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Mutprobe
Zu viert waren wir unterwegs zum Badesee, die letzten Tage der Ferien zerrannen träge in der Sommerhitze. Paul, Ben und Daniel prahlten mit coolen Cocktails am Pool, heißen Küssen am Strand, Klettertouren, „Alter, das hättest du dich nie getraut!“. Sardinien, Kreta, Bali. Ich hatte Herrn Röders Garten während dessen Abwesenheit in Schuss gehalten, Regale im Supermarkt eingeräumt und abends am See von Ira geträumt. Es reichte! Wortlos rannte ich voraus, vorbei an unserer Badebucht bis zur knorrigen alten Buche, im Stamm war ein Herz eingeritzt, L. + I.
„Wer traut sich? Darf ich vorstellen, der Sprungbaum für wirklich harte Jungs!"
„Spinnst du? Der obere Ast hält doch nie, wenn du bis ganz nach vorne kletterst.“
„Klar, ihr seid wohl nur im Pool cool! Nichts für Weicheier!“ Schnell hatte ich die erste Hälfte erklommen.
„Leo, mach keinen Quatsch!“, rief Ben, während Paul sich schon grinsend an den Aufstieg machte und Daniel unschlüssig stehen blieb. Paul hatte mich fast eingeholt, als der Sprungast bedenklich in Schwingung geriet.
„Ihr Sohn wird nie wieder laufen können. Es tut mir leid, die Ergebnisse der Untersuchungen sind eindeutig.“ Keiner hatte bemerkt, dass ich schon wach war. Mein Kopf weigerte sich zu verstehen, was der Arzt da sagte. Ich suchte Blickkontakt zu meiner Mutter. In ihrem aschfahlen Gesicht fand ich blankes, ungläubiges Entsetzen, das sich schmerzhaft und unauslöschlich in mein Herz brannte.
„Beide runter! Sofort! Und zwar vorsichtig zurück ans Ufer!“ Das ist das Letzte, woran ich mich erinnern kann. Der einzige Zeuge gab zu Protokoll, er habe noch laut gerufen, versucht, das Unglück abzuwenden. Doch als der kleinere Junge umkehrte, habe der lange auf dem schwankenden Ast das Gleichgewicht verloren und sei kopfüber abgestürzt, noch über dem flachen Wasser. Später hatte der Neurochirurg mir erklärt, ich habe Glück im Unglück gehabt, das Rückenmark hätte schon auf Höhe des Halses geschädigt sein können. Was trösten sollte, klang zynisch in meinen Ohren. Dass es noch schlimmer hätte kommen können, machte nichts besser.
Training, Training, Training! Einsteigen, Aussteigen, enge Kurven, Schwellen, Steigungen, Gefälle, Treppen. Wie ich diesen Rollstuhl hasste! Manche hier in der Reha beneideten mich um meine Muskeln, Relikte aus einer anderen Zeit. Basketballtraining, viermal die Woche, danach in den Kraftraum, in der Bundesliga wollte ich spielen oder besser noch in der NBA in Amerika, und nicht mit schlaffen Beinen diesen verdammten Rollstuhl unermüdlich durch einen Hindernisparcours lenken.
„Hör auf zu jammern! Glaubst du, es gibt einen einzigen Menschen in dieser Klinik, dem das alles leicht fällt? Das hier, das ist wirklich nur für harte Jungs! Lass dich auf dein neues Leben ein, das alte gibt es nicht zurück! Denk wenigstens ein Mal an deine Mutter!“
„Du hast ja keine Ahnung!“ Kein gutes Argument hier in Rolli-City.
Michael, mein Zimmernachbar, war nach einem Autounfall querschnittsgelähmt. Seine dreijährigen Zwillinge stritten sich manchmal, wer auf Papas Schoß mitfahren durfte. Ich sah ihn auf dem Balkon mit seiner Frau Hand in Hand weinen.
Er hatte ja recht. Meine Mutter besuchte mich jedes Wochenende, erstmals fiel mir eine dicke graue Strähne in ihrem locker zusammengebundenen Haar auf. „Ich freue mich schon, wenn du bald nach Hause kommst!“ Ihr betont munterer Tonfall konnte ihre Sorge und Unsicherheit nicht ganz verbergen. Dunkle Augenringe ließen vermuten, dass sie bis zur Erschöpfung arbeitete. Geld war bei uns seit dem plötzlichen Tod meines Vaters immer knapp gewesen. Ab und zu brachte sie Ben mit. Paul und Daniel hatten sich lange nicht mehr blicken lassen.
Endlich daheim, ängstlich ersehnt, vertraut und doch ganz anders. Zögerlich startete ich eine erste Runde. Die Badezimmertür verbreitert, die riesige Kommode im Flur war weg, keine Türschwellen mehr, meine Regale aus luftiger Höhe tiefer montiert, die Tür zum großen Zimmer fehlte.
„Wo ist denn Papas Flügel?“ Konsterniert sah ich mich in einem fremden, sparsam möblierten Wohnzimmer um.
„Ach Leo, der stand doch schon lange nur noch im Weg, Doktor Röder hat dringend einen gesucht, und ich habe zuletzt kaum noch gespielt.“
Für meinen Neustart hatte meine Mutter sich von dem Bechstein getrennt? Sie konnte auf ihm einen Hauch meines Vaters herzaubern, wenn seine Melodien ihre Hände führten. Das Instrument war doch ihre Rettungsinsel gewesen! Fassungslos, wütend und traurig riss ich den Rollstuhl herum. Ich vermisste die Tür, um sie laut zuzuknallen. Das ging zu weit! Michael hatte recht, es war höchste Zeit, dass ich durchstartete.
Der Jubel wollte nicht enden! Buzzerbeater! Mein Dreipunktewurf in letzter Sekunde war satt durch das Netz gefallen. Deutscher Meister im Rollstuhlbasketball! Ben, Ira und meine Mutter eilten von der Tribüne herunter zu uns. Ben ungestüm voran, Mutter lachend, doch zögerlicher hinterher. Auch nach drei Jahren fühlte sie sich noch nicht richtig wohl, wenn sie sich den Weg durch die rollenden Mannschaftskameraden bahnte. „Mensch Leo, Deutscher Meister! Krass! Wir haben Glück, wenn wir die Oberliga halten können! Deine langen Arme in der Verteidigung, einfach unschlagbar! Und die Dreier könnten wir auch gut gebrauchen!“
Der Trainer zwinkerte meiner Mutter zu. „Mit dem Turborolli ist Leo nicht mehr zu stoppen!“ Zum achtzehnten Geburtstag hatte sie mir diesen wahnsinnig teuren, extrem wendigen Basketballrollstuhl geschenkt. Sie hatte so gestrahlt, genau so wie heute. „Papa wäre stolz auf dich!“ So fühlt sich also Glück 2.0 an, schoss es durch meinen Kopf, in einer eleganten Kurve zur Auszeichnung zum „Wertvollsten Spieler des Matches“ rollend.
„Ben, es muss was ganz Besonderes sein und das bis übermorgen! Ich habe die beste Mutter der Welt und die soll das schönste Geschenk zumindest der nördlichen Erdhalbkugel bekommen!“
„Schau mal hier! Da sind ganz coole Klunker im Fenster!“
„Mein Geschenk zum Fünfzigsten aus der Pfandleihe? Ist das dein Ernst?“
Nicht nur siegestrunken waren wir hier gestern Nacht vorbeigeschlingert, konnten gar nicht aufhören zu kichern, auf dem Weg nach Hause.
Am Morgen warf ich einen verstohlenen Blick auf die lieblos angeordneten Schmuckstücke im Schaufenster. Nein, das konnte doch nicht wahr sein!
„Ben, warte! Den muss ich haben!“
„Leo, hast du mal aufs Preisschild geschaut? Und außerdem macht der Laden erst auf, wenn wir schon über der Matheklausur verzweifeln!“
„Unwahrscheinlich, dass ich verzweifle. Guck, da ist doch schon jemand drin. Dann geh halt vor! Wenn ich nicht rechtzeitig da bin, sagst du, mein Rollstuhl hatte einen platten Reifen, es sei denn, dir fällt noch irgendwas Besseres ein!“
„Du spinnst! Schon vergessen? Die Klausur ist abiturrelevant!“
Ben ging kopfschüttelnd weiter. Ich klopfte vorsichtig an die Glastür. Hinter dem Tresen saß ein kleiner, alter Mann, ganz vertieft in sein Tun. Unwillig schaute er hoch und winkte mich dann doch herein.
„Was kann ich denn für meine frühe Kundschaft tun?“ Sein forschender Blick verunsicherte mich.
„Der Ring im Fenster, den hätte ich gerne!“
„Ich bin zwar alt, aber wenn ich mich recht erinnere, liegen da mehrere Ringe. Welcher soll es denn sein, junger Mann?“
„Der mit dem großen Lapislazuli in der Mitte und den drei Diamanten drum herum.“
„Ach, der Herr ist Experte, sieh mal einer an. Dann ist Ihnen vielleicht auch der Wert des schönen Stückes geläufig?“ Sein spöttisch amüsiertes Grinsen ließ mir die Röte ins Gesicht steigen und meine innerlich vorformulierten Sätze in sich zusammenfallen.
„Ich muss den haben, der gehört meiner Mutter!“, brach es aus mir heraus.
„Gehörte Ihrer Mutter, trifft es wohl besser.“ Aus seinem Blick war aller Spott verschwunden. „Dann bist du also das andere Ende der Geschichte. Wer hätte gedacht, dass die wahr ist! Na ja, zumindest habe ich es gehofft, sonst hätte ich die Frist ja nicht immer wieder verlängert.“ Seine Augen ruhten nachdenklich auf mir. Zwischen meinen Schulterblättern rannen erste Schweißtropfen hinab. „Lass uns über die Bezahlung sprechen!“
„Ich könnte ihn anzahlen!“ Mühsam kramte ich neun Euro aus meinen Taschen zusammen. „Und dann jeden Monat fünfzig Euro abzahlen!“
„Hm, das ist ja sehr langfristig kalkuliert, meinst du nicht?“
„Er war das Geschenk meines Vaters!“, warf ich verzweifelt als Argument in den Ring. Schweigen, meine Hoffnung schrumpfte im Sekundentakt. Mutprobe, ploppte in meinem Kopf auf. Es war alles andere als einfach, diesem klaren, intensiven Blick Stand zu halten. „Ich könnte die Summe abarbeiten!“ Ein letzter Versuch. Da blitzte etwas anderes auf in den lebhaften blauen Augen, die so gar nicht zu dem greisenhaften Aussehen meines Gegenübers passten.
“Kannst du Buchhaltung?“
„Nein, aber das kann ich doch lernen! Ich bin gut in Mathe!“
„Du gefällst mir! Hilft aber nicht so recht weiter, ich werde die Jahresbilanz noch vor meinem Hundertsten benötigen! Was ist mit Computer?“ Buzzerbeater!
„Da bin ich Experte! Was brauchen Sie? Eine Homepage? Mailadresse? Akten digitalisieren? Das kriege ich alles hin!“
War das Güte, die ich in seinen Augen sah?
„Versuchen wir es! Du zahlst neun Euro an, und dann jede Woche fünf Stunden ab!“
„Danke!“ Mehr fiel mir vor lauter Glück nicht ein.
„Dein Vater wäre stolz auf dich. Ich hätte den Ring übrigens ohnehin nicht vor morgen verkauft, wegen des eingravierten Datums. Dann wollen wir das schöne Stück mal holen! Ich werde deine langen Arme brauchen, wenn Edith es tatsächlich in die vorderste Reihe gelegt hat.“
Er klappte die kleine Tischplatte hoch und ließ die Tür aufschwingen. Verblüffend mühelos bewegte er sich mit seinem schweren Rollstuhl in Richtung Schaufenster.