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Mysteriöses hinter schmutziger Scheibe
Die Straßenlampe flackerte, so als wollte sie vor etwas warnen.
Das fünfstöckige Haus, schon mehr als hundert Jahre alt, zartgrün gestrichen, war der Ausgangspunkt eines seltsamen Geschehens. Ein kleiner Garten, grasbewachsen, mit einer viele Meter hohen Tanne bepflanzt, der wie Schutz suchend seitlich anlehnte, grenzte daran.
Annette, eine alleinstehende Mittdreißigerin, Sekretärin eines Gymnasiums, wohnte genau gegenüber in der dritten Etage. Morgens beim Lüften fällt ihr Blick immer auf dieses leerstehende Haus und die Wohnung in der Mitte. Schon des öfteren sah sie dort jemanden huschen, obwohl sie sicher war, dass das Haus viele Jahrzehnte lang leerstand.
Der bizarren Formen waren trügerisch. Ja, vielleicht waren es auch die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos, die die mysteriösen Fenster lebendig werden ließen?
"Nein, unmöglich", sagte sie oft zu sich selbst, "was ich gesehen habe, habe ich gesehen. Dort war jemand, jemand Reales. Das bilde ich mir nicht ein."
Und eines Morgens, es war kurz vor sechs, als sie wie üblich die Fenster öffnete, sah sie dann wieder diese Gestalt, diesen finsteren Schatten. Eine Frau war es, das zeigten die Umrisse sehr deutlich, denn sie trug einen wadenlangen Rock, war oben herum füllig und ihre glatten Haare reichten bis auf die Schulter. Sie lief hin und her, etliche Male. Auf und ab, so als denke sie über etwas stark nach und wollte so ihre Emotionen ausleben.
Dass es nicht die Eigentümerin des Hauses war, wusste sie, denn diese war zierlich und klein, hatte ihr Haar kurzgeschoren.
Annette konnte sich nicht losreißen, denn ein Gedanke stieg in ihr auf, wer diese Frau sein könnte. Aber es waren nur Ahnungen, die sie schnell wieder beiseite schob, wie auch den Vorhang, den sie nach dem Schließen des Fensters zuzog. Symbolisch, so als wolle sie diesen aufgekommenen Gedanken damit ebenfalls zuziehen, abschließen. Doch richtig schaffte sie es nicht.
Schnellen Schrittes ging sie hinüber in die Küche. Denn ein Blick auf die Uhr bestätigte ihr, sie müsse sich beeilen, sonst käme sie wieder zu spät, was in letzter Zeit des öfteren vorkam. Und sah schon das Gesicht ihres Chefs vor sich, der unwillig die Brauen zusammen zog und die Lippen automatisch zu Strichen.
Das spornte sie an, sich zu beeilen. Goss Wasser in die Kaffeemaschine, drückte Filterpapier in den Behälter und schaltete ein. Es dauerte auch nicht lange und der Kaffee lief sprudelnd in die darunter stehende Glaskanne.
Die Frau ging ihr einfach nicht aus dem Sinn und hielt daher mitten in ihrer Handlung inne, als sie gerade die Kaffeetasse aus Küchenschrank entnehmen wollte. Sie musste noch einmal nachsehen ...
Um unbeobachtet zu bleiben, ließ sie die Gardinen zugezogen, schaute durch sie hindurch, denn vielleicht könnte man sie ja sehen. Und das wollte sie nicht. Zuerst sah sie nichts als die dunklen schmutzigen Scheiben, doch auf einmal rührte sich etwas.
Der von der Küche herüber duftende, frisch gebrühte Kaffee stieg ihr in die Nase, so dass sie sich eine Tasse holte und wieder zurück kam. Der erste Schluck und der damit verbundene Koffeinschub förderte eine spritzige Idee zutage, die sie sofort in die Tat umsetzen wollte. Sie musste gleich gehen und bei der Gelegenheit könnte sie ja drüben kurz mal läuten.
Der heiße Kaffee tat vollends seine Wirkung, und so nahm ihr spontan gefasster Plan auch sofort Gestalt an. Schnell stellte sie ihre Tasse weg, zog Schuhe und Jacke an, riss die Umhängetasche vom Haken, nahm den Wohnungsschlüssel und ging. Schnurstracks überquerte sie die Straße. Vor dem Gebäude angekommen, drückte sie alle Klingelknöpfe auf einmal. Wartete. - Doch es rührte sich nichts. Kein Licht ging an. Kein Geräusch war zu hören, nur ein paar Autos fuhren vorbei. Dann war wieder Stille. Noch einmal machte sie einen Versuch, lauschte. - Nichts. Ruhig. Still.
Sie schaute nach oben, dorthin, wo sie die Frau vermutete, ihren Schatten.
Die dunklen Fensterscheiben spiegelten die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos wider, mehr war nicht zu erkennen.
Ein schneller Blick auf ihre Armbanduhr sagte ihr wieder: "Keine Zeit mehr!". Und schon sah sie den Bus kommen, der sie zur U-Bahn-Station bringen sollte. Den heruntergerutschten Riemen ihrer Tasche schob sie wieder hoch, während sie rannte. Völlig außer Atem erreichte sie ihn noch - der Fahrer wollte gerade die Türen schließen, als sie einstieg.
Sie quetschte sich zwischen die Fahrgäste. Einen Sitzplatz bekam sie nicht. Um diese Zeit - es war kurz vor halb acht - war die ganze Stadt unterwegs. So drängelte sich alles. Trotz Enge und unangenehmen Schubsens verschiedener Schüler, die ihr dabei auch noch auf die Füße traten, da der Busfahrer gerade bremste, ging ihr diese Frau nicht mehr aus dem Kopf. Und mit diesen Gedanken beladen, kam sie im Büro an. Ihr Chef stand natürlich an der Türschwelle, wie sie vermutet hatte, und begrüßte sie mit seinem für ihn typischen Sarkasmus: „Na, Fräulein Annette, heute endlich einmal ausgeschlafen?“, und grinste vielsagend, was ihre Gewissensbisse noch verstärkte.
Schuldbewusst schaute sie zu Boden. Ja, wenn er sie schon mit "Fräulein Annette" anredete, dann begann er säuerlich zu werden, auch wenn sein Grinsen äußerlich nicht darauf hinwies.
Natürlich hatte er recht, das war ihr klar. In letzter Zeit kam sie wirklich sehr oft zu spät. Der Grund natürlich immer ein anderer, und eigentlich konnte sie in keinem der Male etwas dafür. Einmal war es der verdammte Wecker, der einfach nicht klingeln wollte, ein anderes Mal konnte sie den linken Schuh nicht finden, war daher auch nicht fähig, pünktlich zu kommen, ein nächstes Mal hatte sie ihren Hausschlüssel verlegt und ohne diesen käme sie ja schließlich nicht mehr in die Wohnung hinein. Immer ein anderer Grund. Ja, es war ihr peinlich, das musste sie zugeben. Und dass es sich dieses Mal um eine ominöse Frau handeln sollte, der Silhouette einer Frau, das konnte sie ihrem Chef nun wirklich nicht sagen, er würde sie garantiert für verrückt erklären.
Annette zog ihren Mantel aus, hängte ihn in die Garderobe und schon kam ihr Chef mit einem dicken Stapel Akten angelaufen und drückte ihn ihr in die Hand mit den Worten: „Hier, das muss in einer halben Stunde erledigt sein!“, währenddessen er sich schon wieder abwandte. Unschlüssig schaute sie auf den Aktenstapel.
Ach, das hatte sie ganz vergessen, durchfuhr es sie. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie es wohl nicht mehr schaffen würde. Die Konferenz sei ja schon in einer halben Stunde und sie hatte noch nicht alle Lehrer erreicht, das würde knapp werden, wusste sie nun mit Sicherheit. Trotzdem ging sie mit schnellen Schritten, in der Hand die Akten, zu ihrem Schreibtisch und vielleicht könnte sie ja noch ein paar Anrufe schaffen, dachte sie sich, worauf sie einen Tick zu schnell die Mappen auf den Tisch knallte, und im gleichen Moment zum Telefonhörer griff; die Nummer des Konferenzzimmers wusste sie auswendig.
Sie wählte und kaum ertönte das Klingelzeichen, wurde auch schon abgenommen. Die Stimme des ihr bekannten Lehrers klang laut und vernehmlich, fast ein wenig zu laut, an ihr Ohr: „Münstermeier hier!“ hörte sie in schallen, wobei ihr der Hörer fast aus der Hand fiel, denn die Lautstärke ließ sie vollends aufwachen.
„Herr Münstermeier“, sagte sie gerade, als ihr Chef wieder ins Zimmer platzte und ihr ins Wort fiel: „Annette“, meinte er, und vergaß dabei völlig, dass er sie ansonsten immer mit Sie ansprach, „du wohnst doch in der Rattowstraße, nicht wahr?"
"Ja, warum?", brachte sie erstaunt und mit einer Vorahnung hervor, die nichts Gutes zu bedeuten hatte.
"Eine Durchsage kam vorhin im Radio, dass eine Frau gerade eben dort aus dem Fenster gestürzt sei. Das dritte Stockwerk war es, glaube ich, wahrscheinlich nicht unabsichtlich und ..."
Er brach mitten im Satz ab. Annette schaute ihn daraufhin mit großen Augen an. Was sie ahnte, konnte sie nicht in Worte fassen.
Annette ließ den Hörer auf die Gabel fallen, Herr Münstermeier war vergessen.
„Wissen Sie“, fing sie an, ihm von dem Vorfall zu erzählen, doch die Worte wollten ihr nicht mehr richtig einfallen.
"... morrgens ... naja ... also ... das ist nämlich so ...", und brach ab. Weiter suchte sie verzweifelt nach den passenden Worten. Doch eine Leere war in ihrem Kopf, eine unbeschreibliche.
Ihr Chef wusste die Situation nicht so richtig einzuschätzen, währenddessen er seine Krawatte zurechtrückte, eine Angewohnheit, die er dann ausübte, wenn er nervös war oder ihm Dinge widerfuhren, die er nicht sofort einordnen konnte.
Annette ließ sich auf ihren Stuhl plumpsen, denn das Stehen machte ihr nun zu schaffen. Ihre Ahnung hatte sich bestätigt.
Zweifel nagten an ihr, dass sie nicht schon früher wenigstens versucht hatte, davon zu erzählen, dann hätte man vielleicht noch helfen können. Unterstützung geben, was auch immer. Aber nun war es zu spät.
Die Gewissensbisse ließen sie nicht los. Herr Weissner, so hieß ihr Chef, wollte noch einmal nachhaken, aber so richtig wusste er auch nicht wie. Es fehlten ihm wohl auch die Worte. Konnte sowieso schlecht mit Sachverhalten umgehen, die mit Gefühlen zu tun hatten. Die in einer halben Stunde beginnende Lehrerkonferenz kam ihm dabei gerade recht, die ihm einfiel. Ließ Annette daher stehen und ging.
Sie musste sich ihren Aufgaben stellen und versuchte sich zusammenzureißen, doch so richtig schaffte sie es einfach nicht, da ihre Gedanken um das Geschehen kreisten, und brachte alles durcheinander. Als es auf den Nachmittag zuging, war sie daher mehr als froh.
Kurz vor drei nahm sie dann ihre Tasche und ging vorzeitig. Auf dem Weg zur U-Bahn dachte sie ständig an dieses Geschehen, das sie noch hätte verhindern können so am Morgen. Nein, eine Schuld brauchte sie sich nicht daran zu geben, doch nagten die Gewissensbisse schwer an ihr und nachdem sie die darauf folgende Busfahrt abgeschlossen und ausgestiegen war, die Straße entlang ging, ihrer Wohnung zu, blieb sie auf einmal abrupt stehen, weil sie nun wusste, wer die Selbstmörderin war.
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Emilie, ihre fünf Jahre ältere Schwester, hatte schon oft bei ihren Besuchen immer so wortlos am Fenster gestanden, genau dort, an diesem Fenster, das sie am Morgen immer öffnete, um zu lüften, an welchem man hinüber schauen konnte auf dieses herrenlose Haus mit den schmutzigen Fenstern, das unbewohnt als einziges in der Straße stand. Dort verweilte sie oft lange und nun wusste Annette auch warum. Emilie hatte sich einen Schlüssel besorgt und war an einem dieser Morgen dort hinein gegangen, sie wollte, sie, Annette, für das Bestrafen, was sie ihr schon lange angetan hatte, die Liebe ihrer Eltern, die nur ihr galt und nicht Emilie, was ihr immer ein Dorn im Auge gewesen war.
Und nun hatte sie es geschafft, ihrem endlos erscheinenden Neid ein Ende bereitet. Einem Neid, den sie sich selbst einredete und der sie bis zuletzt so zermürbte, dass sie ihre Sitzungen bei einem Psychiater ausdehnte und die offensichtlich nicht halfen.
Nun wusste sie es mit Sicherheit: Emilie, ihre Schwester, war dieser Schatten, sie wollte sie damit zur Verzweiflung treiben, zum nervlichen Wrack machen, für etwas, das sie sich selbst einredete - und das es gar nicht gab.
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Die letzten Meter kamen ihr wie Meilensteine vor, die sie nie bewältigen könnte, dachte sie, doch irgendwie schaffte. Dann stand sie vor dem Geschehen, vor dem Haus, dem Ort der Sprachlosigkeit.
Ihre Ahnung hatte sich bestätigt.
Menschentrauben bevölkerten noch immer die Stelle, an der sie lag. Keines Schrittes mehr fähig, verharrte sie so. Wie lange, dass wusste sie nicht zu sagen. Eine Zeit, eine unvorstellbare, die im Realen jedoch nur eine Minute veranschlagte, gefühlsmäßig zu Stunden mutierte.
Entsetzen, Trauer, Wut und Verzweiflung über sich, ihre Schwester und das Leben an sich, vermischten sich. Aus ihrer Erstarrung erwachte sie, als eine ältere Frau sie ansprach und meinte: „Sie, sie ... Ich habe es gesehen“, stammelte sie, und vergrub dabei weinend das Gesicht in ihren Händen.
Annette keines Wortes fähig, schaute - schaute auf die Stelle, an der ein Mensch gelegen hatte, deren Überreste nicht mehr sichtbar waren, nur ein kleiner Fleck deutete darauf hin - Blut war es, das erkannte sie. Man hatte diesen Menschen schon beseitigt, weggeräumt, aus dem Weg geschafft. So schnell. Aber vielleicht konnte ja noch geholfen werden, ging es ihr da durch den Sinn, worauf sie auch gleich nachhakte, zu der weinenden Frau sagte: „Wissen Sie, ob sie ... ob sie ... überlebt hat?“
Die Frau schluchzte noch mehr. Da wusste es Annette und sagte nichts mehr.
Starr vor Schreck, überquerte sie die Straße, das Hupen und Quietschen der Bremsen der vorbeifahrenden Autos nahm sie nur aus der Ferne wahr. Ihren Hausschlüssel zog sie mechanisch aus der Jackentasche. Das Aufschließen funktionierte ebenfalls wie in Trance. Die Schritte nach oben zu ihrer Wohnung wurden ihr zur Qual, schleppte sich mehr als sie lief.
Sie steckte den Wohnungsschlüssel ins Schloss, drückte nach links. Die Tür sprang auf. Gerade wollte sie den ersten Schritt in den Flur machen, als ...
... ein Schrei entfuhr ihr ...
Mit aufgerissenem Mund und Augen starrte sie auf die Gestalt, die vor ihr stand. Leise, wortlos, doch real. „Emi ... „, wollte sie stammeln, als sie erkannte, wer es war. Dann verlor sie das Bewusstsein, kippte um.