Mutterliebe
„Als Embryo der Abtreibung getrotzt, als Baby verleugnet, als Junge malträtiert aber noch immer am Leben und doch, oder vielleicht sogar gerade deswegen – eine gebrochene Existenz“, steht in verschmierten, blutroten Lettern über die Tür meines alten Zimmers gekritzelt. Sollte es, denke ich.
„Dein Vater hätte es so gewollt, dass sein einziger Sohn...“, ein raues, dennoch unwahrscheinlich zittriges Frauenstimmchen, das ich seit meiner Ankunft in diesem verfluchten Mausoleum,
beharrlich ausblende, dringt nun doch an mein Ohr.
„...trotz allem“, nur einzelne Wortfetzen ihrer Verniedlichungen und großen Reden dringen bis in mein Innerstes vor, selten glückt es ihnen die Barrieren zu überwinden, die mein Verstand errichtet hat um sich an diesem sterbenden Ort nicht selbst in den glatten, unpassierbaren Steilhängen der Selbstzerstörung zu verlieren.
Noch immer stehe ich vor einer geschlossenen Tür und plötzlich streifen meine Gedanken ein Bild, nur ein Foto in einem Politmagazin, eine zerbombte Stadt, irgendwo, ein pulverisierter Wohnhauskomplex, irgendwann, zerborstene Mauern, ausgebrannte Autos und vor diesem Szenario ein kleiner Junge, unschuldig dreinblickend und einen jungen Sprössling mit erdigen, deutlich hervorstehenden Wurzeln in die Kamera haltend, den er aus irgendeinem Grund aus der Erde gerissen hat und ich kann dieses Bild nicht vergessen weil ich einfach nicht verstehen will – wie kann ein einzelner Mensch nur so ignorant sein, wie mein Vater.
Keine dreizehn Stunden später fühle ich mich wieder soweit gefestigt, dass ich mir zutraue die Tür zu öffnen. Ich drücke die Klinke vorsichtig nach unten - als fürchte ich, das, was mich hinter dieser Tür erwartet durch eine unüberlegte, zu hastige Bewegung nervös machen zu können – schön wär’s, denke ich jetzt. Die Tür springt ruckartig aus dem Schloss und schwingt dann nach innen.
Ich wage es – ein Adrenalinstoss – und will die Türe hinter mir wieder schließen, lasse sie aber einen spaltbreit geöffnet – dann noch ein weiterer.
Eine beinahe geheimnisvolle Stille flutet die endlose Dunkelheit des Raumes und bereits nach wenigen, vorsichtigen Schritten durchdringt ein flüchtiger, aber ekelerregend-madiger Geruch meine Nüstern, der mich innerlich zum würgen bringt. Ich versuche meinen Blick die ehemals azurblauen Wände entlangfahren zu lassen, doch ausnahmslos alles hier ist in einer tiefschwarzen, konturlosen Masse versunken, gegen die auch der schmale Lichtkegel der noch durch den Türspalt dringt, nichts auszurichten vermag.
Eine Sekunde geht über in eine Minute, die langsam auf eine Stunde zukriecht und ich stehe noch immer regungslos inmitten dieses schwarzen Lochs, die peinigende Stille lässt mich meine eigenen tiefen, schwere Atemzüge hören. Gefesselt starre ich auf einen – scheinbar beliebigen – Punkt in der uneinsichtigen Ebene.
Hast du mich vermisst?, nur ein zartes Flüstern, das die dunkle Stille durchbricht.
Eine Linie brennender Schmerzen entfacht plötzlich quer über meinem Rücken, entwickeln sich zu einem erbarmungslosen Flächenbrand und ich weiche wieder einige Schritte zurück, in der instinktiven Hoffnung, den Schmerz dadurch abzuschütteln – als ob das irgendetwas lindern könnte.
Mit dem rechten Zeigefinger fahre ich mir über den Rücken, ziehe die Linie nach - der Schmerz ist schon erloschen. Ich setzte erneut an, diesmal fester, denn ich will die Rille fühlen, Einkerbungen, hinterlassen von aufgeriebener Haut und aufgeplatztem Fleisch, die sich wie der Grand Canyon quer über meine Rückseite erstrecken und schließlich bin ich mir sicher;
Sie hat mich nicht vergessen.
Zu irgendeinem undefinierbaren Zeitpunkt an diesem Tag trete ich rückwärts durch einen Türbogen, in einem geschmackvollen, gebrochenen weiß gehalten und eine raffinierte Schwingung aufweisend, sieht er dem gemauerten Bogen, der in die Küche meines Elternhaus führte, verblüffend ähnlich – ich weigere mich bestimmt, zu glauben, dass es derselbe ist – und schließlich halte ich inne, lege meinen Kopf in den Nacken um lesen zu können, was wohl über dieses Portal geschrieben stehen könnte.
Lass es hinter dir, verschwinde einfach – das stetig pochende Echo, das durch meinen Kopf hallt, der kümmerliche Rest Rationalität, den mein Hirn in der Lage war zu konservieren, denn alles andere in mir, von der bereits blut- und gallespeienden Leber, bis zum letzten sauerstoffreichen, zu allem bereiten roten Blutkörperchen, schreit nach Vendetta, erbarmungslose Blutrache für ihre geliebte Mutter – mein Herz – denn...
„Es gibt keine Katharsis“, ein unwahrscheinlich deutliches Flüstern dringt an mein Ohr, an sich nichts ungewöhnliches – erlebe ich stündlich – aber dieses weicht doch in mindestens zwei Punkten von dem ab, was ich als gewöhnlich bezeichnen würde;
Es war laut und deutlich, eher untypisch für ein Flüstern, was ich allerdings als noch viel beängstigender erachte: ich kenne diese Stimme.
Schnitt – und das unausweichliche passiert, ich stehe wieder vor meiner Türe, irgendjemand sagt etwas doch die Barriere hält noch. Es reißt die Tür fast aus den Angeln, als ich sie durch einen harten Tritt mit der Schuhsohle aus dem Schloss sprenge. Unverhofft stehe ich plötzlich auf der Schwelle eines lichtdurchfluteten Raumes, die Wände allesamt in einem idyllischem Azurblau strahlend.
„Eine Falle“, höre ich eine flatternde Stimme murmeln und es bleibt nur zu hoffen, dass es nicht meine eigene ist.
Zielsicher kreuze ich das Zimmer, steuere wie auf Autopilot auf das Bett am Ende des cremefarbenen Teppichs aus reiner neuseeländischer Schurwolle zu, mein rastloser Blick streift kurz einen Wandspiegel und die erste Diagnose lautet: manisch-depressiver Jedermann...
...dann muss ich meinen Blick abwenden, gedankenverloren suche ich ein Fenster.
Meine Schritte werden ungleichmäßiger und langsamer, den mit einem Mal zeichnet sich heute
– selbst hinter dieser, mir fast zufällig erschienen Randnotiz – so etwas wie ein Sinn&Zweck ab.
Ein Fenster bedeutet Hoffnung.
Deshalb durfte es hier keine Fenster geben, den wo es Hoffnung gibt, da gibt es auch Mut, und selbst bei einem äußerlich gebrochenen Jungen darf man den Wirkungsgrad eines hoffnungsvollen Mutes – sei es der furiose Mut zu körperlichem Widerstand oder einfach der Mut, es auszusprechen, es publik zu machen – niemals unterschätzen.
„Du warst schon ein verdammt cleveres Arschloch“, knurre ich beinahe lautlos, nehme Notiz von dem unerwartet kalkigen Geschmack meiner Lippen, den ich ohne groß darüber nachzudenken auf die Beruhigungstabletten zurückführe, die ich jetzt – grob geschätzt – seit knapp 200 Stunden wie Gummibärchen in den Mund schiebe, und schließlich komme ich – direkt vor meinem alten Bett stehend – wieder zu mir.
Unfähig meinen Blick zu heben – und ich will es auch gar nicht – starre ich auf das Bett und auf meine Taschenbuchausgabe des Easton Ellis Romans American Psycho, die noch immer neben dem in ein leicht blutiges rot getauchtem Kopfkissen liegt, so wie ich sie zurückgelassen habe, aufgeschlagen auf Seite – daran kann ich mich nicht erinnern – und die Worte flüsternd, die zum Inbegriff meines Lebens werden sollten;
Es gibt keine Katharsis, stimme ich ein und für einen kurzen Moment kann ich es übertönen, scheint der Abgrund nicht mehr unüberwindbar, bis es von neuem beginnt, die Intervalle noch kürzer aufeinanderfolgend, die Töne noch greller und durchdringender.
„...immer beschäftigt mit seiner Arbeit...“ die Barriere bröckelt, „...den Fotos...“, – ich habe nicht mehr viel Zeit. „...aber geliebt...“
Ein Foto an das ich denken muss: Ein kleiner schwarzer Junge auf einem großen Marktplatz irgendwo in Schwarzafrika, abgemagert bis auf die spitz hervorstehenden Rippenknochen, das Gesicht gezeichnet von Mangel & Krankheit - mit Schlägermütze und getönter D&G Sonnenbrille zum Schwerkriminellen stilisiert, umrundet von einem guten Dutzend empört dreinschauender, anklagend aufschreiender weißer Jungs, blond & blauäugig – so wie er sie gern hätte - in Nadelstreifanzügen mit dicken Büchern unter den Armen, auf die deutlich „Kreuzzüge“ geschrieben steht, beim Kauf einer Tafel weißer Schokolade.
Hast du mich vermisst?
Es gibt keine Katharsis.
wie kann ein einzelner Mensch nur so ignorant sein, wie mein Vater.
Erst einen halben Schritt vor dem endgültigen Abgrund kehrt ein letzter Rest Verstand und Lebenswillen, in reine Raserei getränkt, wieder in mich zurück und als ich mich wieder in den Raum einblende, komme ich schnell zu der Erkenntnis, dass ich meine Monatsration an Beruhigungsmitteln und Antidepressiva bereits vertilgt habe, den heutigen Tag aller Wahrscheinlichkeit nach nicht überleben werde und in diesem endgültigen Augenblick ertappe ich mich dabei, wie mein zuvor steinerner Blick die in ein dunkles rot getauchte Wand hinauffährt und schließlich blicke ich in ihre verschmierte Fratze.
Über dem Knecht thronend, das Symbol der perversen Lust eines Soziopathen und zugleich terroristische Drohgebärde, die jede Hoffnung und allen Widerstand im Keim erstickt hätte – hätte es sie je gegeben.
Sie ist alt geworden, denke ich jetzt. Noch immer klebt eingetrocknetes, braun gewordenes Blut an ihr, Roststreifen liegen längs über der Klinge, haben richtiggehend Löcher in sie hineingefressen und sie glänzt auch schon nicht mehr.
„Sieh dich doch an!“, würge ich versucht lässig hervor und imitiere ein abschätziges Lächeln.
Stille.
Wende mich endlich ab, meine Unterlippe bebt vor Erregung während ich die unerwartet salzige Note, die plötzlich meine Oberlippe tränkt, schmecke und als mein Oberkörper sich bereits eine Vierteldrehung weit vom Bett entfernt hat, schwenkt mein linker Arm eigenmächtig noch einmal zurück, reißt sie mit unzähmbarer Wucht von der Wand – ich höre abbröckelnden Putz, das stumpfe Klirren eines rostigen Eisennagels auf dem Bettrand, und dann: ein Schrei verhallt – stimmt wieder in die eigentliche Drehbewegung ein und noch bevor ich überhaupt halbwegs verstehen kann, was hier wirklich gerade passiert stehe ich wieder vor der Gestalt, die mich - zu irgendeinem fiktiven Zeitpunkt in der Vergangenheit – ins Haus gelassen hatte, die Frau, die meiner Mutter so verblüffend ähnlich sieht – ich weigere mich bestimmt, zu glauben, dass es sie ist...
...ganz einfach weil andere sich bestimmt weigern zu glauben, dass in diesem Haus Verbrechen geschehen sind.
„Jungchen, was ist bloß in dich gefahren? Sag doch endlich etwas!“, die Barriere bricht – ist nicht mehr wichtig, denke ich und meine bewaffnete Hand bereitet mich bereits auf das unvermeidliche vor.
„Kindchen, aber was ist bloß in...“, mit einer kurzen Handbewegung verbiete ich ihr den Mund.
„Ich habe keine Vergangenheit...“, beginne ich, „...weil alles, an das ich mich wirklich erinnern kann, nach Doktor van Weyden nichts als Projektionen einer phantastischen Welt sind, reflektiert durch den kranken Verstand eines hoffnungslosen Monsters, und es gibt für mich auch keine Hoffnung auf eine Zukunft, weil ich all das ungeschehene, einfach nicht vergessen kann. Alles was ich habe, ist das Jetzt.“, ich setzte das tote Eisen zwischen ihren Augen an, „Jetzt und meine Rache. Niemand kann mir diesen Augenblick nehmen!“
Es gibt keine Katharsis, hallt es noch immer, wie ein Gebet vom Bett zu mir herüber als ich die Klinge auf sie niedersausen lasse, ihr den Schädel sauber zu spalten, es gibt keine Katharsis, doch mit einem Mal stocke ich, denn ich bin mir nicht mehr sicher, ob diese Passage wirklich aus dem aufgeschlagenen Buch selbst stammt, oder es gerade nur seine eigene Verfilmung zitiert...
...Nicht einmal das kann ich mehr glauben.
Durch die sich auflösenden Grenzen zwischen Realität und Phantasie hindurch, über die verschwommenen Ebenen von Körper und Verstand, sinke ich schließlich in die Knie während ich sie, die tot und regungslos in meiner linken Hand ruht, in die Ecke schleudere – in tausend winzige Teile gesprengt, wirbelt sie die dicke Staubschicht, die über dem Parkettboden in der Ecke liegt, auf, die sich anschließend wie ein Schleier über die einzelnen Bruchstücke legt, nur für einen kurzen Moment zwar, aber lange genug für mich.
Meine Mutter kniet noch immer zusammengekauert, in grausiger Erwartung des Todesstoßes heuchlerisch winselnd, auf dem Boden, die Augen rot und tränenunterlaufen, das Kreuz gebeugt unter der Last ihrer schweren Schuld.
Und doch muss ich die Urteilsvollstreckung aussetzen weil äußere Umstände mich dazu veranlasst haben, den Fall neu aufzurollen, vielleicht alles etwas differenzierter zu sehen, aber, als auch sie endlich versteht und sich, unter glucksenden Geräuschen heftig atmend, mir dankend an den Hals wirft, kann ich das alles mit einem Mal nicht mehr ertragen und ich beginne bitterlich zu weinen.
Ich schreie einen falschen Schmerz heraus, weine noch heftiger, versuche es schließlich mit hysterischem Kreischen – in der stillen Hoffnung, dass dieser Moment vielleicht gar nicht existiert, oder, falls doch, ich ihn zumindest nicht überleben muss.
„Was ist bloß in dich gefahren, Brick?“
„Es ist einfach alles so überhaupt nicht...“, an dieser Stelle baue ich ein erneutes heftiges Schluchzen und weinen ein, „...so überhaupt nicht caliente.“, erwidere ich zum ersten und letzten Mal, ich sage das, weil jede andere Antwort bedeuten würde etwas meines Innersten preiszugeben, aber dazu bin ich, an diesem sterbenden Ort entschieden nicht geneigt und als ich nach einiger Zeit der Besinnung die Augen wieder öffne, erblicke ich ein gewaltiges The End?, an die beschlagenen Scheiben des Busses geschmiert, in einer Schrift, in der ich nur für einen Moment, meine eigene zu erkennen glaube.
Nur mühsam richte ich mich in meinem Sitz auf, dann blicke ich mich ein wenig in den Sitzreihen um – da kullert in jeder Kurve eine leere Jack Daniels Flasche durch den Fußraum, hier trällert der Busfahrer ein trauriges Lied, welches ich bald als Johnny Cashs „Cry Cry Cry“ ausmachen kann und bei manchen Versen stimme ich schließlich sogar mit ein weil ich glaube, sie verstanden zu haben, aber letztendlich muss ich doch erkennen, dass ich der einzige Fahrgast in einem leeren Bus bin, weil ich einen Ort suche, den wohl jeder andere Mensch ganz bestimmt zu meiden versucht.
In diesem Moment hebe ich meinen Blick ein wenig und die grellgelbe Neonanzeige neben dem
Fahrer beginnt jetzt stetig zu blinken und gegen Ende der geschwungenen Straße bestimmt sie das Ziel meiner Reise – Endstation: Vergangenheit