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Multi Tumulti
Als ich den Flughafen betrete, habe ich Herzklopfen. Bald werde ich weg sein, weit weg von Geburts- und Studienort, bald ...
„Frau Wagner?“
„Ja ...?“
„Kommen Sie bitte mal mit.“
Ein unauffällig gekleideter Mann berührt meinen Ellbogen und führt mich durch die Halle. Durch eine Tür gelangen wir in einen Gang und steigen die Stufen zu einem Flur hoch, bis wir durch eine weitere Tür in einen kleinen Raum eintreten. Ein Mann mittleren Alters mit grauen Haaren, die als Strähnen quer über den Oberkopf gelegt sind, sitzt an einem Schreibtisch und sieht mich nachdenklich an. Ein anderer kauert auf einem Stuhl am Fenster, mit einem Laptop auf dem Schoß. Der Mann, der mich hierhergebracht hat, zieht sich schweigend zurück.
„Frau Wagner, wir hätten da ein paar Fragen ...“
„Aber mein Flugzeug ... Ich muss doch pünktlich einchecken.“ Leichtes Klicken der Computer-Tasten.
„Ach, lassen Sie das mal unsere Sorge sein.“ Er lächelt jovial. „Bitte, setzen Sie sich doch“. Mit einer Hand deutet er auf den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches.
Steif gehe ich hinüber und nehme Platz.
„Mein Name ist Herrmann, und wir benötigen Ihre Mithilfe“, fügt er hinzu und reicht mir ein Schwarz-Weiß-Foto in DIN A 4-Format. „Kennen Sie diesen Mann?“
Mittendrin ist das verschwommene Abbild eines Mannes mit Bart und T-Shirt.
„Ich glaube nicht“, sage ich leichthin.
„Sie glauben?“ Der Mann runzelt die Stirn. „Jared Zafar“
„Nun, ich wüsste nicht ...“ Herr Herrmann sieht mir direkt in die Augen, und ich fühle mich schuldig. Habe ich was falsch gemacht?
„Dienstag letzter Woche, 12 Uhr 40, im Einkaufszentrum Real, Bochum-Langendreer, um mal Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Können Sie sich jetzt erinnern?“
„Wie?“
„Sie haben sich doch angeregt mit diesem Mann unterhalten.“
„Mit diesem Mann? ... Ach, in der Schlange an der Kasse?“
„Jetzt kommen wir doch der Sache schon näher.“ Herr Herrmann scheint mit mir zufrieden.
„Aber ich kannte ihn doch gar nicht. Ich habe ihn doch da zum ersten Mal ...“
„Ersten Mal? Wann haben Sie ihn denn wiedergesehen?“
„Ich? Gar nicht!“ Irgendwie wird mir mulmig.
„Nun, lassen wir das erst mal:“ Als würde er mir eine zweite Chance geben, fragt er dann: „Wie ist es denn mit Dyar Jumah? Erinnern Sie sich an den?“
Meine Erinnerung geht zurück in die Achtziger und spuckt Bilder von fröhlichen Menschen in der Wohnheimküche aus. Toni, der Schwarzafrikaner, Abu aus Jordanien, Firuzeh und Dyar aus dem Iran, und Kirsten und ich als Ansässige – wir waren schon ein bunter Haufen.
„Natürlich kenne ich Dyar. Er war für zwei Jahre mein Freund.“
Herr Herrmann lächelt, und ich weiß, dass das für ihn keine Neuigkeit ist.
„Haben Sie noch Kontakt zu ihm?“
„Das ist über zwanzig Jahre her!“ empöre ich mich. „Und ich weiß nicht, wo er lebt.“
„Wo würden Sie ihn denn suchen?“
„Nicht in Deutschland. Der ist doch ausgewandert. Nach Kanada oder so.“
„Soso“, sagt mein Gegenüber und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. „Ich denke, Sie wissen nicht, wo er ist.“
„So genau weiß ich das auch nicht.“ Mein Gott, was wollen die nur? „Eine Freundin von mir hatte noch Kontakt zu ihm, als mit mir Schluss war.“
„Name der Freundin?“ Er hält Stift und Block bereit, um sich Notizen zu machen. Das Klicken des Computers hält einen Moment inne.
„Wozu das denn?“, frage ich ihn und überlege, ob sie das überhaupt dürfen. Das ist doch nicht normal, alle diese Fragen!
„Frau Wagner, ich stelle hier die Fragen“, weist er mich zurecht. „Und wir wüssten einfach gern, wer uns bei der Suche behilflich sein könnte.“
„Angela Reichert, aber die hat auch seit Jahren keinen Kontakt mehr. Seit er mit der Ulla das Baby hatte, hat er sich zurückgezogen.“ Aber jetzt fragen Sie bitte nicht, wie die Ulla mit Nachnamen heißt. Das weiß ich nämlich nicht.“
„Gut, und wie ist es mit Abu Bakir?“
„Er hat Elektrotechnik studiert.“
„Sie wissen, dass er Palästinenser ist?“ Ich sehe innerlich den kleinen Mann mit dem Kraushaar vor mir, mit dem ich damals schwimmen geübt habe.
„Komm, ein paar Züge! Trau dich“, habe ich ihn gelockt.
„Die Bewegungen kann ich, aber ich kann nicht über Wasser bleiben“, sagte er und tauchte nach den ersten Stößen unter, ohne mit dem Schwimmen aufzuhören. Unwillkürlich muss ich lächeln.
„Frau Wagner? Bitte beantworten Sie meine Frage.“
„Palästinenser? Er kam aus Jordanien.“
„Aha. Das schließt sich nicht aus. Und, haben Sie noch Kontakt?“
„Nein, wir haben uns nach dem Studium nicht mehr gesehen.“
Ich denke daran, wie wir uns Jahre später vor einem Geschäft begegnet sind. Ich war hochschwanger, und ihm war das so peinlich, dass er den Blick abwandte. Ich hätte ihn gern nach seinem Leben gefragt, aber so ging ich in den Laden, ohne ihn anzusprechen. Plötzlich muss ich schlucken.
Nervös sehe ich auf die Uhr an der Wand und kann mir gar nicht vorstellen, dass ich die Maschine noch rechtzeitig erreiche. Aber vielleicht haben sie eine Abmachung mit der Fluggesellschaft; sie haben ja gesagt, dass ich ihnen vertrauen kann.
„Gut, kommen wir noch mal zu Jared Zafar. Worüber haben Sie geredet?“
„Keine Ahnung. Irgendwas. Was man halt so redet beim Warten.“
„Haben Sie über Früchte gesprochen?“
„Früchte?“ Ich krame in meinem Gedächtnis. „Er hatte Bananen, und ich habe ihm gesagt, dass sie nicht in den Kühlschrank dürfen. Sonst kriegen die nämlich braune Flecken.“
„Nicht in den Kühlschrank, aha. Und was hat er gesagt?“
„Nun, er war erstaunt und hat gefragt, wie das mit Äpfeln ist?“
„Und? Was haben Sie geantwortet?“ Ich starre ihn an und frage mich, ob wir noch über Früchte reden.
„Na, ich habe gesagt, dass das bei Äpfeln ganz egal ist.“
„Und?“, verfolgt er gespannt meine Ausführung.
„Na ja, Äpfel soll man nicht zusammen mit anderem Obst lagern, weil das dann schneller reif wird.“ Will der mich verarschen?
„Schneller reif ... Zeitplan ...“, murmelt er vor sich hin.
„Das war’s, dann war ich auch schon dran mit Bezahlen.“ Seine Augen sehen ins Leere.
„Ist das alles?“, frage ich unruhig. „Ich muss doch jetzt los, zu meinem Flugzeug.“
„Ah, Ihr Flieger. Da muss ich sie leider enttäuschen.“
„Wie? Sie haben doch gesagt ... ?“
„Nun, die Fluglinie hat strenge Sicherheitsbestimmungen. Sie bedauern, dass Sie nicht zu dem Personenkreis gehören, die sie beför ...“
„Was? Es war doch alles in Ordnung. Visum, Ticket, kein Problem.“
„Da werden Sie wohl Ihre Pläne ändern müssen. Auch andere Airlines ...“
Entsetzt sehe ich ihn an, noch nicht in der Lage, die volle Bedeutung zu verstehen. „Der Kongress ...“, setze ich an, doch ich kann den Satz nicht zu Ende bringen.
„Ach, bevor Sie uns verlassen, Frau Wagner, verraten Sie uns doch bitte: Was bedeutet ‚multi tumulti’?“
„Es ist so eine Redensart“, rutscht es mir in meiner Benommenheit heraus, „wenn meine Eltern sich über Kleinigkeiten aufregen.“ Dann erst wird mir so richtig klar, was dieser Mann mir gerade mitgeteilt hat. Jahrelang hatte ich den Spruch aus meiner Kindheit nicht gehört. Bis zu dem Anruf meines Bruders letzte Woche, als ich ihn zum Obstsalat eingeladen habe.