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Nächtlicher Augenblick
Die kalten Knospen des kahlen Baumes winden sich leicht in der Melodie des eisigen Windes. Vergessen und einsam. Das Autofenster des parkenden Autos auf der Straße spiegelt in der Dunkelheit die gerade erleuchteten blauen Schriftzüge des Kiosks im Erdgeschoss wider. Ein Radfahrer kämpft auf der anderen Straßenseite gegen die feuchte Böe an. Nur langsam kommt er voran, müht sich ab in der nächtlichen Ruhe. Ein Auto kriecht heran, überholt ihn. Es schweißt sie ein unsichtbares Band aneinander, all die Menschen, die sich morgens in aller Frühe dem Leben entgegenstellen. Begegnen sie sich auch nur flüchtig, teilen sie dennoch den intimen Moment des routinierten Tagesbeginns miteinander. Das macht sie zum Teil einer unsichtbaren Gruppe, auch wenn es niemand in Worte zu fassen weiß. Der Fremde fühlt sich dem anderen zugehörig, wenn er ihn in den stillen, grauen Morgenstunden stumm nickend begrüßt. So nah und doch so fern, nur ein Sekundenbruchteil der Begegnung und doch ein ausschlaggebender Moment.
Genau wie der Aufenthalt in einem schaukelnden Bus auf dem Rückweg nach einer durchgetanzten Nacht, in dem ich so oft saß, dass ich es schon gar nicht mehr aufzuzählen weiß. Saß alkohol- und schlaftrunken in dem bleichen Licht, beobachtete die verausgabten Gesichtern in den spiegelnden, vergilbten Fensterscheiben und fühlte mich den Menschen so nah wie auch fern. Man nahm einander kaum wahr und doch hätte man sich ohne den anderen noch einsamer gefühlt.
Ich lächle und ziehe an dem letzten Rest der Zigarette in meinen kühlen Fingern, fühle, wie der Qualm meine Lungen füllt. Fröstelnd, die Kälte hatte sich schon bis unter meine Haut gefressen. Nicht verwunderlich. Ich sitze auf dem Fensterrahmen, lehne mich an das geöffnete Glas und versuche, den kalten und grauen Moment der Ruhe einzufangen, der für einen Augenblick stillzustehen scheint. Ziehe die Decke über meinen Schultern enger an mich heran und beobachte, wie die Glut langsam erstirbt, sich der Dunkelheit hingibt, als hätte sie niemals Leben geschenkt. Und trotzdem fühle ich mich in Nächten wie diesen seltsam lebendig. In Pausen, die das Leben mir schenkt, in Versuchen, dem Alltag allein in meinen Gedanken zu entfliehen.
Das hallende Klopfen an der Holztür zu meinem Raum reißt mich wieder zurück in die Realität.
Ich höre meinen Namen, nicht mehr als ein Flüstern hinter der verschlossenen Tür. Einen schnellen Blick ins Zimmer, ist alles da, was ich brauche? Das Bett scheint frisch gemacht und kaum berührt, fast, als würde es auf die nächsten Gäste warten. Mit einem schnellen Handgriff schließe ich das Fenster. Ein routinierter Blick in den Spiegel, der Lippenstift überdeckt meine von der Kälte bläulich angelaufenen Lippen. Wie gerne wäre ich noch weiter im Augenblick verweilt. Es hilft trotzdem nichts. Ich rücke mein Dessous zurecht. Nur noch zwei Männer in dieser Nacht, dann kann ich in einen traumlosen Schlaf versinken. Ich hole tief Luft, bevor ich meine Lippen zu einem Lächeln spanne und mit einem Schwung die Tür öffne.