim da. Wie eine richtige Agentin. Das erzählen sie den Kleinen. Dann schlafen alle zusammen auf Matratzen auf dem Boden. Am lustigsten ist es, wenn Shacko mit dabei ist. Shacko ist der neue Freund von Charlies Oma. Seit ihr Opa vom Haus gesprungen ist.
Der Opa ist tot. Die von der Polizei standen wieder an der Tür und haben es Charlies Mama gesagt.
„Er ist auf dem Dach balanciert wie ein richtiger Zirkusakrobat“, hat sie dann den Kleinen gesagt.
„Uuuund daaaaan?“ wollte Matthis wissen.
„Dann ist er gesprungen. Kopfüber. Und alle haben geklatscht.“
„Uuuund daaaan?“
„Platsch!“, sagte Mama.
„Platsch! Platsch! Platsch!“, hatte Matthis gerufen und dabei in die Luft geboxt. Dann hat er auf den Küchenboden gerotzt vor Stolz. Dann hat Mama ihm eine geknallt und Charlie hat schnell den Rotz weggewischt. Charlie hatte den Opa gern. Meistens. Nur einmal hat er ihnen die Miete für den ganzen Monat geklaut.
„Schlampe!“ hat Matthis zur Mama gesagt und ihr mit der Faust in den Bauch geboxt. Matthis war wütend, weil Mama ihm das Gewehr weggenommen hat, mit dem er Plastikkugeln auf den Kanarienvogel geschossen hat.
Schlampe sagt sonst nur Oma zu Mama. Und Moppo. Der hat aber auch ein Problem im Kopf. Bapo, Fritz und Moppo sind die Brüder von Mama. "Die sind zwar alle ein bisschen plemplem", sagt Mama und wischt mit ihrer Hand vor den Augen rum. "Aber Blut ist dicker, als Wasser."
Manchmal feiern sie alle zusammen Party, bis es fast schon wieder hell wird. Oder bis alle umkippen und schlafen. Vorher sind sie immer richtig laut und lustig.
Nur einmal, da war plötzlich alles voller Blut im Zimmer, weil Mama in eine kaputte Bierflasche gefallen war. Moppo hatte ihr vorher gegen den Kopf geschlagen, weil er wütend war. Matthis hat plötzlich aus der Hose getropft und Mia hat einfach nur gebrüllt und sich dabei in den Arm gebissen. Das macht sie jetzt immer, wenn was ist. Der Arm ist ganz verkrustet.
Charlie hatte sie schnell in das andere Zimmer gebracht. Die kapieren die Erwachsenensachen ja noch nicht.
Wie viele Fleißkärtchen braucht man, bis man eine Verkäuferin ist? Charlie überlegt und nimmt ihre Finger zum Zählen. So eine, die so schöne Sachen verkauft, wie die Frauen im AWG Mode-Center. AWG. Alle werden glücklich. Alle werden glücklich, wenn sie Verkäuferin sind. Charlies Finger reichen nicht aus zum Zusammenzählen.
„Mein Mädchen ist nicht eingeladen auf die Party?“, hat Charlies Mama vor kurzem gerufen, als Charlie auch nicht auf Paulas Geburtstag eingeladen war. „Pah! Uns doch egal. Wir machen selber eine Party! Die coolste Party von allen Partys auf der ganzen Welt!“
Dann sind sie ins Kaufland gegangen und haben Luftballons und Kindersekt und bunte gefrorene Torte geholt.
Es sei wichtig, dass Charlie immer pünktlich zur Schule komme, hat Frau Meierfels zu Charlies Mama gesagt. Auch, damit Charlie besser in die Klassengemeinschaft finden würde. Das sei sehr wichtig. Man könne sich auch Hilfe vom Amt nehmen. Die helfen da gerne.
„Ja, klar. Super. Mach ich“, hat Charlies Mama gesagt und gelacht. Frau Meierfels hat auch gelacht.
Der Mann, der die Post bringt, will oft eine Unterschrift von Charlies Mama. Sie sagt dann immer „Autogramm? Aber gerne!“ Den Brief legt sie dann in die Briefeschublade zu den anderen. Charlie hätte manchmal gerne gewusst, was in den Briefen steht. Aber Mama sagt: „Die heben wir auf, für die Bach. Dann hat die was zu tun.“
Die Bach kommt jetzt immer donnerstags.
Die Bach hat viele Sachen gesagt, die anders werden sollen. Charlies Mama hat ein bisschen geweint und dann gesagt, dass sie jetzt alles anders macht. Weil sie die Kinder mehr als ihr eigenes Leben liebt.
Das sagt Charlies Oma auch immer. Dann nimmt sie sich meistens noch Waschpulver, Shampoo und Zahnpasta aus dem Bad und packt es in ihre Plastiktüte. Und weil sie manchmal knapp dran ist, auch noch ein paar Packungen Essen aus dem Regal im Flur. „Ich liiiieeeebe dich so mein Mädchen, mehr als mein eigenes Leben!“, sagt die Oma dann und drückt Charlie ganz fest an sich. Und zu Matthis und Mia sagt sie das auch. Dann muss sie zur Gaststätte Scherer. Shako suchen.
Die Bach meint, dass ein Plan für´s Leben her muss. Und für den Tag. Mama meint das auch. Sonst- und das wäre wirklich traurig, müsste eine andere Lösung für die Kinder gefunden werden, meinte die Bach noch. Für Charlies Mama und ihre Brüder wurde auch schon mal eine andere Lösung gefunden. Aber lange haben sie sie nie behalten in den Wohngruppen. Charlies Mama lacht sich heute noch halb tot, wenn sie erzählt, wie sie die Betreuer verarscht haben. Charlie finde das auch sehr lustig. „Und dann“, hat Charlies Mama lachend erzählt, „dann haben sie uns wieder heim gebracht."
Charlie zieht ein Heft aus dem Schulbeutel. Und das Mäppchen. Und ein Kinder-Pingui. Sie reist vorsichtig eine Seite aus dem Heft raus und knickt sie ungefähr in der Mitte. Das Pingui ist zwar ein bißchen zerquetscht, aber es schmeckt trotzdem noch gut.
Charlie weiß ganz genau, wie die Karte aussieht. Sie malt so gut sie kann das Einhorn an den einen Rand. Auf die andere Seite malt sie die Sieben in gelb. Gold hat sie nicht. Sie kommt fast nicht über den Rand, so konzentriert sie sich. Es sieht so schön aus, dass Charlie es immer wieder wegdrehen und dann nochmal neu angucken muss. Ihr Gesicht fühlt sich ganz warm an und kribbelt ein bisschen.
Du bist eingeladen schreibt sie in die Mitte der Karte.